Mein erster Tag (schon wieder)
[LIV]
Heute ist mein erster Tag.
Der erste Tag in meinem neuen Leben und diesmal ist er es wirklich. Ich kann es spüren mit jeder Faser meines Körpers, denn ich fühle so intensiv wie noch nie. Obwohl ich starb, getötet wurde vor den Augen meines Vaters, lebe ich.
Der erste Schluck Blut kostete mich zwar ein wenig Überwindung, aber ich war erstaunt, wie stärkend und wohltuend die kühle Flüssigkeit aus dem Kühlschrank meines Vaters war. Immerhin musste ich dafür niemanden umbringen und wenn ich den Worten meines Vaters Glauben schenke, dann muss ich das auch nie.
Alles fühlt sich neu und anders an, selbst die Farben sind intensiver und die Luft ist klarer.
Als ich jetzt auf der kleinen Burgmauer am Wegesrand sitze und die Füße über der Tiefe baumeln lasse, spüre ich Zayn neben mir. Er schweigt, ist einfach nur da, lässt mir die Zeit, alles zu verarbeiten. Mein Vater sorgte dafür, dass Pete in einem Verlies eingesperrt wurde und rund um die Uhr bewacht wird. Er erhofft sich von ihm Informationen über Josys mögliche Aufenthaltsorte. Die anderen Vampire in der Burg sind damit beschäftigt, das Gemäuer wieder abzudunkeln, während mein Vater in der Schwarzen Grotte nach dem Rechten sieht und wieder seinen Platz am Tor der Unterwelt einnimmt. Ich jedoch brauche ein paar Momente des Durchatmens. Nachdem er mir erklärt hat, dass ich als Hüter einen besonderen Schutz vor dem Sonnenlicht habe, mache ich mir auch keine Sorgen, mich hier draußen aufzuhalten. Dass Zayn regelmäßig das Blut meines Vaters trinkt, um in der Sonne nicht zu verbrennen, habe ich erst jetzt erfahren. Ohnehin habe ich das Gefühl noch so wenig zu wissen. So viele Dinge sind mir ein Rätsel. Ich stehe gerade erst am Anfang. Aber das Gute ist: Ich habe eine Ewigkeit lang Zeit, um alles zu lernen.
Zayn ist bereits heute Vormittag aufgebrochen, um nach Melody und meiner Tante zu sehen. Beiden geht es gut, was mich sehr erleichtert. Sie sind sicher zu Hause und Zayn hat Tante June versichert, dass ich sie, sobald es geht, über alles aufklären werde. Wenn ich mich dazu fähig fühle. Denn begreifen kann ich es selbst nicht, und es ist fraglich, wie sie all das aufnehmen wird.
»Wird es immer so sein?«, frage ich Zayn, während ich in das neblige Tal zu meinen Füßen hinabstarre. Komischerweise ist jegliche Höhenangst seit meiner Verwandlung zum Vampir verschwunden.
»Was?« Gedankenverloren blickt er mich von der Seite an.
»Dass man um sein Leben rennen muss. Das Blutvergießen. Die Leichen. All das. Ist das jetzt mein Leben?« Meine Stimme zittert ein wenig und auch wenn ich eine überschwängliche Energie in mir fühlen kann, so spüre ich doch auch Angst und Zweifel.
