Silja und Bastian stehen am Eingang des größten Fitnessstudios auf der Insel. Hinter dem sanft geschwungenen Tresen erstrecken sich vier Reihen mit unterschiedlichen Geräten. Stepper, Crosstrainer, Rudergeräte und Fahrräder, daneben die Kraftmaschinen mit ihren Gewichtsstapeln. Bastian lässt den Blick über die Geräte schweifen, von denen etwa die Hälfte besetzt ist. Er fühlt eine unwillkürliche Erleichterung bei dem Gedanken daran, dass er sich heute hier nicht schinden muss, sondern ganz locker nur ein paar Fragen stellen wird.
Die meisten Trainierenden sind zwischen zwanzig und vierzig Jahre alt. Sie haben Stöpsel in den Ohren und wirken sehr auf sich selbst konzentriert und angestrengt. Nur sehr wenige beobachten die Bildschirme, die von der Decke hängen. Das Fernsehprogramm scheint vorwiegend aus Nachrichten und Kochshows zu bestehen. Niemand nimmt von Bastian Notiz, als er seine Clubkarte durch das Lesegerät zieht. Erst als er die Karte an Silja weiterreichen will, damit sie ebenfalls die Sperre passieren kann, erregt er die Aufmerksamkeit der jungen Frau hinter dem Tresen.
»Nur Mitglieder bitte«, sagt sie energisch und weist auf ein entsprechendes Schild.
Bastian präsentiert seinen Dienstausweis und deutet auf Silja. »Schon in Ordnung. Sie ist eine Kollegin.«
Mit missbilligender Miene öffnet die junge Frau die Sperre für Silja. Sie hat die Haare zu vielen Rastazöpfen geflochten, die stachelartig von ihrem Kopf abstehen. Auf dem schlanken Körper trägt sie eine pinkfarbene enganliegende Sporthose und darüber ein knappes schwarzes Top. Ihre grellbunten Sneakers scheinen alle Farben des Regenbogens in sich zu vereinen.
»Hallo erst mal«, versucht Silja, das Misstrauen zu mildern. »Wir haben nur ein paar Fragen zu einem Ihrer Mitglieder.«
»Datenschutz?«, ist die unfreundliche Antwort.
»Kriminalpolizei?«, blafft Bastian zurück und hält ihr noch einmal die Ausweiskarte unter die Nase. Dann mustert er mit zusammengezogenen Brauen das Namensschild der jungen Frau. »Also, Dörte, damit wir uns von Anfang an richtig verstehen. Ich bin zwar bei euch Mitglied, und eigentlich müsstest du mich kennen, aber heute bin ich ausschließlich beruflich hier. Und es wäre für uns alle am angenehmsten, wenn du uns unsere Fragen einfach und schnell beantworten würdest.«
Dörte denkt einen Moment nach, dann fast sie einen Entschluss. »Augenblick bitte, ich rufe den Chef.«
»Kannst du gern machen, aber du bist mit Sicherheit diejenige, die uns eher weiterhelfen kann. Schließlich stehst du regelmäßig am Empfang, oder irre ich mich?«
»Worum geht es denn überhaupt?«, fragt sie verunsichert.
»Angela Ludwig. Sagt dir der Name was?«
»Angela, ja klar«, kommt es wie aus der Pistole geschossen. »Der neue Werbestar unseres Clubs.«
»Wie bitte?«
»Die Talkshow. Die müsst ihr doch gesehen haben.« Langsam taut Dörte auf. »Vorletzte Woche im NDR, beste Sendezeit, zwanzig Uhr fünfzehn. Ein Moderator und drei Gäste. Eine davon war Angela. Sie war eine echt geile Botschafterin für unseren Club. Ich glaube, der Chef hat ihr eine kostenlose lebenslange Mitgliedschaft angeboten.«
»Leider wird sie von der nicht mehr viel haben«, wirft Silja ein.
»Warum das denn?«
»Angela Ludwig ist tot.«
»Wie? Was? Verstehe ich nicht.«
»Wir auch nicht, jedenfalls noch nicht. Sie wurde nämlich ermordet«, setzt Silja kühl hinzu.
