Leseprobe Mondfluch
Die Sage vom Licht des Mondes
Es war einmal zu einer Zeit, als der Mond noch sein eigenes Licht besaß. Es war ein wunderschönes rotglühendes Licht und viele Jahrmillionen herrschte Frieden auf dem Mond.
Doch eines Tages begannen die Wesen, die den Himmelskörper bevölkerten, sich zu bekriegen. Dabei erlosch das Licht des Mondes und stürzte zur Erde hinab.
Aus Wut über das Volk verbannte der Mond es auf die Erde mit dem Auftrag, das Licht zu suchen und zurückzubringen.
Der Mond schenkte ihnen Kräfte, die ihnen bei der Suche und beim Überleben helfen sollten. Er gab ihnen Schnelligkeit, Stärke und die Fähigkeit, im Dunkeln zu sehen.
Und es kam, dass die Wesen das Licht fanden. Doch anstatt es dem Mond zurückzugeben, behielten sie es für sich. Sie missbrauchten es und benutzten die Macht des Lichts.
Seitdem herrschen sie über die Erde.
Unerbittlich.
Prolog
Damals - 17 Jahre zuvor
Sie rannte.
Seit Stunden war sie bereits auf der Flucht. Schilf peitschte ihr ins Gesicht, bremste ihren Lauf und schwächte sie zunehmend. Die Orientierung hatte sie schon lange verloren und mit ihr die Hoffnung, diesen Tag zu überleben. Jede Stelle in diesem Meer aus hohem Röhricht unterschied sich in Nichts von den Hunderten zuvor und bot so wenige Anhaltspunkte wie ein strahlend blauer
Himmel an einem wolkenlosen Sommertag.
Den Himmel hatte sie bereits seit dem späten Nachmittag aus den Augen verloren. Und auch wenn ihr der Blick auf den Stand der Sonne verwehrt blieb, so spürte sie doch die aufkommende Panik, die jeder nahende Sonnenuntergang mit sich brachte. Ihr lief die Zeit davon und mit ihr eine Träne über die vor Anstrengung glühenden Wangen.
Die Verzweiflung ließ sich nicht mehr niederdrücken, ebenso wenig wie die Wut über ihre Unachtsamkeit. Sie hatte die Anzeichen ignoriert, als eine Flucht noch möglich gewesen wäre. Die ersten Staubkörnchen waren zaghaft gekommen, fast schon friedfertig, jedoch mit dem Ziel, sie zu umgarnen und unmerklich von der Außenwelt abzuschotten. Nun befand sie sich so tief im Inneren dieses Staubsturms, dass sie keinen Meter weit blicken konnte. Alles um sie herum wurde verschluckt von herumwirbelnden kleinsten Staubpartikeln, die ihr das Gefühl gaben, als würde sie lebendig begraben werden. Freiheit und Licht waren ihr inzwischen fast vollständig geraubt worden und sie spürte, wie ihr nun zunehmend das Lebensnotwendigste entrissen wurde. Ein weiterer Hustenanfall schüttelte ihren zierlichen Körper und machte ihr deutlich, dass sie bald auch des letzten Rests Atemluft bestohlen sein würde. Und dennoch rannte sie keuchend weiter. Irgendwo musste es doch einen Ausweg geben. Raus aus diesem endlos langen Schilffeld, zurück in ihren vertrauten Sumpf. Sie verdrängte den Gedanken, dass die Wenigsten aus einem Staubsturm wieder herausgefunden hatten. Denn der Staub hatte nur ein Ziel: zu umgarnen und in die Irre zu führen – bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Sonne unterging.
Plötzlich geschah etwas Merkwürdiges: Einzelne Lichtstrahlen drangen in ihr Tal aus Staub und Todesangst – wie aus einer fernen Welt, unnatürlich und fremd. Und doch war es die gleiche, ihr vertraute Sonne, die sie noch an diesem Morgen gesehen hatte, bevor die Begegnung mit dem Staubsturm ihr Leben in so dramatische Bahnen gelenkt hatte. Aber sie erkannte schnell, dass diese Strahlen, auch wenn sie Licht waren, nichts Gutes verhießen. Denn es waren die letzten des Tages. Eben jene, mit denen sich die Sonne für eine ganze Nacht verabschiedete und dem Mond die Herrschaft überließ. Genau das würde ihr Tod sein. Und er begann
hier und jetzt.