»Wir werden Josy finden!« Zayn klingt vollständig überzeugt. »Dein Vater hat Truppen ausgesandt, hat seine Verbindungen in der ganzen Welt spielen lassen. Sie kann nicht weit kommen. Es ist lediglich eine Frage der Zeit, bis wir sie schnappen. Und bedenke eins: Du bist jetzt kein Mensch mehr! Du bist keine leichte Beute wie vorher. Nein, du bist ein Raubtier, mit ebendiesen Sinnen und Fähigkeiten. Lerne, deinen Instinkten zu vertrauen!«
Seine Worte haben den Klang von etwas Fremdem und zugleich Faszinierendem, etwas, das mich magisch anzieht und nicht mehr freigibt. Und somit beschließe ich loszulassen: Ich lasse mein altes Leben los, lasse es gehen und stürze mich mit aller Energie, aller Euphorie und auch ein bisschen Wahnsinn in mein neues Sein! Denn heute beginnt es tatsächlich: mein neues Leben. Und es beinhaltet mehr Glück, als ich mir je hätte erträumen können. Ich habe nach so vielen Jahren der Einsamkeit meinen Vater wiedergefunden, und ich habe nun eine Ewigkeit Zeit, das Verlorene mit ihm aufzuholen. Ich habe neue Freunde, eine neue Schule und jede Menge kampfbereiter Vampire, die fest entschlossen sind, mich zu beschützen. Und ich habe Zayn. Für ihn Worte zu finden, ist nahezu unmöglich, aber ich glaube, das muss ich auch nicht. Denn unsere Geschichte hat gerade erst begonnen.
»Komm mit!«, raunt er mir jetzt zu und schnappt mich so urplötzlich an der Hand, dass ich denke, ich müsste ins Straucheln kommen – doch ich tue es nicht. Denn ich bin jetzt ein Vampir, und ich habe so viel Kraft und Körperbeherrschung, wie ich das nie für möglich gehalten hätte.
In Windgeschwindigkeit – ehrlich, nur so lässt es sich beschreiben – eilt er mit mir an der Hand durch die Burg, in der die anderen Vampire noch mit den Aufräumarbeiten beschäftigt sind, bis hoch in einen Turm, der mir der höchste von allen zu sein scheint.
Oben angekommen steigt er auf den Fenstersims hinaus und reicht mir seine Hand.
»Bist du verrückt?«, gebe ich nur zur Antwort, doch er tut nichts weiter, als mir sein herrliches, schiefes Lächeln zu schenken. Es vermittelt so viel Lebensfreude und Erwartung, dass ich, ohne weiter zu zögern, seine Hand ergreife. Er zieht mich hinauf, klettert aufs Dach, um sich dann an dessen Spitze festzuhalten. Sein offener Arm genügt als Einladung.
Dann stehen wir da oben, an einem Ort, der für einen Menschen unmöglich zu erreichen ist.
Er zieht mich fest an sich. Ich spüre seine Wärme und Nähe und habe mich nie lebendiger gefühlt als in diesem Augenblick.
»Siehst du das?«, ruft er in die Weite hinaus und lässt seinen Blick durch die Luft schweifen. Es ist eine atemberaubende Sicht auf die unter uns liegende Burg, auf die Wälder und Nebelfetzen, die Täler und die weit entfernten Häuser. »Siehst du, Liv?«, wiederholt er, diesmal leiser und nur für mich. »Das alles gehört uns.«
»Was meinst du?«, frage ich, aber das aufgeregte Kribbeln in meiner Magengrube lässt sich nicht mehr stoppen.
»Die Welt«, ruft er lachend. »Die Welt gehört uns. Verstehst du das? Wir können alles tun. Willst du zu den Niagarafällen? Dann gehen wir dorthin! Willst du zu den Eisbären nach Alaska? Lass es uns tun! Die ganze Welt steht uns offen. Nichts ist für uns unmöglich!«
Dann dreht er seinen Kopf zu mir und ist auf einmal so nah, dass mir schwindelig wird. Doch nicht von der Höhe.
»Du bist meine Welt, Liv«, flüstert er nun. »Mit dir gehe ich überallhin.«
Und dann küsst er mich und seine Lippen schmecken nach Freiheit und Lebenslust, nach Abenteuer und Ausgelassenheit, und nach ganz viel Zayn. Ich greife in seine Haare und ziehe ihn noch näher, will nicht mehr aufhören, ihn zu berühren, zu küssen, zu fühlen.
»Das «, raunt er mir grinsend zu, »sollten selbst Vampire nicht auf dem Dach eines Turms tun.« Augenzwinkernd sieht er mich an, um mir dann verführerisch ins Ohr zu flüstern: »Aber ich kenne noch eine Million Orte, an denen ich es mit dir tun möchte.«