Aufmerksam mustert Bastian Kreuzer jeden einzelnen Passagier, der die Fähre nach Rømø betritt. Der Andrang ist nicht besonders groß. Es sind einige wenige Reisende ohne Gepäck, die sich vielleicht einen Tagesausflug nach Dänemark gönnen, aber vor allem Autofahrer mit deutschem Kennzeichen, die die billigere Route zurück in die Heimat nehmen. Bisher ist nicht ein einziger Radfahrer aufgetaucht, und keiner der anderen Passagiere hatte auch nur entfernt Ähnlichkeit mit Marvin Schöne.
Bastian Kreuzer ist dankbar für die wenigen Minuten der vergleichsweisen Ruhe, die er hier am Fähranleger hat, denn in den letzten zwanzig Minuten hat er Schwerstarbeit geleistet.
Jede einzelne verfügbare Seele auf der Insel wurde für die Fahndung nach dem Flüchtigen aktiviert, die Beschreibung Schönes und des Fahrrades herumgeschickt und eine großflächige Suchaktion auf dem Ellenbogen sowie eine enge Überwachung des Westerländer Bahnhofs angeordnet. Inselweit sind alle Bus- und Taxifahrer informiert, die Autoverleihfirmen natürlich auch. Eine schnelle Überprüfung hat ergeben, dass Schöne zwar einen gültigen Führerschein, aber seit Jahren keinen angemeldeten Wagen mehr hat. Wenn er sich also fortbewegen will, hat er kaum noch Möglichkeiten, unentdeckt zu bleiben.
Die Überwachung des Lister Hafens hat Bastian selbst übernommen, da er hier am ehesten mit dem Flüchtigen rechnet. Silja ist unterwegs zu Jasper Bleiken, und die mutmaßliche Tatwaffe, der blutbesudelte Kegel, befindet sich auf dem Weg nach Flensburg, um dort gründlich von Leo Blum unter die Lupe genommen zu werden.
Jetzt heißt es also warten. Warten darauf, dass sie Schöne schnappen, und natürlich hoffen, dass sich ihre Hypothesen als richtig erweisen.
Während sich der Kommissar aufmerksam umschaut, redet er insgeheim Schöne gut zu. Na komm schon, dein Spiel ist aus. Auf der Insel wirst du gesucht wie ein bunter Hund, das wird dir doch wohl klar sein. Du musst hier weg, und da du ohnehin schon in List bist, ist die Fähre nach Rømø doch eigentlich die einzige Möglichkeit, die sich dir noch bietet.
Sieh es endlich ein und lauf mir über den Weg!
Aber Marvin Schöne tut dem Kommissar nicht den Gefallen, aufzutauchen. Schon tutet das Horn der Fähre, letzte Passagiere hasten aufs Schiff, dann wird die Brücke zurückgezogen, und das Schiff legt ab.
Mist, jetzt bin ich mit meinem Latein am Ende, denkt Kreuzer frustriert. Und als im gleichen Moment sein Handy klingelt, erwartet er eigentlich eine besorgte Nachfrage Elsbeth von Bispingens und überlegt bereits fieberhaft, wie er seine Fehleinschätzung am besten rechtfertigen kann. Zum Glück ist aber nicht die Staatsanwältin, sondern ein Kollege von der Wache am anderen Ende.
»Wir haben Neuigkeiten von der Telefonüberwachung Bleiken. Der Anruf kam von einem Prepaid-Handy«, beginnt der Kollege.
»Nicht schon wieder«, stöhnt Bastian, wird aber gleich unterbrochen.
»Nee, alles gut. Also erstens: Es ist das gleiche Handy, das auch schon den Fehlalarm wegen der vierten Leiche ausgelöst hat.«
»Was will der Typ denn von Bleiken?«
»Gerettet werden, ganz einfach. Er hört sich ziemlich jämmerlich an, redet davon, dass alles nicht ganz nach Plan gelaufen sei, und fragt, ob er heute Nacht bei Bleiken unterschlüpfen könne.«
»Habt ihr die Stimme erkannt?«
»Wie denn? Wir haben ja mit keinem der Verdächtigen Kontakt gehabt.«
»Ja, klar. Entschuldige. Weiß Silja schon Bescheid? Sie steht ja vor Bleikens Haus.«
»Wir haben dich als Ersten kontaktiert.«
»Es wäre aber besser gewesen …«, beginnt Bastian.