Dörte schlägt sich erschrocken die Hand vor den Mund. Ihr Unterarm ist mit chinesischen Schriftzeichen tätowiert. Dann murmelt sie mit weit aufgerissenen Augen: »Das ist ja furchtbar. Wann war das denn?«
»Letzte Nacht. Daher ist es für uns sehr wichtig zu wissen, ob sie gestern Nachmittag hier war.«
»Angela? Ja, ich glaube schon.«
»Glauben reicht nicht.«
»Okay, sorry, war nur so gesagt. Ich bin sicher. Nach dem Training habe ich ihr noch einen Shake verkauft, und den hat sie direkt hier am Tresen gekippt. Alle anderen setzen sich wenigstens kurz oder quatschen noch ein bisschen.«
»Angela nicht?«
»Nein, nie.«
»Als sie dann ging, war sie auch allein?«
»Ja. Wie immer.«
»Wann war das etwa?«
»So gegen halb acht würde ich sagen.« Sie überlegt kurz und fügt dann hinzu: »Doch, das passt. Um acht habe ich Schluss gemacht.«
»Habt ihr eigentlich eine Aufzeichnung der Fernsehsendung?«, will Bastian jetzt wissen.
»Die ist in der Mediathek abrufbar. Aber der Chef hat das Ganze sicher auch aufgenommen.«
»Na schön, wir kümmern uns später darum. Erst mal weiter zu Angela Ludwig: Seit wann ist sie hier Mitglied?«
»Seit einem Jahr schätzungsweise. Nicht viel länger jedenfalls.«
»Wie oft hat sie trainiert und mit wem?«
»Sie war jeden Tag hier, meist mehrere Stunden. Also inklusive Sauna und so. Deswegen kennen wir sie ja auch alle.«
»Hatte sie feste Trainingspartner? Oder einen Personal Trainer?«
Dörte schüttelt den Kopf, so dass ihre Rastazöpfe fliegen. »Nein, nichts von beidem. Sie war …« Die junge Frau stockt. »Also sie war irgendwie schon ein bisschen komisch. Eigenbrötlerisch, würde ich sagen. Hat kaum geredet. Also gegrüßt und so schon, aber darüber hinaus kam nie was.«
»Das sind aber nicht die besten Voraussetzungen für die Teilnahme an einer Talkrunde«, gibt Silja zu bedenken.
»Es ging um Sport im Alter, und der Sender hat direkt bei uns angefragt, ob wir jemanden empfehlen können. Na ja, und da war Angela eindeutig die beste Kandidatin. Jedenfalls in der Sparte fünfzig plus.« Dörte wirft einen vorsichtigen Blick zu den Geräten hinüber, an denen sich auch einige ältere Herrschaften abmühen. Dann zuckt sie die Schultern. »Ihr könnt ja selbst sehen, wie das in dem Alter läuft. Immer schön sachte und die Gelenke schonen. Ist eher ein Alibi als ein echtes Training.« Sie lächelt herablassend. Dann bekommt ihre Stimme eine bewundernde Färbung. »Aber Angela war anders. Die hat sich richtig gequält. Der war ihr Körper heilig. Nur Eiweißdiäten und Sport, das war ihr Leben.«
»Ach du Schande«, entfährt es Bastian, was ihm einen tadelnden Blick von Dörte und einen spöttischen von Silja einträgt.
»Was denn?«, kommentiert er grinsend, wird aber schnell wieder ernst. »Wir wüssten noch gern, ob sie regelmäßig zu bestimmten Zeiten trainiert hat oder ob sie immer zu unterschiedlichen Zeiten hier aufgeschlagen ist.«
»Meistens war sie am Nachmittag hier, also so wie gestern. Von vier bis acht etwa, aber beschwören würde ich das jetzt nicht.«
»Das reicht uns so schon mal.« Bastian blickt sich nachdenklich um. »Und sie hatte wirklich zu niemandem hier näheren Kontakt? Ich meine, wenn sie täglich hier war, dann müsste sich doch mal irgendwas ergeben haben. Ein längeres Gespräch, ein gemeinsamer Saunabesuch oder so.«
Die Antwort ist von einem Achselzucken begleitet. »Gesehen habe ich so etwas nie. Und ich glaube, auch meine Kollegen nicht, sonst hätten wir ja nicht so häufig darüber ge…, also wir haben manchmal ein bisschen gelästert.«
»Sie war nicht besonders beliebt?«, hakt Bastian nach.