Mit schockgeweiteten Augen stolperte sie vorwärts, dann verlor sie den Halt. Sie rollte einen Hang hinunter und landete im Morast. Doch die Freude über das heimatliche Sumpfgebiet, das sie nun nach so vielen Stunden im Schilfgürtel wieder erreicht hatte, währte nicht lange. Mit Schrecken stellte sie fest, dass sich der Staub um sie herum verzog. Oder besser gesagt: zusammenzog zu dem, was er war.
Denn dies war die Abenddämmerung, der Herrschaftswechsel von Sonne und Mond. Der Moment des Tages, vor dem sich alle Sumpfbewohner Bedawis noch mehr fürchteten als vor einem Staubsturm. Denn diese Tageshälfte gehörte ihnen: den Halbwesen. Erst unter der Macht des Mondes nahmen sie ihre richtige Gestalt an. Tagsüber Staub, nachts allmächtige Wesen. Das war die Herrschaft der Halbwesen, unter der die Menschen seit Jahrtausenden litten.
Drohend thronte das makellose Rund des Mondes tief über dem Horizont, um seine Herrschaft für die nächsten zwölf Stunden anzutreten und denen Allmacht zu verleihen, die sie nicht verdient hatten. Wut und Panik erfüllten ihren ausgebrannten Körper, der sehnlichst nach einem Moment der Ruhe verlangte.
Während die Sonne ihren letzten sterbenden Strahl hinter sich herzog und den verbliebenen Rest an Helligkeit begrub, wanderten alle Milliarden Staubkörnchen, die sie soeben noch ausweglos umgeben hatten, aufeinander zu und begannen sich vor ihren Augen zu formieren. Als würde der Wind selbst sich einen Gefährten erschaffen, entstand vor ihr eine Gestalt, ein Wesen, wie man es nur selten zu Gesicht bekam. Denn alle, die es zu sehen bekamen, waren unweigerlich dem Tod geweiht. Kaum einer überlebte die Begegnung mit ihnen. Macht, Stärke und Schnelligkeit dieser Wesen waren grenzenlos und sie hungerten danach zu töten.
Der Staub strebte aufeinander zu, als würden sich die Körnchen gegenseitig anziehen, verdichtete sich und baute nur wenige Schritte vor ihr einen Mann zusammen, der in seiner Größe zwei Meter deutlich überschritt. Ein solches Wesen hatte sie noch nie mit eigenen Augen gesehen, kannte nur die Erzählungen, eine schrecklicher als die andere. Nachtschwarze Haare reichten ihm bis
zu den Ellbogen. Tiefdunkel, als wäre ihnen jegliche Helligkeit entzogen worden, wirkten seine Augen wie bodenlose Löcher. Sobald sein Gesicht begann Konturen anzunehmen, Sekunde für Sekunde mehr, wusste sie augenblicklich, dass es keine Chance gab, lebend zu entkommen. Denn dieses Monster kannte unendlich viele Möglichkeiten, einen Menschen zu töten. Dessen war sie sich sicher. In seinen Augen sah sie nichts anderes als den Tod. Die Hässlichkeit, die sein Gesicht so völlig entstellte, erschreckte sie zutiefst. Tiefe Narben bedeckten seine Haut so vollständig und gründlich, dass von seinem ursprünglichen Äußeren nichts übrig zu bleiben schien. Es wirkte, als hätte sich jede neue Narbe um die bereits vorhandenen herum gewunden. Eine widerwärtiger und ausgefranster als die andere.
Ihr Herzschlag setzte aus vor Entsetzen und sie schnappte mit vor Angst zugeschnürter Kehle nach Luft, nicht sicher, ob es ihr letzter Atemzug sein würde. Sie wusste, jetzt war der Moment zu fliehen. Der Vorgang der Verwandlung war der einzige Zeitpunkt, diesem Monster lebend zu entkommen. Doch sie stand wie versteinert, einzig erfüllt von reinster Panik, die sie zur Tatenlosigkeit zwang.
Nachdem sich das Wesen vollständig aus den Staubkörnchen des Sturms zusammengesetzt hatte – der Vorgang hatte nicht mehr als ein halbes Dutzend schauderhafter Sekunden gedauert –, formten sich seine vernarbten Lippen zu dem abscheulichsten Lächeln, das sie je gesehen hatte, und spätestens jetzt war sie sich sicher: Dies war das hässlichste Wesen, das es auf Erden geben könnte.
