In der gemütlichen Küche von Meret und Hannes Winterberg riecht es nach frischem Hefegebäck, warmer Milch und aromatischem Tee. Das Ehepaar hat seine beiden Enkelkinder übers Wochenende zu Besuch, weil deren Eltern am Samstag zu einer Hochzeitsfeier eingeladen waren. Der hölzerne Küchentisch ist liebevoll mit blau-weißem Porzellan gedeckt, selbst gemachte Marmeladen stehen neben Wurst und Käse bereit. Die zwölfjährige Mette und der bald zweijährige Max sitzen plaudernd am Tisch und lassen sich die ofenwarmen Hefeteilchen schmecken, die ihre Oma Meret selbst zubereitet hat. Die grauhaarige schlanke Mitsechzigerin mit den fröhlichen blitzenden Augen freut sich über den Appetit der Kinder und ermuntert sie, noch einmal zuzugreifen. Hannes Winterberg, ein korpulenter Mann mit dichtem schlohweißem Haupthaar und einem grauen Schifferbart, beobachtet die Szene amüsiert.
»Nicht dass du die Lütten so vollstopfst, dass sie nachher Bauchgrimmen haben«, ermahnt er seine Frau halb scherzhaft.
»Lass stecken, Opa«, gibt Mette übermütig zurück. »Max und ich haben riesige Mägen, jedenfalls wenn es um Oma Merets Hefekringel geht.«
»Kingel! Mas mer kingel«, kräht auch der kleine Max fröhlich und greift nach dem nächsten Stück.
Vorsichtig windet Meret Winterberg ihrem Enkel das Hefestück aus der Hand. »Wir teilen es, okay? Du darfst jetzt noch ein Halbes essen und nachher, wenn du vom Spielplatz kommst, die andere Hälfte.«
Die Erwähnung des Spielplatzes lässt Max sofort das Interesse an dem Süßgebäck verlieren. »Bipa, Bipa«, fordert er mit energischer Stimme.
Hannes Winterberg wirft einen besorgten Blick durchs Küchenfenster nach draußen, wo schon den ganzen Morgen ein leichter Nieselregen niedergeht. »Nicht dass die Kinder sich in dem Schietwetter noch eine Erkältung holen«, murmelt er.
»Aber Opa! Es gibt kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung. Sagst du doch selbst immer.«
»Bipa! Lok!«, kräht Max und bringt seine Großmutter zum Schmunzeln.
»Die tolle rote Eisenbahn wartet bestimmt schon auf dich. Schließlich bist du der Lokführer.«
»Bipa, Mas, Lok«, bestätigt der Kleine eifrig nickend.
»Also gut, ich bin überstimmt.« Hannes Winterberg schiebt seinen Stuhl zurück und steht auf. »Kinners, nur noch die Zähne putzen, dann könnt ihr euch in die Gummistiefel und die Regenjacken werfen, und los geht’s.«
Zehn Minuten später steht die kleine Truppe abmarschbereit an der Tür des Reihenhauses. Mette trägt einen knallroten Regenmantel und ziemlich ramponierte grüne Gummistiefel, der kleine Max einen dunkelblauen wasserfesten Matschanzug mit passenden funkelnagelneuen Stiefeln. Beide Kinder haben die Kapuzen über die Ohren gezogen und warten ungeduldig darauf, dass ihr Großvater endlich seine Öljacke zugeknöpft und die Mütze aufgesetzt hat.
»Los geht’s«, ruft Hannes Winterberg schließlich und stößt die Tür auf.
