In Jasper Bleikens Haus riecht es nach Zigaretten und Alkohol. Silja zögert einen Moment, bevor sie den Fuß über die Schwelle setzt. Jasper Bleiken sieht schlecht aus. Hohlwangig und übernächtigt. Trotzdem begrüßt er die Kommissarin mit einem Lächeln und bittet sie umstandslos herein. Nachdem der Hausherr ihr einen Platz angeboten hat, räumt er schnell eine Rotweinflasche und einen vollen Aschenbecher beiseite. Auf dem Tisch liegen mehrere ungeöffnete Briefe und einige Werbebroschüren von Maklern, die er mit einem Handstreich zu Boden fegt.
»Sorry, aber ich konnte letzte Nacht nicht schlafen, da bin ich einfach versackt.«
»Sie müssen sich nicht entschuldigen. Es ist entsetzlich schwer, einen geliebten Menschen zu verlieren. Da reagiert jeder anders.«
»Wahrscheinlich. Möchten Sie was trinken? – Also ich meine Kaffee oder so«, fügt er mit einem schiefen Blick auf die Rotweinflasche hinzu.
»Ein Glas Wasser wäre schön. Und vielleicht können wir kurz mal lüften.«
»Ja klar. Wasser kommt sofort. Und machen Sie gern schon mal das Fenster auf.«
Während Jasper Bleiken in der Küche hantiert, öffnet Silja das Fenster und atmet tief durch. Der Wind fährt ihr ins Haar und lässt Regenperlen über ihr Gesicht rinnen.
»Gibt Sturm heute Nacht«, kommentiert Bleiken knapp, als er zurückkommt.
Silja nickt, wischt sich hastig übers Gesicht, schließt das Fenster wieder und setzt sich zu Bleiken an den Couchtisch.
Er schaut sie mit einer Mischung aus Neugier und Erwartung an. »Haben Sie schon erste Ergebnisse? Oder kann ich etwas für Sie tun?«
»Ich wüsste gern, ob es jemanden gibt, der mit Ihrer Frau Streit hatte. Irgendein alter Zwist oder auch eine aktuelle Sache. Verwandte, mit denen sie sich ums Erbe in die Wolle gekriegt hat. Nachbarn, die sich ständig über irgendetwas beschweren. Solche Dinge.«
Die Antwort Bleikens kommt schnell und ist eindeutig. »Nein, nichts von alldem. Brith war das einzige Kind ihrer Eltern, und zu den Nachbarn haben wir ausnahmslos ein gutes Verhältnis. Brith ist ja hier aufgewachsen und kennt die Leute in Archsum fast schon ihr Leben lang. Wenn überhaupt bin ich der Außenseiter.« Er legt den Kopf schief und versucht ein Lächeln, das schnell erstirbt. »Reingeheiratet und zugezogen, Sie wissen schon.«
»Kann ich mir vorstellen. Also keine Feinde weit und breit? Keine alten Streitereien oder offene Rechnungen?«
»Nichts, wovon ich wüsste. Nur in der Schule gab es ab und an mal Ärger. Also nicht mit den Kollegen oder der Schulleitung, sondern nur den üblichen Zoff zwischen Schülern und Lehrern. Und das auch eher selten.«
Silja nickt nachdenklich. »Ich habe heute Vormittag mit dem Schüler geredet, mit dem Ihre Frau aneinandergeraten ist, kurz bevor sie sterben musste. Sören Schmiedinger.«
»Ja richtig, jetzt erinnere ich mich wieder an den Namen. Und? War er’s?«
Jasper Bleiken sieht Silja nicht an, sondern hält seinen Blick gesenkt. Es wirkt auf die Kommissarin, als fühle er sich noch nicht bereit für eine Konfrontation mit der Wahrheit.