»Ein Menschlein, sieh an.« Der Schwarzhaarige ließ sie nicht aus den Augen, während er langsam auf sie zuschritt wie eine rollende Monsterwelle, der niemand auszuweichen vermochte. Steifgefroren im Bewusstsein des nahenden Todes, verweigerten ihr jegliche Glieder den Dienst und sie war der Musterung des dunklen Riesen hilflos ausgeliefert. Er umrundete sie, süffisant lächelnd, als würde er abwägen, welche Todesart für sie die Beste wäre. Schließlich meinte sie an der Erkenntnis in seinem Blick deuten zu können, dass er fündig geworden war.
»Du bist ein Halbwesen.« Es war eine überflüssige Feststellung
von ihr und doch musste sie es selbst hören, um es glauben zu können. Aber die Wahrheit war zu hart, zu grausam, um sie fassen zu können.
Das Wesen verfiel in heiseres Gelächter, bei dem es sein Gesicht gen Himmel streckte, so dass die letzten dunkelroten Schatten sein Antlitz wie blutüberströmt wirken ließen. »Ich sehe, mein Ruf ist mir vorausgeeilt. Ich kann deine Angst riechen.« Mit diesen Worten trat er an sie heran, was ihn noch größer, stärker, bedrohlicher wirken ließ.
»Tu mir nichts!«, jammerte sie und hasste sich für ihr erbärmliches Betteln, was sinnloser nicht sein könnte. Diese Monster hatten weder Mitgefühl noch Bedauern übrig für schwache Menschen wie sie.
Sein widerwärtiges Lachen schallte laut durch die nächtliche Sumpflandschaft. Kälte und Grauen gleichermaßen krochen ihr in die Knochen und ließen sie erstarren.
»Dein Herz schlägt viel zu schnell. Wie könnte ich da widerstehen?« Beinahe liebevoll griff er ihr mit seiner breiten Hand, die mehr der eines Bären als eines Menschen glich, an die Kehle und hob sie mit einer Leichtigkeit hoch, als sei sie ein Schmetterling, den er zwischen seinen Handflächen zerreiben würde.
Ein panisches Röcheln bahnte sich den Weg in ihrem Hals nach oben, doch es erreichte sein Ziel nicht, blieb irgendwo an der Stelle stecken, wo seine Pranke ihr die Luft abdrückte.
Sie sah in sein abscheuliches Gesicht, wenige Zentimeter vor ihrem, und wusste in diesem Moment, dass sie sterben würde. Und dass er das Letzte sein würde, was sie zu sehen bekäme, bevor sie diese Welt verließ. Also schloss sie die Augen und dachte mit aller Kraft an die wenigen schönen Dinge, die ihr kurzes Leben ihr beschert hatte.
Einen nicht vorhandenen Atemzug später schoss ein unerwartetes Stechen durch ihren rechten Fußknöchel und sie landete hart auf ihrer Seite. Benommen vor Schmerz versuchte sie, die Augen aufzureißen, um zu ergründen, was geschehen war. Ihre Hände rutschten durch den Matsch, während sie sich vom Boden hochzustemmen bemühte.
»Flieh!«, krächzte da eine viel zu vertraute Stimme. Und ehe sie
endlich wieder auf ihren wackligen Beinen stand, brach das Grauen über sie herein, unbarmherzig, endgültig und ohne Ankündigung.
»Vater!«, schrie sie vor Verzweiflung, doch er hatte sein letztes Wort bereits gesprochen. Denn als sich ihr Vater hinterrücks auf das Halbwesen geworfen hatte, in blankem Schrecken, um das Leben seiner Tochter zu retten, hatte er sein eigenes Todesurteil gesprochen. Fassungslos musste sie mitansehen, wie das Halbwesen ihrem Vater mit vor Zorn funkelnden Augen die Kehle zupresste, so dass nicht mehr der geringste Lufthauch hindurch passen konnte. Sie wusste sofort, dass es mit ihm vorbei war.
Also begann sie zu rennen. Sie rannte, auch wenn sie das Gefühl hatte, rein gar nichts mehr sehen zu können als allein die mordlüsternen Augen dieses Monsters, das gerade ihren Vater tötete. Aber dies war der letzte Gefallen, den sie ihm tun konnte: so schnell fliehen, dass sein Opfer nicht umsonst gewesen war.