Ein kalter Luftstoß dringt ins Haus und lässt Meret erschauern. »Bleibt nicht zu lange«, ruft sie ihrem Mann und den Enkeln hinterher. »Sonst muss ich euch alle drei gleich anschließend in die heiße Wanne stecken.«
»Keine Sorge, Omi, wir bewegen uns ja. Da friert man nicht so schnell.«
Während der kleine Max an der Hand seines Großvaters bleibt, läuft Mette übermütig voraus. Sie kennt den Weg zum Spielplatz genau. Zwei Straßenkreuzungen sind zu überqueren, und dann geht es ein Stück durchs Südwäldchen, in dessen Mitte der Spielplatz liegt. Die Zwölfjährige hat sich als kleines Kind oft genug hier vergnügt und kommt immer noch gern mit, um neben dem Bruder wie wild zu schaukeln oder allein durchs Unterholz zu streifen, während ihr Opa aufpasst, dass sich Max beim Klettern in der roten Holzeisenbahn nichts tut.
Als Mette das Wäldchen erreicht hat, blickt sie sich um. Ihr Opa und Max begutachten gerade eine verlassene Baustelle, neben der ein Bagger und ein Schuttcontainer am Straßenrand stehen.
»Ich geh schon mal vor«, ruft Mette ihnen zu und läuft los, ohne auf eine Antwort zu warten.
Zwischen den Bäumen ist es dunkler und kälter als auf der Straße. Nebelschwaden hängen in den kahlen Kronen, Tau glitzert auf den Ästen. Im Vorbeigehen schlägt Mette gegen einzelne Zweige und lässt die Tropfen sprühen. Abenteuerlustig verlässt sie den Weg, der zum Spielplatz führt. Ihre Gummistiefel versinken im nassen Laub. Fast stolpert sie über eine Wurzel und heftet deshalb ihren Blick lieber auf den Boden. Leise summt sie vor sich hin, während sie überlegt, was es wohl zum Mittagessen geben wird. Bratwürste, fällt es ihr ein, und dazu Kartoffelpüree. Und am Nachmittag kommen dann die Eltern zum Kaffeetrinken und um sie und Mäxchen abzuholen.
Als eine eifrige Käferkolonne Mettes Aufmerksamkeit erregt, vergisst sie die Eltern und konzentriert sich darauf, zu beobachten, wie die Kriechtiere mit Blättern und anderen Hindernissen umgehen. Immer wieder verschwinden mehrere von ihnen aus Mettes Blickfeld, weil sie offenbar in tiefere Schichten ausweichen. Manchmal schaffen es die winzigen Kerle sogar, ein besonders trockenes Blatt aus dem Weg zu schieben. Es dauert ein wenig, bis Mette klar wird, dass die Tiere nicht wahllos durch die Gegend krabbeln, sondern ein bestimmtes Ziel verfolgen. Alle bewegen sich in die gleiche Richtung, auch wenn sie manchmal Umwege in Kauf nehmen müssen. Mit gesenktem Kopf verfolgt Mette die Spur der Käfer vorbei an Baumstämmen und einzelnen Sträuchern.
Dann sieht sie etwas leuchtend Gelbes am Fuß eines Baumes.
Socken in einem Paar Turnschuhen.
Drum herum liegen Kleidungsstücke am Waldboden.
Und hinter der Kleidung stehen zwei blaue Füße.
Im ersten Moment glaubt Mette an einen Spaß. Da hat jemand blau gefärbte Gummifüße hingestellt, um ahnungslosen Waldbesuchern Angst zu machen.
Doch die Füße münden in sehnigen Beinen und darüber …
Mette erstarrt.
Sie schließt die Augen und will sie nie wieder öffnen. Jemand soll kommen und sie einfach von hier wegtragen. Sie will das nicht sehen, aber sie kann auch nicht weglaufen, denn dafür müsste sie die Augen wieder aufmachen.
»Opa!«, schreit Mette durch den menschenleeren Wald. »Opa, komm her, bitte! Ganz schnell.«
Sie lauscht in die Stille. Nichts.
Aber er muss sie doch hören!
»Opa, hier bin ich!«
Wieder keine Antwort.
»Opa … Opa … Opa!«
Und als er immer noch nicht reagiert, fügt sie mit sich überschlagender Stimme hinzu: »Hier ist eine Frau an einen Baum gebunden. Sie ist nackt, und sie hat geblutet, und sie ist tot.«