»Sie wirkte eben irgendwie komisch.«
»Und trotzdem hat dein Chef Frau Ludwig in diese Talkrunde geschickt.«
»Sie war voll fit, wie gesagt.«
»Verstehe. Mit wem hat sie denn dort auf der Bühne gesessen?«
»Muss ich mal überlegen. Das waren zwei Typen auf jeden Fall. Der eine schon älter, also wie Angela etwa. Ziemlich drahtig, der schwor auf Schwimmen und Radfahren und hatte für unser Studio nur abfällige Bemerkungen übrig. Und für Angela übrigens auch. Das hat sie natürlich nicht auf sich sitzen lassen.«
Bastian wechselt einen kurzen Blick mit Silja, enthält sich aber jeden Kommentars. »Und der andere Talkgast?«
»War jünger und sah ziemlich gut aus. Also sehr muskulös und auch sonst ganz schnuckelig.«
»Den Namen weißt du nicht durch Zufall?«
»Jasper«, kommt es wie aus der Pistole geschossen.
»Ist der auch hier Mitglied?«
»Äh, nein, das nicht.« Amüsiert beobachtet Bastian, wie eine tiefe Röte Dörtes Gesicht überzieht.
»Und was heißt jünger genau?«, will Silja jetzt wissen.
»Na ja, um die dreißig vielleicht.«
»Warum sollte er sich dann zu Sport im Alter äußern?«
»Er trainiert die Altherren-Fußballmannschaft hier auf der Insel.«
»Verstehe. Weißt du auch den Nachnamen?«, erkundigt sich Bastian.
Ein Kopfschütteln ist die Antwort.
»Noch mal zu dem Älteren«, mischt sich Silja ein. »Er hieß nicht zufällig Fred Hübner und war Journalist?«
Dörte runzelt kurz die Stirn, dann nickt sie sichtlich überrascht. »Ich dachte, Sie haben die Sendung gar nicht gesehen.«
»Haben wir auch nicht«, wiegelt Bastian ab. »Aber wir kennen diesen ziemlich streitbaren Burschen ganz gut. Ihn und seine Passion fürs Radfahren.« In schneller Folge zischen Erinnerungen durch Bastians Hirn: Fred Hübner, der sich mit einem Straftäter zusammentut, um seine journalistische Karriere auf Trab zu bringen. Das war Siljas und sein erster gemeinsamer Fall. Jahre später mussten sie den Journalisten sogar einmal widerwillig in die Ermittlungstätigkeiten einbeziehen, um voranzukommen. In einem anderen Fall ist Hübner allerdings direkt in ihrer Arrestzelle gelandet. Bastian muss jedes Mal ein Grinsen unterdrücken, wenn er daran denkt. Jetzt schiebt er aber die Erinnerungen zur Seite, um das Gespräch mit der Fitnesslady fortzusetzen. »Wo wir gerade beim Radfahren sind: Kam Angela Ludwig vielleicht auch manchmal mit dem Rad?«
»Keine Ahnung. Einen Helm hatte sie jedenfalls nicht dabei, auch gestern nicht, das wüsste ich sonst.«
»Warum?«
»Die Helme passen nicht in unsere Spinde. Deshalb müssen wir sie hier unter dem Tresen deponieren.«
»Alles klar. Und danke erst mal, das hat schon sehr geholfen«, erklärt Bastian und wendet sich ab. Im Hinausgehen raunt er Silja zu: »Einen Helm haben wir bei der Toten auch nicht gefunden. Das passt also. Aber viel interessanter finde ich etwas anderes: Angela Ludwig hat sich in aller Öffentlichkeit mit Fred Hübner gezofft. Und jetzt ist sie tot.«
Doch Silja schüttelt nur den Kopf. »Ich weiß, dass du ihn nicht magst. Aber das ist noch lange kein Grund, ihn des Mordes zu verdächtigen.«