Und während sie fast blind vor Trauer und nahender Dunkelheit durch die Moorlandschaft stolperte, hörte sie, wie das grässliche Halbwesen noch hinter ihr her schrie: »Lauf nur, kleines Menschlein. Lauf, so schnell du kannst! Ich werde dich dennoch töten. Eines Tages, wenn du es nicht erwartest, werde ich kommen und dich töten.«
Heute – Eine Woche vor Vollmond
Der Mond ist lediglich ein lebloser Himmelskörper, behauptest du. Vielleicht siehst du in ihm auch eine Muse, eine Art Inspiration. Etwas, das zum Träumen anregt. Doch ich sage dir: Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Ich sehe etwas völlig anderes. Wenn ich zum Mond hinaufblicke, dann sehe ich ... Gefahr.
(Thy, Bewohnerin einer Siedlung im Sumpfgebiet Bedawi)
Silbern wie die Klinge eines Dolchs zwingt uns der Mond sein gestohlenes Licht auf. Jede Nacht aufs Neue ertrinkt die Welt in seinem faden Schein. Und dennoch hat er nicht die Macht, die Dunkelheit zu durchbrechen.
Die Kälte dieser Nacht kriecht mir bis in die Knochen. Frustriert ziehe ich die Kapuze meines schwarzen Umhangs noch mehr in mein Gesicht, versuche vergebens, meine weißblonden Haare darunter zu verbergen. Es ist beinahe wie ein Hohn, dass die Natur mir solch helle Haare geschenkt hat, die beinahe so silbern glänzen wie der Mond, wenn Licht auf sie fällt.
Ruhig und konzentriert, wie es sich für einen Nachtwächter gehört, lasse ich meinen Blick langsam über die Umgebung streifen, darauf trainiert, die kleinste Bewegung oder Veränderung sofort zu erkennen. Ich presse mich eng an den brusthohen Baumstumpf, der den östlichen der vier Grenzposten unserer Siedlung markiert. Stetig schwarzer Rauch steigt aus der ehernen Räucherschale empor, die die ganze Breite des Baumstumpfes ausfüllt. Ein Blick auf Zehenspitzen in das Innere der Schale zeigt mir, dass die Kohle bis zum Morgengrauen reichen wird.
Die Anspannung in meinem Inneren hat ihren Zenit bereits überschritten, genau wie der Mond in seiner Umlaufbahn. Das Ende der Nacht ist am Himmel noch nicht ersichtlich, doch ich kann es förmlich riechen – das Fliehen der Dunkelheit.
Es gibt nichts, das man im Lande Ay mehr herbeisehnt als den Aufgang der Sonne. Den Moment, der dafür sorgt, dass unsere Feinde uns nichts mehr tun können und zu Staub zerfallen – im wahrsten Sinne des Wortes. Denn die Nacht gehört ihnen: den Halbwesen. Wir nennen sie Halbwesen, denn nur in der dunklen Hälfte des Tages ist ihre wahre Gestalt durch die Macht des Mondes sichtbar. Dann kommen sie aus ihrer Festung. Düster und unheilvoll und noch finsterer als die Nacht selbst. Machtvolle Wesen mit der Seele des Mondes im Inneren. Denn sie sind sein Volk. Genau wie er selbst sind sie tagsüber durch die Gegenwart der Sonne nur noch ein Schatten ihrer selbst. Das Licht lässt sie für das menschliche Auge zu Staub zerfallen, schwächt sie, verwehrt ihnen den Zugriff auf uns – und bildet eine unüberwindbare Hürde zwischen ihnen und uns. Aber nur, bis der nächste Sonnenuntergang naht.
Mit einem tiefen Atemzug lasse ich die kalte Luft in meine Lungen, die mir erneut das Bewusstsein dafür schenkt, dass ich am Leben bin. Noch.
Es gibt immer wieder Nächte, in denen die Stille unangekündigt
durch Schreie zerrissen wird. Todesschreie. Wie oft trägt der Wind, der die Sümpfe auf seinem nächtlichen Streifzug durchweht, die letzten sterbenden Reste dieser Schreie bis zu uns und mit ihnen die Frage, wann diese Wesen bei uns sein werden. Denn im Grunde genommen ist es nur eine Frage der Zeit.
