2. KAPITEL
Die falschen Bilder
1.
G lin, wie kannst du dir all diese verrückten Dinge ausdenken?«, fragte Sira leise in den Morgen hinein. »Ich weiß nicht, ob ich mir je so einen komplizierten Plan zurechtlegen könnte. Wo nimmst du all die Ideen her?«
Die Umrisse der Stadt hoben sich langsam als helle Schemen vor der Morgendämmerung ab. Sira saß neben Glin auf der Tribüne. Die Bruchstücke des zerbrochenen Mondes waren noch nicht sämtlich hinter dem Horizont versunken. Glin hatte eine Wachschicht von Madeire übernommen und saß seit der vierten Stunde nach Mitternacht mit dem Rücken zur Bühne in einer der Bankreihen. Vom Amboss aus, der unförmig in die Lagune ragte, hatte man einen fantastischen Blick über Mosmerano. Schönheit zirpte ab und zu leise, beinahe schüchtern, und hielt ebenfalls Ausschau.
Zur sechsten Stunde hatte Sira sich dazugesellt. Anstatt die lange Außentreppe zu nehmen, war sie innerhalb weniger Wimpernschläge einfach am Gestänge hochgeklettert und hatte sich über das Geländer geschwungen. Dass sie mit ihren vierzehn Namenstagen das frühe Aufstehen nicht ebenso verabscheute wie die übrigen Mitglieder des Ensembles, blieb Glin ein Rätsel.
»Niemand weiß, wo die Ideen herkommen. Die Götter verteilen Talente unterschiedlich unter den Menschen. Du kannst einfach so an jeder Wand hochklettern wie eine kleine Spinne«, entgegnete Glin. »Und außerdem ist noch lange nicht gesagt, dass das, was ich mir ausgedacht habe, auch wirklich funktioniert.«
Sira grinste. Aber sie ging nicht weiter darauf ein, sondern wechselte das Thema. »Warum liegt Mosmerano eigentlich im Meer? Wieso nicht einfach an der Küste?«
Glin rieb sich etwas von der brennenden Müdigkeit aus den Augen. »Ich denke, die Stadt liegt in der Lagune, weil sie so leichter zu verteidigen ist. Und weil die Mosmerani es so wollten.«
»Weil sie es so wollten? «
Glin zuckte die Achseln. »Du weißt, was man ihnen nachsagt?«
»Sie haben … Temperament?«
Glin nickte. »Und sie können störrisch sein wie Maultiere. Die würden sogar Marcators fetten göttlichen Wanst beiseiteschieben, wenn er ihnen bei einem Vorhaben im Weg stünde. Und so haben sie der Lagune eben diesen Ort hier abgetrotzt.«
»Klingt völlig verrückt.«
»Ist es ja auch«, bekräftigte Glin. »Ironischerweise nennen die Leute die Stadt oft Die Tänzerin über dem Wasser . Dabei schwebt sie nicht einfach so leichtfüßig auf dem Wasser, sondern Tausende von Menschen haben eine Ewigkeit lang mühsam an ihr gebaut.«
»Mir leuchtet aber sofort ein, warum die Leute sie so nennen«, meinte Sira.
»Ja?«
»Sie ist ein wenig wie eine Statue von Evisandre.«
Glin dachte über die Darstellungen der Göttin nach – als strahlende Verführerin, Gönnerin aller Künste und anbetungswürdige Schönheit. »Inwiefern?«
»Na ja, sie blickt auf alle herab, die sich ihr nähern. Sie wirkt so … arrogant. Sie lächelt gönnerhaft und flüstert: Kommt in mein Heiligtum und seht so viel Schönheit und Einzigartigkeit, dass ihr am liebsten kotzen würdet vor Neid
Glin musste auflachen. »Du weißt, dass man Mosmerano deshalb gerne auch Die Verzogene nennt.«
Siras Mundwinkel verbreiterten sich zu einem hämischen Grinsen und schließlich musste sie hell auflachen.
Glin stupste sie in die Seite. »Bist du bereit für deinen ersten großen Auftritt in Mosmerano, der Verzogenen?«
»Auf jeden Fall!«
2.