»Lass mich jetzt mal ausreden, bitte. Der Anrufer war aufgeregt, er hat mehrmals betont, welchen Schiss er habe, dass er sich noch bis abends verstecken wolle, um sich dann irgendwie nach Archsum durchzuschlagen.«
»Dann müssen wir also nur abwarten.«
»Nicht ganz.«
»Warum? Was hat Bleiken dazu gesagt?«
»Na was wohl? Er hat ihm jede Unterstützung verweigert. Wusste aber anscheinend ziemlich genau über die ganze Operation Bescheid.«
»Sind Namen gefallen? Irgendwas Belastbares?«
»Nichts davon. Anspielungen haben offenbar genügt. Oder die beiden haben einen Code vereinbart.«
»Mist.«
»Nicht ganz.« Der Kollege holt tief Luft und fügt triumphierend hinzu. »Das Telefonat hat lange genug gedauert, dass wir den Standort des Geräts ermitteln konnten.«
»Und das sagst du jetzt erst?«
»Du unterbrichst mich ja dauernd.«
»Jetzt nicht mehr.«
»Doch. Schon wieder.«
»Herrgott nochmal, jetzt sag schon.«
»Der Anruf kam vom Lister Hafen. Der Typ muss sich also irgendwo ganz in deiner Nähe versteckt halten.«
»Wow, das ist doch mal was! Wenn wir die Nordspitze der Insel abriegeln und die Fähre überwachen, schnappen wir ihn früher oder später.«
»Es sei denn, er hat ein Boot«, kontert der Kollege kühl.
»Das Risiko können wir eingehen. Falls der Anrufer Marvin Schöne war, wovon ich fest ausgehe, hat er garantiert keine Kohle für ein Boot.«
»Soll ich dir das Telefonat vorspielen?«
»Das bietest du jetzt erst an?«
»Du lässt mich ja nicht zu Wort kommen.«
»Jetzt mach schon!«
Bastian braucht nur Sekunden zuzuhören, um bestätigt zu finden, was er geahnt hat. Marvin Schönes Stimme bebt vor Angst, er ist hörbar mit den Nerven fertig und fleht Bleiken an, bei ihm unterschlüpfen zu dürfen.
»Okay, das reicht. Ich mache mich hier sofort auf die Suche.«
»Soll ich Verstärkung schicken?«
»Erst mal nicht. Wir können nicht ganz ausschließen, dass auch dieser Anruf uns auf eine falsche Fährte locken sollte. Nicht dass sich hier alle Einsatzkräfte klumpen und Schöne schon bald fröhlich irgendwo anders über die Insel spaziert. Man soll seine Gegner nie unterschätzen.«
»Ganz wie du meinst. Du bist der Boss.« Der Stimme des Kollegen ist deutlich anzuhören, dass er nicht überzeugt von Bastians Plan ist. Aber das kümmert den Kommissar gerade wenig.
»Könnt ihr das Prepaid-Handy weiterhin orten?«
»Negativ, leider.«
»Wäre ja auch zu schön gewesen. Eines noch: Sagt Silja bitte sofort Bescheid. Sie muss auf jeden Fall an Bleiken dranbleiben, nicht dass der doch noch abhaut.«
»Wird gemacht.«
Während Bastian sein Handy wegsteckt, verlässt die Fähre den Hafen. Der Platz vor dem Kai liegt nun leer vor ihm im Nieselregen. Was ist, wenn ich Schöne übersehen habe und er jetzt frohgemut auf der Fähre sitzt?, schießt es dem Kommissar durch den Kopf. Doch anstatt solch destruktiven Gedanken nachzuhängen, wird Bastian aktiv.
Er beginnt damit, systematisch alle Fahrradständer am Hafen und bei den Geschäften und Restaurants in der Nähe zu kontrollieren. Da es schon seit dem Morgen immer wieder regnet, stehen nicht viele Räder hier. Und als Bastian bereits nach wenigen Minuten direkt vor der großen Tonnenhalle fündig wird, kann er sein Glück kaum fassen. Das knallgelbe Rennrad entspricht exakt Elsbeth von Bispingens Beschreibung, und bei näherem Hinsehen erkennt Bastian, dass das Rad, obwohl es sicher wertvoll ist, nicht angeschlossen worden ist.
Bastian holt das Rad aus dem Ständer, setzt sich drauf und fährt die paar Meter zurück zum Fähranleger, wo er es dem Hafenmeister mit einer knappen Erklärung zur Verwahrung übergibt.
Wenn alle Bus- und Taxifahrer auf Zack sind, kommt unser Freund hier nicht mehr weg, überlegt Bastian, während er mit schnellen Schritten zurück zur Tonnenhalle geht, um dort mit seiner Suche zu beginnen.
Aus dem Inneren des Gebäudes schlägt dem Kommissar ebenso warme wie feuchte Luft entgegen. An den Süßigkeiten- und Andenkenständen herrscht weniger Betrieb als im Hochsommer, doch leer ist es deswegen noch lange nicht. Familien mit quengelnden Kindern, übergewichtige Paare in wetterfester Bekleidung und einige Trüppchen von Jugendlichen, die vermutlich gerade aus der Schule gekommen sind, bevölkern die Stände. Die Stimmen der Leute scheinen sich unter der hohen Decke zu einem ohrenbetäubenden Klangwirrwarr zu vereinigen. Bastian durchkämmt die Halle dreimal, bis er das Gefühl hat, jedem Einzelnen mehrmals ins Gesicht geschaut zu haben. Marvin Schöne ist nicht dabei. Enttäuscht steigt Bastian die Treppe ins Obergeschoss hinauf und durchsucht den Buchladen, ohne Erfolg. Unschlüssig blickt er sich um. Wo könnte man sich sonst noch verstecken?