Heute ist der Todesschrei ausgeblieben. Es ist ein mulmiges Gefühl, so weiß man doch nicht, ob es ein gutes oder schlechtes Zeichen bedeutet. Ein gutes, weil heute keiner gestorben ist, oder aber ein schlechtes, weil wir als Nächste dran sein könnten.
Bisher wurde unsere Siedlung nicht von ihnen gefunden. Doch keiner kann wissen, wie lange das so bleibt. Vorsichtshalber überprüfe ich ein weiteres Mal den Inhalt der Räucherschale, aber der schwarze Rauch steigt noch immer stetig daraus hervor, um sich über unsere kleine Siedlung zu legen – genauso wie es die drei anderen Räucherschalen rund um unseren kleinen Ort tun.
Kopfschüttelnd denke ich an Jasos Worte kurz vor Sonnenuntergang, als er auf seinem Rundgang alle vier Räucherschalen auf ihre Funktionsfähigkeit hin überprüfte. »Es ist von äußerster Wichtigkeit«, erläuterte er mir in nasalem, wichtigtuerischem Tonfall vor wenigen Stunden, »dass alles reibungslos funktioniert. Es ist ein Ritual, das uns das Leben rettet, jede Nacht aufs Neue. Denn das Kräutergemisch, das wir hier auf die Räucherkohle geben, erzeugt eine hochkonzentrierte Dunkelheit, die alles Leben, alle Geräusche förmlich verschluckt. Eine so trügerische Finsternis, die einen glauben lässt, es gäbe hier nichts außer leblosem Sumpf und Dunkelheit.« Seine Segelohren zuckten bei diesen Worten vor Begeisterung. »Es macht uns nicht unsichtbar«, setzte er seine euphorische Rede fort, »aber es ist nahe dran. Diese unnatürliche Dunkelheit ist den Erzählungen nach so dicht, dass es selbst Halbwesen schwer fällt, sie zu durchdringen.« Triumphierend schaute er mich daraufhin an, als wären dies neue Informationen für mich und keine altbekannten Tatsachen.
»Deine Begeisterung für den Dunkelzauber ist so groß«, gab ich ihm nur genervt zurück, »dass man meinen könnte, du wärst an seiner Entstehung maßgeblich beteiligt gewesen.«
Daraufhin funkelte er mich nur wütend an. »Willst du etwa behaupten, ich sei eine von ihnen
? Nur Dunkelseelen mit ihren seltsamen Fähigkeiten«, er betonte das Wort so abschätzig, wie er nur konnte, »sind zu solchen Zaubern imstande.« Augenrollend ignorierte ich seine Bemerkung, aber wenn Jaso einmal in Fahrt ist, schweigt er nicht so schnell wieder. Natürlich musste er noch eins oben draufsetzen. »Auch wenn ich dankbar für dieses lebensrettende Geheimnis der Dunkelseele bin, die vor Jahren in unserer Siedlung lebte, kann ich keine Dunkelseele sein. Denn ich wurde mitten am Tag bei helllichtem Sonnenschein geboren und nicht etwa bei einer Sonnenfinsternis, die eine solch finstere Seele entstehen lässt. Sag mal, Thynessa«, setzte er dann noch süffisant lächelnd hinzu, »bist du nicht in der Zeit geboren, als vor siebzehn Jahren die große Sonnenfinsternis stattfand?« Zu meinem Glück fiel ihm genau zu diesem Zeitpunkt auf, dass eben jene Sonne gerade untergegangen war, so dass er sich schleunigst in seine Hütte verzog und ich ihm die Antwort schuldig blieb. Das ist auch kein Thema, über das ich gerne reden möchte. Gestern Abend nicht, jetzt nicht und überhaupt nie. Erst recht nicht mit Jaso.
Wütend blicke ich nun zum unvollständigen Mond hinauf, der irgendwo in der Phase zwischen Neumond und Vollmond feststeckt. Ich frage mich, wieso er den brutalsten Kreaturen auf Erden diese Macht gibt und uns dazu zwingt, jede Nacht um unser Leben zu bangen. Wieso verleiht er ihnen unbändige Kräfte, die Schnelligkeit eines Schneeleoparden, die Größe einer jungen Schwarzfichte und die scharfen Augen einer Eule?