M osmerano wurde von mehreren größeren Kanälen durchzogen, die die Stadt je nach Zählweise in elf bis dreizehn kleinere Inseln unterteilten. Und Sira und Glin nahmen bewusst Umwege in Kauf. Vom Amboss ging es hinüber zur Marktinsel, auf deren Uferpromenade sie sich südwärts hielten und sich der Piazza des Wassers näherten. Sie lag am Ende der Uferpromenade. Ein kreisrundes Becken von etwa zweihundert Schritt Durchmesser, das sich zwischen Hafeninsel, Marktinsel und der sogenannten Hölzernen Bank befand, der Insel der Handwerkerzünfte.
Am südlichen Ende der Hafeninsel fußte ein Bein des Spinnturms . Der Turm war ein Relikt der Skyldar – eine gigantische Mechanik, unbewegt und vermutlich eingerostet seit tausend Jahren. Sie stand dort, bestimmt vierzig Schritt hoch, achtbeinig wie eine Spinne, auf deren Rücken man einen Turmaufbau platziert hatte. Vier ihrer immensen Beine ruhten auf der Marktinsel, die anderen vier jenseits des Kanals auf der Hafeninsel.
»Ob sich das Ding jemals bewegt hat?«, raunte Sira. »Ich meine so wie Schönheit. Die beiden sind doch irgendwie verwandt.«
»Gute Frage«, meinte Glin. Tatsächlich hatte er sie sich selbst schon gestellt. Bei ihrem ersten Besuch in Mosmerano hatte er viel über solche Dinge nachgedacht, wie es wohl gewesen sein mochte, als dieses Monstrum sich noch bewegt hatte. Er war davon überzeugt, dass das einmal der Fall gewesen war. Auch wenn die Skyldar nun bereits seit einem Jahrtausend ausgestorben waren, fanden sich ihre mechanischen Überbleibsel immer noch überall in der Ruhenden Welt. Selten waren sie von so enormer Größe wie der Spinnturm von Mosmerano. Die meisten Dinge waren kleiner und unscheinbarer. Auch die mechanische Grille Schönheit gehörte zu diesen hinterlassenen Artefakten. Und doch war sie etwas ganz Besonderes. Glin hatte bislang keine zweite Skyldarmechanik gesehen, die mehr oder weniger selbstständig und unabhängig handelte, quasi mit einem eigenen Willen. Bei den Artefakten, von denen Glin wusste, handelte es sich zumeist um Waffen, Werkzeuge oder irgendwelche Kunstwerke. Es waren tote Gegenstände, keine Lebewesen wie Schönheit eines war – und dennoch wohnte jedem einzelnen eine Eleganz inne, die kein menschlicher Mechanist der Gegenwart je wieder erreicht hatte.
Unter den langen Beinen des Spinnturms wechselten sie hinüber zur Hafeninsel mit all ihren Kontoren und Werften. Jemand schob einen Karren mit duftenden Kaffeesäcken an ihnen vorbei. Doch weiter hinein in das hektische Treiben begaben sich die beiden Diebe nicht. Bei der nächsten Brücke ging es hinüber zur Hölzernen Bank, die sie einmal komplett durchquerten. Das Durcheinander hielt sich hier in Grenzen, aber Geschäftigkeit herrschte auch hier. Schmiede, Schuster, Schreinermeister – aus allen Werkstätten drangen Geräusche ehrlicher Arbeit auf die Straßen. Auch in den Werkstätten der Kunsthandwerker und der Mechanisten herrschte rege Betriebsamkeit und aus den Schornsteinen der Chemistiker schlängelten sich dünne Rauchfahnen in schillernden Farben.
Die nächste Brücke führte sie hinüber zur Stählernen Bank , wo die Marine Mosmeranos beheimatet war und eindrucksvolle Festungsanlagen thronten oberhalb des Militärhafens. Sie blieben am Rande des Viertels, suchten sich eine abgelegene Gasse und wechselten rasch Kleidung und Schuhwerk. Ihre schlichte Straßenkleidung verstauten sie in Rucksäcken und versteckten diese hinter ein paar Regentonnen.
»Sie sehen heute aber ganz besonders liebreizend aus, Mademoiselle«, flötete Glin, nachdem er Siras Haar geglättet und mit einer großen Schleife gebändigt hatte.
