Im Westerländer Süden liegt ein breiter Grünstreifen zwischen den Dünen und der Inselmitte. In Reih und Glied gepflanzte Nadel- und Laubbäume schirmen das Straßennetz zur Nordsee hin ab und bieten den Anwohnern der schlichten Doppel- und Reihenhäuser eine gern genutzte Oase der Ruhe und Erholung.

Zu dieser frühen Stunde liegt das Wäldchen noch im Dunkeln. Nieselregen tropft durch Baumkronen, zarte Schleier hängen wie Spinnweben auf Farnen und Zweigen. Es riecht nach Pilzen und Moder, frisch, erdig und ein wenig nach Verwesung.

Eine fast vollkommene Stille lässt die Nähe der bebauten Straßen vergessen. Auch das Rauschen der Wellen hinter der Dünenkette ist hier nicht zu hören. Stattdessen kann das geübte Ohr andere Geräusche wahrnehmen. Ab und an raschelt es im Unterholz, huschend bewegen sich winzige Tiere im Schutz der Nacht. Käferkolonnen schieben sich unter der Blätter- und Nadelschicht hindurch, die den Boden bedeckt. Fliegenschwärme surren durch die Dunkelheit. Ihr Ziel ist ein dicker Baumstamm, der abseits des Weges steht.

An seine rissige Rinde ist ein menschlicher Körper gefesselt. Fest umschlungen von einem neongrünen Kunststoffseil schmiegt eine nackte Frau Rücken, Kopf, Arme und Beine an den Baumstamm, als wolle sie sich in einer rückwärtigen Umarmung mit ihm vereinen. Die kleinen blassen Brüste werden vom Seil in je zwei welke Hälften geteilt, während die knochigen Hüften weit hervorstehen und das graue

Die weit geöffneten Augen der Frau starren mit totem Blick ins Leere, ihre Bindehaut ist nicht mehr hell, sondern weist eine gelblich braune Färbung auf. Der Unterkiefer hängt tief herab, als sei der Mund zu einem Schrei geöffnet. Am Hinterkopf befindet sich eine klaffende Wunde, aus der Blut und Hirnmasse getreten sind.

Am Boden zwischen Gräsern und Moosen direkt vor den blau gefleckten Füßen der Toten liegen eine schwarze Jeans, ein dunkelgrüner Kapuzenpulli, eine graue Regenjacke und hautfarbene Baumwollunterwäsche sowie ein Paar Sneakers, in denen zusammengerollt hellgelbe Socken stecken. Die grelle Farbe der Socken wirkt ebenso wie das neongrüne Kunststoffseil auf eine irritierende Weise deplatziert zwischen den verwaschenen Farben des Herbstes, die sich in der restlichen Kleidung zu wiederholen scheinen. Ein Ausrufezeichen, dessen Sinn es zu ergründen gilt.

Doch noch ist es dunkel und einsam im Südwäldchen. Noch gibt es keine morgendlichen Jogger und schon gar keine Spaziergänger, niemand führt seinen Hund aus, so dass bisher noch kein menschliches Auge den sorgfältig platzierten Frauenkörper entdecken und niemand sich Gedanken über die merkwürdige Farbwahl machen konnte.