Seit Tausenden von Jahren sind sie die Herrscher über das Land Ay. Sie unterdrücken uns Menschen. Mit der simplen, aber überaus wirkungsvollen Methode des Tötens. Kaltblütig. Ohne Gewissen. Wahllos. Zur Demonstration ihrer Macht tun sie es des Nachts, fallen in unsere Gebiete ein, zerstören Siedlungen, nehmen Leben auf brutalste Weise. Wir können nie wissen, wann sie das nächste Mal kommen. Nie sind wir sicher vor der drohenden Gefahr. Mit dieser Furcht leben wir. Jede einzelne verdammte Nacht. Sie wollen die Welt für sich und manchmal glaube ich, dass sie kurz davor sind, dieses Ziel zu erreichen. Uns restlichen Menschen, die wir noch am Leben sind, bleibt nur, uns in möglichst kleinen Siedlungen zu verstecken. Die Erfahrung der Vergangenheit
hat gezeigt, dass die Gefahr, von ihnen gefunden zu werden, bei größeren Menschenansammlungen zu hoch ist. Je weniger, desto besser die Chancen zu überleben.
Das beste Versteck gewinnt, so ist es doch immer. Und in unserem Fall bedeutet gewinnen, einen weiteren Tag leben zu dürfen. Das Einzige, was wir der Natur zugutehalten können, ist, dass sie uns die wahrlich beste Landschaft dafür gegeben hat.
Nichts könnte mehr Unterschlupf bieten als das Sumpfgebiet Bedawi, in dem wir Menschen leben. Es hat scheinbar endlose Ausmaße und laut meinem Großvater hat noch keiner sein Ende gesehen. Sicherlich ist das weit übertrieben, denn mal ehrlich, alles hat ein Ende – oder? Aber eines macht es deutlich: Es gibt mit Sicherheit kein unübersichtlicheres, undurchschaubareres und unberechenbareres Gebiet als den Sumpf Bedawi. Den einzigen Pluspunkt, den die Natur uns Menschen zugestanden hat. Leider ist nur ein Bruchteil des Sumpfes sicher genug, um darin zu leben. Je weiter man in den Süden kommt, desto gefährlicher wird es. Nur ein schmaler nördlicher Streifen von Bedawi ist bewohnbar. Obwohl wir von einigen Siedlungen in unserem Gebiet wissen, so halten wir uns doch bewusst voneinander fern. Vertrauen in neue Menschen zu setzen und sich durch größere Dörfer der Gefahr auszusetzen, schneller gefunden zu werden, wagt hier draußen kaum jemand. Lediglich sporadischer Handel treibt uns dazu, mit anderen Siedlungen Kontakt zu haben. Ansonsten meiden wir einander, so gut es geht.
Der Süden hält lediglich endlose Gewässer, Scharen an gefährlichen Tieren und gigantische Sumpftäler bereit, die dich erbarmungslos in die Tiefe ziehen. Wenn der Sumpf einmal seine schmierigen Finger nach dir ausgestreckt hat, kannst du seinem Sog nichts mehr entgegensetzen. Wie oft haben wir versucht, in den Süden zu fliehen, weiter weg von den Halbwesen, weg von ihrer Herrschaft. Ihrem Töten. Doch wie viele von uns haben wir bereits verloren und wie viele Kundschafter sind nie zurückgekehrt.
Also verstecken wir uns, vertrauen jede Nacht aufs Neue der Schutz-Räucherung, die uns in leblose Dunkelheit hüllt, und üben uns im Kampf, in jeder freien Minute, die uns bleibt. Denn obwohl jeder von uns weiß, dass keiner in einem richtigen Kampf mit einem
Halbwesen bestehen könnte, ist doch in einer Begegnung mit einem solchen der gezielte Stich ins Herz oder in den Hals unsere einzige Überlebenschance. Wir trainieren, um zu töten. Dazu verdammen sie uns. Sie machen uns zu Mördern.
Das zaghafte Gezwitscher einzelner Rotschwänze durchbricht die Stille, beinahe flüsternd, als koste es sie jeden Morgen aufs Neue große Überwindung, das Ende der Nacht einzuläuten. Denn sie sind die Ersten, die eben jenes bemerken, auch wenn der Himmel noch nicht bereit ist, sich seine Schwärze entreißen zu lassen. Immerhin sind es noch fast eineinhalb Stunden, bis die Sonne tatsächlich die Herrschaft zurückerobern wird.