»Das Kompliment gebe ich gerne zurück, Monsieur«, kicherte sie. »Oder sollte ich vielleicht sagen: werter Bruder?«
Glin zwinkerte ihr zu. »Komm, wir wollen unsere … Kunden nicht unnötig warten lassen.«
Und so nahmen sie die letzte Brücke, um auf die sogenannte Insel unter den Fittichen zu gelangen – oder auch: Die Insel der Speichellecker . Glin hatte diesen Namen beim letzten Besuch in der Stadt mehrfach vernommen. Die Mosmerani benutzten ihn nahezu unverhohlen. Hier residierte der niedere Adel von Mosmerano.
Mittelprächtige Palazzi drängten sich aneinander. Es war ein Privileg, auf dieser Insel Grund zu besitzen, selbst wenn es bloß ein kleines Fleckchen war. Und jeder, der es durch Erbe oder gesellschaftlichen Aufstieg hierher geschafft hatte, musste unbedingt ein Anwesen errichten, das so prunkvoll erschien, wie es auf dem begrenzten Platz auch nur irgendwie möglich war. Das führte gerade an den Ufern der Insel zu einigen architektonischen Abenteuern. Der Zufall oder die Götter wollten es jedenfalls, dass die Konstrukte hielten – zumindest war Glin noch nicht zu Ohren gekommen, dass ein überhängender Palazzo einmal in die Lagune gestürzt wäre.
Sira und Glin schlenderten stolz über die breitgepflasterten Straßen zum Herzoglichen Museum.
Erzherzog Irico Borgessa hatte bereits vor vielen Jahren darauf bestanden, die Kunstsammlung des Palastes der breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Offiziell hieß es, man wolle zur kulturellen Bildung aller Mosmerani beitragen, wohingegen hinter vorgehaltener Hand gemunkelt wurde, dass es Borgessa schlichtweg die Legitimation gab, auf Kosten der Staatskasse Gemälde anzuschaffen. Schließlich war er ein leidenschaftlicher Sammler.
Glin war beim letzten Aufenthalt der Herbstgänger in Mosmerano oft im Museum gewesen, und in den vergangenen Jahren war die Idee zu einem Coup in ihm gereift. Er musste sich beherrschen, um nicht wie ein Schwachsinniger in sich hineinzugrinsen bei dem Gedanken, dass es nun endlich losging. Das Herzklopfen schluckte er hinunter.
Das Museum war in dem größten Palazzo weit und breit untergebracht, unweit einer Brücke, die zur Hochwohlgeborenen Insel hinüberführte, wo der hohe Adel residierte und auch der Erzherzog seinen Palast hatte. Die teils weiße, teils in der Farbe von Sandstein gehaltene Fassade des Museums war verstärkt und vor jedem einzelnen der großen Fenster war ein schweres, gusseisernes Gitter angebracht.
Glin zahlte den beiden Hellebardieren am Eingang je einen halben Silberstelo für Sira und für sich selbst. Zwar war der Eintritt im Prinzip frei (so wollte Erzherzog Borgessa seine Barmherzigkeit zur Schau stellen), doch waren alle Besucher dazu angehalten, nach Möglichkeit einen für sich angemessenen Betrag zu zahlen. Und wer einen Adeligen aus Envaustille und seine jüngere Schwester mimen wollte, musste sich dieser Gepflogenheit wohl oder übel stellen.
Während sie durch ewig lange, mit weißem und grünem Marmor geflieste Gänge stolzierten, betrachteten sie die Gemälde aus allen möglichen Epochen. Da waren die gestochen scharfen Porträts des Siman von Hahnenburg, Fresken des Esce Montadino, Landschaftsmalereien und Stillleben der Aria Paitero, noch mehr Porträts von Isil Weiß und Kara Flirru … Glin musste die für seine Rolle nötige Langeweile bald nicht einmal mehr spielen. In allen Winkeln der Welt – vom Königreich in den Wäldern, über die Republiken und das Imperium bis hin zum fernen Daworje – hatten Menschen im Laufe der Jahrhunderte eine Leidenschaft dafür entwickelt, Dinge auf Leinwänden abzubilden. Während Glin dem Talent und der Geduld, die das erforderte, noch einiges abgewinnen konnte, langweilten ihn die Inhalte zu Tode.
Man kann das Gefühl, vor einem Gebirgszug oder an einer Küste zu stehen, einfach nicht in einem Bild festhalten , dachte er. Warum versuchen die Leute es trotzdem immer wieder?
Doch dann kamen sie endlich in den Raum, in dem es für ihn wieder interessant wurde.
