Sonntag, 2. November, 09.11 Uhr, Südwäldchen, Westerland

»Opa … Opa … Opa!«

Hannes Winterberg hört Mettes Rufen und weiß sofort, dass ihr etwas geschehen ist. Wahrscheinlich ist Mette gestürzt und hat sich weh getan. Das Kind ist mutig und draufgängerisch, da passiert das schon mal. Hoffentlich ist es nichts Schlimmes!

Hannes Winterberg greift sich den kleinen Max, der sich nur widerstrebend von der genauen Untersuchung des Baggers abhalten lässt.

»Mette hat gerufen. Wir müssen hinlaufen und gucken, was da los ist.«

»Mas Bagga«, beharrt der Kleine.

»Nein, Max geht jetzt mit Opa zu Mette. Komm, ich nehm dich auf den Arm, das magst du doch so gern.«

Zufrieden schmiegt sich der Kleine an seinen Großvater

»Hier ist ein Pfau an einen Baum gebunden.«

Gott sei Dank, denkt er, ihr ist nichts passiert. Weiß der Himmel, was Mette da wieder entdeckt hat.

Hannes kann die nächsten Worte seiner Enkelin nicht richtig verstehen, aber er blickt in die Richtung, aus der ihre Stimme kommt, und tatsächlich schimmert ihre rote Jacke durch die Bäume. Mette steht ganz still und bewegt sich nicht. Merkwürdig, das passt gar nicht zu ihr, denkt Hannes noch. Wenn sie aufgeregt ist, hüpft sie doch meistens von einem Bein aufs andere.

»Mette, was ist denn? Ich bin gleich bei dir.«

Zügig und konzentriert stapft er durch das Unterholz. Jetzt bloß nicht stolpern, Mäxchen sicher auf dem Arm halten, alle störrischen Zweige beiseiteschieben. Mette sagt gar nichts mehr, sehr merkwürdig.

Endlich hebt Hannes den Blick. Und erstarrt.

Nein, das kann nicht sein! Das ist ganz und gar unmöglich!

Hannes Winterbergs Gedanken überschlagen sich. Hat Mette wirklich diesen Anblick in all seiner Grausamkeit aufgenommen? Den klaffenden Mund, die toten Augen. Den entblößten, gefesselten Körper. Den zertrümmerten Hinterkopf.

Jetzt sieht er, dass sie ihre Augen fest zugekniffen hat. Hannes Winterberg setzt Mäxchen ab, fasst ihn an die eine und seine Enkelin an die andere Hand und murmelt: »Alles wird gut, min Deern. Wir gehen jetzt ganz langsam nach Hause. Und dann rufen wir die Polizei. Du musst die Augen nicht aufmachen, ich führe dich.«

Mette nickt kaum wahrnehmbar und setzt sich mit tastenden Schritten in Bewegung. Sie kommen lähmend langsam voran. Max stolpert neben ihm her und will nun doch wieder getragen werden. Während Mette leise zu schluchzen beginnt, bemüht sich Hannes, die eigene Verstörung zu verdrängen und das Entsetzen nicht zuzulassen.

Welches Schwein macht so etwas?

Kein Wunder, dass die Lütte wie betäubt wirkte. Sie zittert am ganzen Leib, Hannes spürt es an ihrer kleinen Hand.

»Es wird alles ganz bald wieder gut«, wiederholt er, wohl wissend, dass gar nichts gut werden wird, und bald sowieso nicht. Hannes verflucht sich selbst dafür, dass er wieder mal das Handy nicht mitgenommen hat. Jüngeren Leuten würde das nicht passieren. Aber er ist eben noch aus einer anderen Generation. Analog und nicht digital, schießt es ihm durch den Kopf. Auf was für abwegige Gedanken ich verfalle, während meine Enkelin vielleicht den größten Schock ihres Lebens verarbeiten muss, tadelt er sich gleich darauf selbst. Dann realisiert er, dass auch er unter Schock steht und vermutlich froh sein kann, wenn es ihm gelingt, die beiden Lütten heil nach Hause zu bringen.

Mette schüttelt energisch den Kopf. »Die Frau«, stammelt sie, »war die tot?«

»Ja, Mette, das war sie. Sie hat nichts mehr gespürt.«

»Aber vorher. Das tut doch weh, wenn man so festgebunden wird.«

Mette schluchzt noch einmal, öffnet aber wenigstens die Augen, um ihren Großvater fragend anzusehen.

»Sie war schon tot, als sie in den Wald getragen wurde«, antwortet Hannes tröstend, doch seine Stimme ist brüchig. Woher will ich das wissen?, fragt er sich. Mein Sohn ist zwar bei der Kriminalpolizei, aber ich habe mich doch nie mit solchen Dingen beschäftigt. Ich sehe noch nicht mal die Krimis im Fernsehen.

Allerdings scheint die Antwort ihres Großvaters Mette gutzutun. Sie hört auf zu weinen und fragt nach einer Weile nachdenklich: »Warum musste die Frau an den Baum gebunden werden, wenn sie doch tot war? Die gehört doch in einen Sarg, oder?«

»Dafür wird jetzt auch gesorgt.«

Mäxchen langweilt sich, und will nicht mehr laufen. Und deshalb muss ich auch so schnell wie möglich zu einem Telefon. Ich muss jetzt durchhalten, ich darf nicht schlappmachen. Noch eine Ecke und dann die Straße rauf. Als Mäxchen sich gerade tonnenschwer macht und sich weigert, auch nur einen einzigen weiteren Schritt zu tun, taucht zum Glück schon das Haus von Hannes und Meret Winterberg am Ende der Straße auf. Hannes lässt Mettes Hand los und nimmt den Kleinen

»Opa, ich habe dich was gefragt«, insistiert Mette.

Hannes hat keine Ahnung, was das gewesen sein soll, aber zum Glück öffnet Meret jetzt die Tür.

»Ihr seid aber schnell wieder zurück«, beginnt sie, um Sekunden später zu begreifen. »Was ist passiert? Du bist ganz blass. Meine Güte, hattest du wieder Herzprobleme?«

Hannes schiebt Mette durch die Tür und lässt Max auf den Boden gleiten.

»Ruf Sven an, sofort«, keucht er, dann sackt er selbst zu Boden und bleibt neben seinem verdutzten Enkel sitzen.

»Sven? Was soll denn Sven ausrichten? Ich rufe den Notarzt. Mit dir stimmt was nicht, das sehe ich doch.«

»Oma, im Wäldchen ist eine tote Frau, und ich habe sie entdeckt, und sie war ganz blau an den Füßen, und der Mund war …«

»Mette, was redest du?«

»Die Lütte hat recht«, fällt Hannes seiner Frau ins Wort. »Ruf jetzt endlich Sven an, danach erkläre ich dir alles.«