Mir entweicht ein unkontrolliertes Gähnen. Ein weiteres Zeichen dafür, wie viele Stunden ich bereits hier wache, die Schale am Rauchen halte und die Landschaft beobachte. Im nächsten Moment vernehme ich ein Rascheln. Nah, viel zu nah.
Sofort bin ich wieder hellwach. Mein Herz pocht wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Kälte und Müdigkeit sind von einem Atemzug zum nächsten vergessen und während mein Körper in Bewegungslosigkeit erstarrt, sind meine Augen konzentriert damit beschäftigt, die vom fahlen Mond spärlich erhellte Umgebung abzusuchen.
Von dem Geräusch ist nichts mehr zu hören. Alles in meiner Nähe liegt ruhig und verlassen da. Nichts deutet darauf hin, dass irgendwer außer mir sich hier befindet. Doch das Rascheln war da gewesen, ich habe es ganz deutlich gehört. Mein Herzschlag beruhigt sich nur wenig, obwohl ich auch nach etlichen Minuten kein weiteres verdächtiges Geräusch vernommen habe.
In dieser Nacht sehne ich den Morgen herbei, wie sonst bei keiner meiner bisherigen Wachen und – beim großen Ay – ich saß hier bereits unzählige Male. Denn es macht mir nichts aus. Nicht, dass ich keine Angst hätte – oh doch, die habe ich –, aber lieber bin ich an der Front, wenn ich sterbe, als ängstlich kauernd in einem Loch auf den Tod zu warten. Und wahrlich, eins sollen sie wissen, die Halbwesen, diese Monster des Todes: Ich werde mit Sicherheit nicht kampflos sterben.
So zumindest meine ehrbare Theorie, die ich seit klein auf in
meinem Kopf zurecht gesponnen habe. Doch in dieser Nacht verfluche ich mich dafür.
Die Zeit vergeht schleichend langsam, aber endlich ist es für alle Welt sichtbar: Der Tag naht!
Dichter Morgennebel durchdringt den Sumpf, wabert über den feuchten Boden hinweg, um alles zu vereinnahmen – eine lautlose Armee, ähnlich wie die Halbwesen es sind. Mittlerweile ist es so dämmrig, dass ich es wage, meinen Posten kurz zu verlassen und auf den nächstgelegenen Baum zu klettern. Die Zeit, wenn der Sonnenaufgang naht, ist die schönste des Tages. Die triumphierendste. Denn für die nächsten zwölf Stunden wird ihnen die Macht genommen, uns zu töten. Im Licht der Sonne sind sie für das menschliche Augen nicht mehr in ihrer normalen Gestalt sichtbar. Das Licht schwächt sie, lässt sie zu Staub zerfallen und schafft uns so eine natürliche Barriere, die weder sie noch wir imstande sind zu überschreiten. Die Sonne treibt sie zurück in ihr Gebiet, in ihre Festung.
Die Dämmerung ist bereits so weit fortgeschritten, dass ich in der Ferne die Spitzen der endlosen Schilfhalme im Vur erkennen kann. Der Vur ist ein sich kilometerweit erstreckendes Schilffeld, das die nördliche Begrenzung von Bedawi darstellt. Eine Grauzone, die Grenze zwischen Gut und Böse. Beinahe muss ich laut auflachen. Nichts könnte näher an der Wahrheit sein. Denn das, was sich nördlich des Vur befindet, ist nicht nur ein bisschen böse, nein, es ist das personifizierte Böse. Nördlich des Schilffeldes befindet sich die Zone Hamog. Eine zerrüttete, tote Zone, die ausschließlich aus scheinbar bodenlosen Kratern, tödlichen Schluchten und zerklüfteten Rillen besteht. Man erzählt sich, dass vor vielen Tausenden von Jahren auch dort ein blühendes Sumpfland vorherrschend war, bis eines Tages ein Steinhagel oder irgendwas dergleichen dort einschlug und alles Leben im Umkreis von vielen Kilometern zerstörte. Und mit der Zerstörung hinterließ der Steinhagel die Saat des Bösen. Damals entstand der Ay, behaupten die Überlieferungen. Inmitten von Hamog thront er nun: der Vulkanberg, der unserem Land seinen Namen gab. Der Ay. Er ist landesweit zu sehen und mein Großvater pflegt zu sagen, dass man, selbst wenn man das Ende des Sumpfes Bedawi finden würde, von
dort aus den Ay noch sehen könnte. Jedoch liegt das nicht allein an seiner imposanten Größe und gigantischen Breite, sondern vielmehr an der Tatsache, dass eine immer gegenwärtige Rauchwolke auf ihm thront und ihn so umhüllt, dass seine Spitze nicht zu sehen, ja, nicht einmal zu erahnen ist. Jeder von uns weiß es, doch die Wenigsten trauen sich, es beim Namen zu nennen. Das, was damals vom Himmel kam, waren nicht nur Steine. Es waren die Halbwesen. Denn mit dem Ay kamen auch diese Monster, die seitdem in ihrer riesigen Festung, dem Vulkan, ihr Zuhause haben. Dieses tote Land, die Zone Hamog, ist feindliches Gebiet, das ich noch nie betreten habe: die Heimat der Halbwesen.