»Sie meinen, ob Sören Schmiedinger Ihre Frau umgebracht hat? Um dazu etwas zu sagen, ist es noch zu früh«, wiegelt sie ab. »Sind Sie ihm mal begegnet?«
»Nie.« Er schüttelt energisch den Kopf und blickt die Kommissarin jetzt auch wieder an. »Die Schule war Briths Welt. Meine ist eher der Sport. Wir haben das immer getrennt gehalten. Sie war zum Beispiel auch nicht mit bei der Talkshow. Da bin ich allein hingefahren.«
»Hatte sie etwas anderes vor?«
»Sie fand, dass ich ohnehin zu viel über Fußball rede.«
»Ihre Frau hatte also wenig Interesse an Ihrem Beruf. Hat Sie das nicht gestört?«
Er zuckt die Achseln und lächelt leicht. »Eigentlich nicht. Wir hatten andere Gemeinsamkeiten.«
»Welche denn?« Silja fängt einen erstaunten Blick auf und fühlt sich genötigt, ihre Frage zu erklären. »Also ich meine, was hat Sie und Ihre Frau am meisten verbunden?«
»Sex«, ist die sofortige Antwort. »Sorry, aber das ist ja wichtig in einer Beziehung.« Und für Außenstehende schlecht nachprüfbar, schießt es Silja durch den Kopf. Aber da redet Bleiken schon weiter. »Und Reisen. Lehrer haben ja viele Ferien, da sind wir gern in die Ferne gejettet. Malediven, Thailand, so was eben.«
»Sie hatten ein schönes Leben in einem schönen Haus.« Silja weist auf die Diele, von der außer der Küchentür noch drei weitere Türen abgehen. »Das Haus ist ungewöhnlich groß für ein Paar ohne Kinder.«
»Ja schon. Aber Verkaufen kam für Brith nicht in Frage. Es ist ihr Elternhaus.«
»Und Sie?«
»Was ist mit mir?« Plötzlich wird Bleiken unruhig und sein Blick unstet.
»Werden Sie hier wohnen bleiben?«
»Meine Güte! Was weiß ich. Finden Sie Ihre Frage nicht etwas pietätlos, so kurz nach Briths Tod?«
»Ja natürlich. Entschuldigen Sie bitte. Ich dachte nur … wegen der Prospekte.« Silja blickt auf den Papierstapel, der auf dem Fußboden gelandet ist.
»Das ist normal auf der Insel. Diese Makler sind wie Raubvögel. Sowie sie Aas wittern, stürzen sie sich auf einen. Was meinen Sie, was meine Frau durchzustehen hatte, als ihre Eltern gestorben sind. Die Makler haben uns fast die Bude eingerannt.«
»Verstehe. Da müssen Sie sich wohl auf einiges gefasst machen.«
Bleiken zuckt schweigend die Achseln, dann entsteht eine Pause im Gespräch, während der beide ihren Gedanken nachhängen. Schließlich ergreift die Kommissarin erneut das Wort.
»Ich habe noch eine kleine Bitte.«
»Ja?«
»Würden Sie uns gestatten, Ihre Fingerabdrücke zu nehmen?«
»Warum das denn? Ich war’s nicht. Und Sie haben mein Alibi doch sicher überprüft.«
»Schon. Aber wir checken alles gern doppelt«, antwortet Silja vage.
»Also gibt es Fingerabdrücke am Tatort. Ist das ein gutes Zeichen?«
»Wie man’s nimmt. Es gibt immer Fingerabdrücke, überall. Die Frage ist eher, ob sie von einer relevanten Person stammen.«
»Und ich bin relevant?«
»Sie sind der Ehemann des Opfers. Wenn wir also beispielsweise auf der Handtasche Ihrer Frau Ihre Abdrücke finden, muss das gar nichts sagen. Sie könnten die Tasche überall angefasst haben. Wenn wir aber Ihre Abdrücke nicht zum Abgleich haben, dann können wir die fraglichen Prints auch nicht als harmlos einstufen«, erklärt Silja.
»Verstehe. Wenn’s also der Wahrheitsfindung dient«, seufzt Bleiken, steht auf und streckt ihr beide Hände entgegen.
»Moment noch«, sagt die Kommissarin lächelnd und holt das elektronische Gerät aus ihrer Tasche. Innerhalb weniger Sekunden ist die Prozedur beendet, und Jasper Bleikens Fingerabdrücke befinden sich auf dem Weg ins Flensburger Labor. Silje verstaut das Gerät wieder und setzt zu ihrer nächsten Frage an.
