Sonntag, 2. November, 10.15 Uhr, Südwäldchen, Westerland

Der Mann in brauner Cordhose und hautfarbenem Anorak trägt eine abgewetzte geräumige Tasche in der Hand und kommt langsam den Waldweg entlang. Trotz seines verdrießlichen Gesichtsausdrucks geht ihm Silja Blanck mit ausgestreckter Hand entgegen.

»Schön, dass Sie so schnell hier sein konnten, Dr. Bernstein.«

Immerhin scheint sogar Bernstein von der gestrigen Festlichkeit zu wissen. »Erst mal alles Gute für Sie und Ihren Kollegen«, erklärt er und lässt sich, als er ihre Hand ergreift, sogar zu einem kleinen Lächeln hinreißen. »Hoffentlich machen Ihnen jetzt nicht die Flensburger Kollegen Scherereien. Ehen innerhalb der Kripo und dann gemeinsam ermitteln, das mögen die ja nicht so gern.«

»Es war nur eine freie Trauung. Und es wäre schön, wenn Sie das der Staatsanwältin gegenüber nicht erwähnen würden.«

»Kein Problem.« Der Rechtsmediziner blickt sich suchend um. »Wo haben wir denn das Schätzchen?«

Silja, die die zuweilen sehr flapsigen Kommentare des Rechtsmediziners schon gewöhnt ist, weist kommentarlos zu dem Grüppchen uniformierter Kollegen, die vor dem Baumstamm mit der Toten stehen und die Sicht versperren.

»Da wird sich die Spurensicherung aber freuen, wenn Sie hier alles platt trampeln«, mosert Bernstein.

»Wir sind nicht besonders nah herangegangen. Außerdem hat der Mord eindeutig nicht hier, sondern irgendwo anders stattgefunden.«

»Sorry, nein, so war das nicht gemeint. Aber sehen Sie doch selbst.«

Als die beiden sich nähern, bilden die Kollegen eine Gasse, an deren Ende die Tote und der Baumstamm aus dem Nebel grüßen. Silja und Bernstein bleiben mit leichtem Abstand vor dem festgebundenen Opfer stehen. Ein grellgrünes Seil fixiert Hals, Torso, Oberarme und Beine. Augen mit beinahe schwarzen Bindehäuten starren ihnen über einem Mund mit weit herabhängender Kinnlade entgegen. Scharen von Fliegen umschwirren den weichen Inhalt der Wunde am Hinterkopf. Andere Insekten interessieren sich mehr für die Augenhöhlen der Toten oder kriechen bis tief in ihren Rachenraum. In den Mundwinkeln der Frau sitzen winzig klein die ersten Maden. Bernstein stellt seine Tasche ab, zieht die Latexhandschuhe über und scheucht die Fliegen mit einer ungeduldigen Handbewegung weg. Dann nähert er sich der Leiche vorsichtig. »Die Hornhauttrübung ist schon ziemlich fortgeschritten«, murmelt er. Anschließend bückt er sich schnaufend und presst seinen Daumen fest auf einen der blau angelaufenen Knöchel. »Die Leichenflecken lassen sich nicht mehr wegdrücken. Der Eintritt des Todes dürfte also mindestens drei Stunden her sein.« Ächzend richtet der Rechtsmediziner sich auf, hebt anschließend vorsichtig einen Unterarm des Opfers an und bewegt ihn mühelos. »Noch keine Leichenstarre. Länger als vierundzwanzig Stunden ist sie keinesfalls tot.«

»Wahrscheinlich sogar erheblich kürzer«, traut sich Silja hinzuzufügen.

»Da hinten ist ein Spielplatz. Der ist auch im Winter viel besucht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es niemand bemerkt haben sollte, falls die Tote gestern Nachmittag schon hier festgebunden war.«

»Es gibt einiges zwischen Himmel und Erde, was wir uns nicht vorstellen können«, murmelt Bernstein und beginnt, ohne auf eine Antwort zu warten, die Kopfwunde zu inspizieren. »Aber mit einem liegen Sie richtig«, gibt er nach einer Weile nachdenklich zu. »Wäre die Frau hier erschlagen worden, müsste überall viel mehr Blut sein.«

»Können Sie etwas über die Tatwaffe sagen?«, erkundigt sich Silja. Ihre Stimme klingt hohl und zittert leicht, ein Umstand, für den sie sich augenblicklich schämt. Aber die Umstellung von der ausgelassenen Hochzeitsfeier gestern Abend auf die Ermittlungen zu dieser Gräueltat fällt ihr immer noch schwer.