Auch jetzt erkenne ich die allgegenwärtige Rauchwolke des Ay. Wut macht sich in meinem Inneren breit, brodelt in mir wie kochende Lava kurz vor ihrem Ausbruch. Ich bin wütend auf ihre Macht und dass sie sich das nehmen, was ihnen nicht zusteht: unser Leben. Sie töten aus reiner Willkür. Jeder kann der Nächste sein. Jedes um Hilfe Flehen stößt bei ihnen auf taube Ohren, sie haben kein Erbarmen. Ich habe noch nie davon gehört, dass sie jemanden lediglich in Gefangenschaft genommen oder gar verschont hätten. Sie sind gewissenlose Monster, die ihre Überlegenheit immer wieder aufs Neue zur Schau stellen.
Ich merke zu spät, dass ich mich von meinen Gedanken habe einnehmen lassen und die Bewegung unterhalb von mir nicht wahrgenommen habe. Erst als ich Schritte höre, wird mir bewusst, dass ich mich gerade in Lebensgefahr gebracht habe. Ich habe meine Konzentration vernachlässigt und stattdessen meinen Hass über sie gefüttert, über unsere Mörder, von denen vermutlich nun einer unter mir steht. Das frühe Morgenlicht ist noch zu zaghaft und das Strahlen der Sonne zu weit unter dem Horizont entfernt, als dass es mir helfen könnte. Der Moment, in dem sie zu Staub zerfallen, ist noch viel zu viele Minuten entfernt. Minuten, die mich vermutlich das Leben kosten werden. Wahrscheinlich habe ich mich in meiner Gedankenversunkenheit unbewusst bewegt oder einmal zu heftig geatmet. Es war dumm von mir, den Posten zu verlassen, um meinen Blick schweifen zu lassen, anstatt die nähere Umgebung unter Beobachtung zu halten. Doch nun ist es zu spät.
Angestrengt versuche ich, die Gegend abzusuchen, ohne mich
zu bewegen. Beinahe will ich schon erleichtert aufatmen, als ich ihn sehe. Tiefschwarze lange Haare fallen auf breite Schultern einer großen Gestalt. Ein Halbwesen! Es muss sich um ein männliches Halbwesen handeln, wie seine Konturen mich erahnen lassen. Aber die Schatten der Dämmerung verbergen sein Gesicht, so dass ich nicht erkennen kann, wo er hinsieht. Er wendet sich gen Norden, Richtung Vur, doch dann verharrt er auf der Stelle, als hätte er etwas gehört. Abrupt blickt er sich in meine Richtung um. Mein Herz erstarrt, ich halte die Luft an und bete zu wem auch immer, er möge mich vor dessen Augen verbergen. Es dauert viel zu lang und doch sind es sicher nicht mehr als eine Handvoll banger Sekunden, die er in meine Richtung blickt. Plötzlich streift ein kalter Luftzug mein Gesicht und in diesem Augenblick weiß ich es einfach: Er sieht mich!
Dann dreht er sich um und rennt in unmenschlicher Geschwindigkeit davon.
Auch wenn ich mich noch so sehr anstrenge, verliere ich ihn aus den Augen, sobald er in den Vur eingetaucht ist. Der Vur verschlingt alles und jeden.
Im nächsten Moment geht die Sonne auf. Die Nacht ist vorbei.