Sonntag, 2. November, 17.03 Uhr, Kriminalkommissariat Westerland

Hauptkommissar Bastian Kreuzer fährt seinen Rechner runter und atmet tief durch. Der Kaffee in seinem Becher ist längst kalt und die Kanne auf der veralteten Maschine inzwischen leer. Bastian blickt auf die Uhr und wundert sich, dass Silja immer noch nicht zurück ist. Hoffentlich ist sie auf eine Spur gestoßen, überlegt er gerade, als es zaghaft an seiner Bürotür klopft. Sekunden später steckt der Kollege Sven Winterberg den Kopf durch den Spalt.

»Ich habe eben noch mal kurz nach meinem Vater gesehen, war ja ein aufregender Tag heute … Ist es ein Dienstvergehen, wenn ich die heiligen Hallen der Kriminalpolizei betrete, obwohl ich hier oben bis auf weiteres nichts mehr zu suchen habe?«

»Komm rein und mach die Tür zu. Ein Sparringspartner fürs Gedankenyoga ist mir immer willkommen.«

Sven betritt den Raum und sieht sich seufzend um. »Ist irgendwie netter hier als unten in dem Getümmel. Obwohl die uniformierten Kollegen wirklich in Ordnung sind und es

»Wäre ja auch noch schöner. Setz dich. Dein alter Schreibtisch ist noch da. Nur der Kaffee ist alle.«

»Entsetzlich.« Sven zwinkert dem Kollegen zu. »Die Maschine unten ist sowieso besser.«

»Schön für dich. Wie geht es Mette? Muss ein ziemlich übler Schock für sie gewesen sein.«

»Die Lütte ist hart im Nehmen. Eigentlich.« Sven setzt sich an seinen Schreibtisch und streicht gedankenverloren über die leere Tischplatte. »Aber die Tote da im Nebel zu entdecken, war ein echter Hammer. Mette weigert sich, darüber zu reden, aber sie steht eindeutig unter Schock und ist völlig verstört.«

»Und dein Vater?«

»Der hat sich schnell wieder erholt. Meine Mutter ist manchmal übervorsichtig, du kennst sie ja. Als der Notarztwagen kam, war mein alter Herr längst wieder auf den Beinen.« Sven zögert kurz, dann schließt er die entscheidende Frage an: »Und ihr? Kommt ihr voran?«

»Kann ich nicht wirklich behaupten.« Bastian schiebt drei Computerausdrucke auf dem Schreibtisch übereinander. »Die letzte Stunde habe ich damit verbracht, nach ähnlichen Taten zu suchen. Nackte erschlagene Frauen, festgebundene Leichen. Kannst du dir ja vorstellen. Drei Fälle sind mir untergekommen, alle in den letzten sechs Monaten in Norddeutschland beziehungsweise in Dänemark verübt. Keiner hier auf der Insel natürlich, sonst wüssten wir davon.«

»Aufgeklärt oder nicht?«

»In einem Fall sitzt der mutmaßliche Täter seit knapp vier Wochen in U-Haft. Die Beweise sind ziemlich erdrückend,

»Ich denke, er war maskiert.«

»Sie hat seine Stimme erkannt und ein sehr ungewöhnliches Tattoo am Unterarm genau beschrieben.«

»Da hätte er sich die Maske auch gleich sparen können«, erklärt Sven kopfschüttelnd.

»Manche Typen sind eben dümmer, als die Polizei erlaubt«, kommentiert Bastian grinsend. »Die beiden anderen Fälle, die ich gefunden habe, sind unaufgeklärt. Zunächst hätten wir da eine Zweiundachtzigjährige, die nackt in ihrer eigenen Wohnung in Kiel lag. Sie wurde letzte Woche mit einem Nudelholz erschlagen, die Wohnung ausgeraubt.«

»Klingt für mich eher nach Beschaffungskriminalität.«

Bastian nickt bedächtig. »Im Prinzip hast du recht. Nur dass die Frau eben nackt war. Allerdings war sie nicht gefesselt.«

»Vielleicht hat der Täter gedacht, sie würde irgendetwas besonders Kostbares an ihrem Körper tragen.«

»Habe ich auch schon überlegt.«

»Und der dritte Fall?«

»Der ist pikanter. Eine Tote im Hamburger Rotlichtmilieu. Irgendein Schwein hat sie an ihr eigenes Bett gefesselt und ihr das Gesicht zerschlagen.«

»Daran ist sie gestorben?«

»Wie furchtbar.« Sven schließt die Augen und schüttelt voller Abscheu den Kopf. »War sie nackt?«

»Wie man’s nimmt. Sie trug Strapse, High Heels und ein Hundehalsband.«

Sven und Bastian wechseln einen Blick. »Geschmäcker sind verschieden, doch die Welt insgesamt ist schlecht«, murmelt Sven schließlich.

»Aber wir sind dafür da, sie besser zu machen, Kumpel. Also, was meinst du? Besteht ein Zusammenhang?«

»Glaube ich eigentlich nicht. Beide Opfer wurden in ihrem privaten Umfeld getötet. Sie wurden nicht ausgestellt«, antwortet Sven entschieden. »Wie lange ist denn der Hamburger Mord her?«

»Fünf Monate.«

»Vergiss es.«

»Sehe ich auch so.«

Schweigend blicken Bastian und Sven sich an. »Wenn ich nicht noch auf Silja warten müsste, würde ich dich jetzt auf ein Bier einladen«, erklärt Bastian schließlich.

»Lass stecken. Ich hatte gestern genug Alkohol. War ’ne coole Party übrigens. Danke noch mal dafür. Und … jetzt kann ich’s ja gestehen … die Kollegen von unten und ich hatten tatsächlich überlegt, dich in der Hochzeitsnacht hochzunehmen. Aber wir haben dann noch mal Gnade vor Recht ergehen lassen.«

»Leider hat unser Lassomörder das nicht ganz so gesehen.«

»Lassomörder? Echt jetzt?«

»Ist mir nur so rausgerutscht.«

»Im Gegenteil. Du hast voll ins Schwarze getroffen. Ich hatte vorhin nämlich eine kleine Unterredung mit ihm.«

»Mit Hübner? Warum das denn? Du hast ihm doch hoffentlich nicht meinen Schreibtisch angeboten.«

In wenigen Sätzen erzählt Bastian dem Kollegen von der Talkshow und dem öffentlich ausgetragenen Streit zwischen Hübner und Angela Ludwig. Er schließt mit dem Satz: »Ob du es also glaubst oder nicht, Hübner ist zurzeit unser einziger Verdächtiger. Er hatte immerhin ein Motiv.«

»So blöd, dass er sich wegen einer Tussi, über die er sich aufgeregt hat, das ganze Leben versaut, ist der nicht. Und diese Fesselorgie passt auch nicht zu ihm.«

»Sehe ich auch so. Trotzdem musste ich mit ihm sprechen. Und stell dir vor, er war lammfromm. Ja, Herr Kommissar. Nein, Herr Kommissar. So ging das in einem fort. Ich habe ihn kaum wiedererkannt.«

»Das macht ihn ja fast wieder verdächtig«, sagt Sven stirnrunzelnd. »Wo er sonst so auf Krawall gebürstet ist. Was hat er gestern Abend denn so getrieben?«

»Dreimal darfst du raten. Er war mit dem Rad unterwegs. Allein natürlich.« Bastian lacht bitter. »Er hat also nicht den Hauch eines Alibis.«