»Die Tatwaffe war schwer und stumpf, das sieht man an den Wundrändern. Nichts Scharfes, Glattes jedenfalls.« Nachdenklich betrachtet der Rechtsmediziner die Kopfwunde. »Außerdem sind hier so kleine helle Bröckchen, die bestimmt nicht aus dem Hirn der Toten stammen.« Er löst ein unregelmäßig geformtes Plättchen aus dem Wundrand und dreht es zwischen den Fingern. »Das ist hart, aber irgendwie auch porös. Damit muss sich die Spurensicherung genauer beschäftigen. Wo bleiben die Kollegen eigentlich?«

»Sind unterwegs. Aber Sie wissen ja, die müssen erst mal mit dem Autozug rüberkommen.«

Bernstein murmelt etwas Unverständliches und

»Da ist mein Kollege schon dran.«

Silja blickt sich suchend um, und tatsächlich nähert sich Bastian gerade mit eiligen Schritten. Bernstein gratuliert auch ihm zur Eheschließung. Doch Bastian kommentiert die Gratulation lediglich mit einer ungeduldigen Handbewegung.

»Wir haben den vermutlichen Tatort gefunden«, erklärt er aufgeregt. »Keine fünfzig Meter von hier entfernt gibt es jede Menge Blut auf dem Waldboden.«

»Haben sie auch etwas Helles, Schweres, möglicherweise Poröses entdeckt?«

Bastian nickt und fragt verwundert: »Woher wissen Sie das?« Als Bernstein stumm auf die hellen Brösel in der Kopfwunde weist, fügt der Kommissar hinzu: »Ja, das könnte passen. Ein weißer Ytong-Stein, der aus einem Abrisshaus stammen muss, lag mitten in der Blutlache.«

»Am Rand vom Südwäldchen ist eine Baustelle«, fällt Silja ein. »Wir sind vorhin daran vorbeigefahren. Ich glaube, ich habe auch einen Schuttcontainer gesehen.«

»Sollte der Stein tatsächlich von dort stammen, klingt das nicht gerade nach einer sorgfältig geplanten Tat«, überlegt Bastian.

»Wer im Affekt jemanden umbringt, hat in aller Regel weder die Zeit noch die Nerven und schon gar nicht das

»Da haben Sie auch wieder recht«, muss Bastian zugeben. »Aber wir sind ja erst ganz am Anfang. Übrigens liegt am Tatort ein Fahrrad im Gebüsch.«

»Und Sie glauben, es hat ihr gehört?« Der Rechtsmediziner weist mit einer vagen Geste zu der Toten am Baum.

»Wir sind fast sicher. Es ist ein Damenrad, und der Vorderreifen ist total verzogen, als habe jemand von der Seite dagegengetreten und damit die Frau zum Umfallen gebracht.«

Bernstein bedenkt Bastian mit einem seiner berühmten abschätzigen Blicke und kommentiert lakonisch: »Wenn Sie alles schon selbst wissen, brauchen Sie mich ja gar nicht mehr. Ihre Kollegin hier war auch schon recht vorlaut.«

Spielerisch schnippt er gegen die rechte Hand des Opfers, wo die Farbe der Finger bereits ins Bräunliche tendiert, und erklärt übergangslos: »Die Hände des Opfers sind im Moment am interessantesten für mich.«

»Warum das?«, erkundigt sich Silja beflissen. Sie weiß genau, wie sehr Bernstein es schätzt, wenn man ihn ein wenig hofiert und vor allem seinen Urteilen nicht vorgreift.

Der Blick, den der Rechtsmediziner ihr zuwirft, ist jetzt auch deutlich freundlicher. Er hebt beide Hände der Toten an und mustert sie gründlich. »Ich kann hier nichts erkennen, was auf einen Sturz hindeuten würde«, doziert er. »Keine Abschürfungen, keinerlei Hautverletzungen. Wer vom Rad fällt, fängt sich aber in der Regel mit den Händen auf. Übrigens scheint es auch keine Abwehrverletzungen zu geben. Alle Fingernägel sind sauber, die Haut ist makellos glatt.« Er tritt einen Schritt zurück und lässt den Blick langsam von den Füßen bis zum Kopf der Toten wandern.