»Können wir kurz noch mal über den Abend der Talkshow reden?«
»Ich sagte doch schon, dass Brith nicht dabei war. Sie hat mich allerdings hinterher mit dem Wagen abgeholt.«
»Immerhin.« Silja lächelt verbindlich. »Ich wollte auch gar nicht so sehr über Ihre Frau sprechen, sondern über die restlichen Anwesenden. Es war ja auch Live-Publikum dort, oder irre ich mich?«
»Vielleicht dreißig oder vierzig Leute. Ich habe allerdings nichts Genaueres erkennen können, weil ja die Scheinwerfer auf uns gerichtet waren.«
»Schon klar. Trotzdem wüsste ich gern, ob es während des Talks irgendwelche Besonderheiten gab. Aggressionen vielleicht? Abschätzige Kommentare? Buhrufe?«
»Nein, gar nicht.«
»Und hinterher?«
»Die Gäste sind rausgegangen, wir hatten keinen direkten Kontakt zu ihnen.« Bleiken zuckt ratlos die Schultern. »Der Einzige, der sich danebenbenommen hat, war dieser Journalist. Fred Hübner. Der hielt sich wohl für was Besonderes.«
»Er ist mit dem ersten Opfer aneinandergeraten. Davon wissen wir bereits.«
»Das meine ich nicht.«
»Ach so?«
»Er muss an dem Abend echt auf Krawall gebürstet gewesen sein. Keine Ahnung, was ihn so wütend gemacht hat. Jedenfalls hat er hinterher auch noch meine Frau angezickt.«
»Sagten Sie nicht vorhin, sie sei gar nicht dabei gewesen?«
»Aber sie hat mich auf dem Platz vor dem Westerländer Rathaus erwartet und offenbar unseren Wagen zu nah an seinem heiligen Fahrrad geparkt.« Bleiken verdreht die Augen. »Oder er hat sich einfach nur aufgeregt, weil man dort eigentlich nicht stehen darf.« Wie ein ertappter Sünder blickt er die Kommissarin an. »Ich hoffe, Sie erstatten jetzt nicht noch nachträglich eine Anzeige.«
»Ihr Frau ist tot, bitte seien Sie nicht geschmacklos«, antwortet Silja kühl.
»Sorry, ich bin einfach total durcheinander.«
»Das verstehe ich. Trotzdem wäre es hilfreich, zu wissen, was genau zwischen Ihrer Frau und Fred Hübner vorgefallen ist.«
»Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Als ich rauskam, zofften sich die beiden jedenfalls ordentlich.«
»Wie haben Sie reagiert?«, fragt Silja mit betont neutraler Stimme, während sie fühlt, wie ihr Herz plötzlich schneller geht und sich alle Härchen auf ihren Unterarmen aufstellen. Ist das der Durchbruch? Hat Bastian doch recht mit seiner Vermutung, dass Hübner hinter den Morden stecken könnte?
»Ich habe ihm gesagt, er soll einfach mal runterkommen und sich wieder einkriegen. Dann bin ich ins Auto gestiegen und meine Frau auch. Als wir losfuhren, hat er uns noch den Stinkefinger gezeigt. Das war alles.«
»Gibt es Zeugen für die Szene?«
»Puh, Sie können Fragen stellen.« Nachdenklich kratzt sich Bleiken am Kopf und schüttelt ihn gleich darauf. »Also ich glaube, wir waren allein dort. Die Zuschauer waren alle schon weg, der Moderator und die Techniker noch drinnen.«
»Und Frau Ludwig?«
»Die Fitnesslady? Coole Frau, übrigens, wenn Sie mich fragen. Auch wenn dieser Journalist das offenbar anders gesehen hat. Ich glaube, die war auch schon weg. Ich hatte nach dem offiziellen Teil noch ein kleines Gespräch mit dem Moderator, wir hatten sogar einen Drink miteinander. Aber soweit ich mich erinnere, war Angela Ludwig da schon nicht mehr bei uns. Wahrscheinlich hatte sie genug von den Beleidigungen Hübners. Kann ich auch gut verstehen.«
Schweigend blickt die Kommissarin Jasper Bleiken an. Jetzt ist sie fast sicher. Das könnte der Durchbruch sein.
»Danke, Herr Bleiken, Sie haben uns wirklich sehr geholfen.«
»Würde mich freuen«, seufzt er. »Immerhin ist das das Einzige, was ich noch für meine Frau tun kann.«