Schweißgebadet liegt Jasper Bleiken in seinem Bett. Er kann sich kaum noch an die Details des Traumes erinnern, der ihn aus dem Schlaf gerissen hat, aber dass er verfolgt wurde und um sein Leben gerannt ist, weiß er noch. Doch jetzt ist er wach und kein Verfolger in Sicht. Erleichtert blinzelt Jasper in den neuen Tag. Dichte Wolken türmen sich am Himmel, aber wenigstens ist es trocken. Jasper wischt sich mit dem Ärmel seines Schlafanzuges den Schweiß von der Stirn und beschließt, erst mal einen Kaffee im Bett zu trinken.
Beim Aufstehen fällt sein Blick auf das kleine Foto von Brith, das auf seiner Kommode steht. Sie hat es ihm zum fünften Hochzeitstag geschenkt, und er hat das überschwänglich lachende Gesicht seiner Frau, die damals noch etwas taufrisch Jugendliches hatte, immer sehr gemocht. Doch jetzt kann er den Anblick dieses Fotos plötzlich nicht mehr ertragen. Schwungvoll zieht Jasper die oberste Schublade auf und stopft das Bild unter seine Pullover.
Überhaupt würde er am liebsten alles, was mit Brith zu tun hat, weit von sich wegschieben. Doch natürlich geht das nicht. Er muss sich den Erfordernissen stellen, er muss Traueranzeigen verfassen, er muss einen Sarg auswählen, er muss Briths Beerdigung organisieren. Und dabei wird sie noch einmal für ihn sterben, das weiß er jetzt schon.
Als Jasper die Treppe hinuntergeht, wird ihm schwindlig. Auch gestern Abend hat er wieder viel zu viel getrunken, anders ließ sich die Situation einfach nicht ertragen. Jetzt zittern seine Knie, und er hat Mühe, den Blick zu fokussieren. Das muss aufhören, unbedingt, beschließt er innerlich. Heute Abend gibt es nur Wasser oder Tee. Wenn ich mich nicht zusammenreiße, bin ich geliefert.
In der Küche beruhigt ihn das stetige Tropfen der Kaffeemaschine. Er setzt sich auf einen Stuhl und atmet tief durch. Brith ist tot, sagt er sich. Aber ich lebe noch, und es ändert gar nichts, wenn ich mich unnötig quäle.
Als der Kaffee durchgelaufen ist, nimmt Jasper sich die Tasse und geht zur Eingangstür. Wenn es trocken ist, legt der Zeitungsbote den Sylter Anzeiger immer auf die Türschwelle, so dass Jasper nicht durch den Vorgarten laufen muss. Auch jetzt liegt die Gazette direkt vor seinen Füßen. Jasper bückt sich und will gerade zugreifen, als er das Titelbild sieht, das fast die ganze Vorderseite einnimmt. Klirrend fällt ihm die volle Tasse aus der Hand. Ein brauner Schwall ergießt sich über die Zeitung und seine nackten Füße.
DAS. KANN. NICHT. SEIN.
Jasper fühlt, wie der heiße Kaffee seine Zehen verbrennt, gleichzeitig kündigen seine Beine ihren Dienst auf. Zitternd hält er sich am Türrahmen fest, während er immer noch auf den Sylter Anzeiger hinunterstarrt.
Das riesige Foto zeigt Brith, die nackt und mit wehendem Haar senkrecht an der geöffneten Archsumer Bahnschranke hängt. Gefesselt mit einem giftgrünen Seil, das in hartem Kontrast zu dem verwaschenen Grün der Landschaft steht. Es wirkt, als habe die Redaktion das Seil nachkoloriert, schießt es Jasper durch den Kopf. Sofort schämt er sich für diesen Gedanken.
Und dann kann er nur noch auf das Gesicht seiner toten Frau starren. Ihr leerer Blick, der verzerrte Mund, der deformierte Kopf. Und über allem die wehenden Haare, die ihn an die glücklicheren Tage ihres Kennenlernens erinnern, in denen sie sich oft ganz bewusst in den Sturm stellte, den Kopf weit in den Nacken legte und ihre Haare dem Spiel des Windes überließ.
Jasper schafft es nicht, sich noch einmal zu bücken. Ihm ist, als würde er dann nie wieder aufrecht gehen können. Mit einem seiner kaffeebespritzten Füße schiebt er die Zeitung über die Schwelle bis in den Windfang.
Dann schließt er die Tür, um sich und seine tote Frau von der gesamten restlichen Welt zu trennen.