»Dann wäre unsere Tote freiwillig von Rad gestiegen und die Acht im Vorderrad erst entstanden, als der Mörder es ins Gebüsch geworfen hat?«, fragt Bastian leise.

»Ich habe das Rad ja noch nicht gesehen. Und die Spurentechnik war auch noch nicht hier. Aber bisher spricht nichts dagegen, oder irre ich mich?«

»Vielleicht hat sie Handschuhe getragen. Bei der Kälte wäre das normal«, wendet Bastian ein.

»Guter Punkt«, gibt Bernstein widerwillig zu. Dann bückt er sich und hebt vorsichtig die Kleidungsstücke am Boden an. »Keine Handschuhe«, stellt er mit zufriedenem Gesichtsausdruck fest.

»Wenn sich Opfer und Täter gekannt haben, könnte das auch das Seil erklären«, fällt Silja ein. »Es reichte dem Täter nicht, zu morden. Er musste auch noch bestrafen.«

»Oder zur Schau stellen«, ergänzt Bastian. »Dafür muss er sie aber nicht unbedingt gekannt haben.«

»Allerdings sollten wir noch überprüfen, ob etwas gestohlen worden ist. Aber wer spät am Abend mit dem Fahrrad unterwegs ist, führt wahrscheinlich keine Wertsachen mit sich«, überlegt Silja.

»Für mich sieht die Kleidung eher nach Training aus. Also entweder eine Radsportbegeisterte oder …«

»… sie kam aus einem Fitnesscenter«, fällt ihm Silja ins Wort. Ihr amüsierter Blick gleitet über Bastians füllige Körpermitte, die sich unter der Daunenjacke abzeichnet.

»Krieg dich wieder ein, der Blick war liebevoll.«

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, Ihre internen Scharmützel woanders auszutragen und mich meine Arbeit machen zu lassen?«, mosert Bernstein, der immer noch mit der Kleidung des Opfers beschäftigt ist. Plötzlich richtet er sich mit einem triumphierenden Blick auf. »Was haben wir denn hier?« Vorsichtig nimmt er ein Schlüsselband hoch, an dem die Zugangskarte für einen Fitnessclub befestigt ist. »Body Cult«, liest er mit missbilligender Stimme. »Immer diese Anglizismen. Kennen Sie den Laden?«

»Das ist der größte Club hier auf der Insel. Liegt in der Nähe des Flughafens im Industriegebiet. Ich bin selbst dort angemeldet, komme allerdings viel zu selten zum Trainieren. Bringt der Job so mit sich«, klärt Bastian ihn auf.

Silja verdreht die Augen und verkneift sich jeden Kommentar.

»Angela Ludwig« liest Bernstein jetzt den Namen der Toten von der Karte ab. »Merkwürdig. Irgendwas klingelt da bei mir.« Nachdenklich runzelt er die Stirn, während er die Tote noch einmal eingehend mustert. Silja und Bastian wechseln irritierte Blicke. Es ist höchst ungewöhnlich, dass sich der Rechtsmediziner für etwas außerhalb seiner beruflichen Sphäre interessiert. Doch schon schüttelt Bernstein resigniert den Kopf. »Ich komme einfach nicht drauf. Ist ja auch nicht meine Aufgabe. Wenn Sie mich dann mal machen lassen.« Er bückt sich und fummelt ein Thermometer aus seiner Tasche. »Ist der Fotograf schon fertig? Dann könnten wir

Bastian und Silja nicken sich zu und entfernen sich dezent. Sie wissen genau, wie wenig es Bernstein schätzt, wenn man ihn allzu lange von der Arbeit abhält. Während beide hinüber zum mutmaßlichen Tatort gehen, macht Bastian eine Personenabfrage bei den Kollegen auf der Wache.

»Angela Ludwig«, verkündet er wenig später, »55 Jahre alt, wohnhaft in der Hafenstraße in Rantum.«

Irritiert blickt Silja ihn an. »Das ist auf der Wattseite. Und das Fitnessstudio liegt im Osten Westerlands. Warum um alles in der Welt fährt sie bei Nacht und Nebel nicht den direkten Weg nach Hause, sondern macht den Schlenker nach Westen über das Südwäldchen?«

»Gute Frage. Vielleicht war sie verabredet?«

»Vermutlich mit ihrem Mörder«, murmelt Silja und kann nicht verhindern, dass ihr ein Schauer über den Rücken läuft.