»Schau doch bloß«, quiekte Sira und wies auf eine Reihe von Landschaftsmalereien, die durch die hohen Fenster von der Mittagssonne beschienen wurden. Sie ahmte den Akzent aus Envaustille perfekt nach. »Dort hängen echte Vonatis.«
»Oh, ja ja«, antwortete Glin und tat so, als sei er gerade aus einem Tagtraum hochgeschreckt.
»Oh bitte, darf ich noch einen Moment hierbleiben, bevor es weitergeht?«
»Aber sicher doch, meine Liebe«, sagte Glin mit der gönnerhaften Güte eines Bruders in der Stimme, der die Begeisterung seiner kleinen Schwester nicht einen Deut weit teilt. Er holte ein ledernes Notizbüchlein heraus und begann, eine Kosten-Nutzen-Rechnung hineinzuschreiben, wie Kaufleute sie aufstellen.
Sira klebte zunächst für einige Zeit wie gebannt vor den Gemälden, bis sie eine der Wachen ansprach, die in den Ecken des Saales standen. »Kann ich Sie etwas zu den Gemälden von Vonati fragen?«
Der Wachmann sah auf sie herab, als hätte sie ihn gerade danach gefragt, ob er mit ihr und ihrem Puppenhaus spielen wollte. Doch Sira machte bemerkenswert große Kulleraugen. »Entschuldigen Sie meine Frage. Zu dumm, ich weiß. Sie sind nur von der Wachmannschaft. Aber ich bin nur heute mit meinem Bruder in der Stadt und es war wirklich nicht einfach, ihn hier –«
»Signore Cossa«, rief der Soldat in diesem Moment und hob eine Hand, als sich ein gut gekleideter Mann auf den Zuruf hin umdrehte. Er war gerade im Begriff gewesen, den Saal zu durchqueren, und trug einige Papiere unter dem Arm.
»Diese junge … Mademoiselle hier«, meinte der Soldat nun etwas zögernd, »hat eine Frage zu den Gemälden von Vonati. Und wo ich Sie hier gerade sehe, Signore …«
Cossas Alter lag vermutlich bereits jenseits der fünfzig Namenstage. Die Enden seines Schnurrbartes waren mit Wachs nach oben gezwirbelt und er hatte kleine, vergnügt dreinblickende Augen. Offenbar fühlte er sich nicht im Geringsten davon gestört, dass Sira eine Frage hatte.
»Evenito Cossa«, meinte er und deutete eine Verbeugung an. »Sie sind an der Kunst von Vonati interessiert, Mademoiselle? Darf ich fragen, woher Ihr Interesse rührt?«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Signore Cossa.« Sira deutete einen Knicks an und errötete leicht. »Mein Name ist Evene de’Lauraque, Tochter des Chevalier Varian de’Lauraque. Mein Bruder wartet dort drüben.« Sie deutete mit der Hand in Glins Richtung. »Mein Bruder hat mich in die Stadt mitgenommen. Eigentlich begleitet er nur eine Lieferung unseres Weines. Wissen Sie, Signore, ich liebe die großen Meister. Montadino, de’Laan, Hahnenburg … und ich … ach, es war mir ein Herzenswunsch, die berühmte Sammlung des Erzherzogs von Mosmerano einmal sehen zu dürfen.«
»Es ist mir eine Ehre, Mademoiselle de’Lauraque. Ich selbst durfte helfen, die Sammlung zusammenzutragen. Ich bin seit vielen Jahren Kurator des Herzoglichen Museums. Und mir geht das Herz auf, wenn ich so einen jungen Menschen sehe, dem das Studium der Kunstgeschichte bereits so sehr am Herzen liegt. Also, Mademoiselle, womit kann ich Ihnen zu Diensten sein?«
Sira errötete wie auf Kommando. »Mein … Bruder … nun ja, sein Interesse an der Kunst ist leider nicht so groß, sodass er mir meine Fragen schlichtweg nicht beantworten kann.«
»Dann nutzen Sie Ihre Chance, Mademoiselle«, forderte Cossa sie auf. »Wenn Sie nach Envaustille zurücksegeln, wird Ihnen vermutlich einige Zeit lang keine größere Kapazität begegnen.«
Sofort platzte Sira mir ihrem Anliegen heraus. »Warum gibt es in der Ausstellung von Vonatis Bildern eine so auffällige Lücke?«
»Nun, Sie wissen doch bestimmt einiges über Vonatis künstlerisches Schaffen, oder?«, vergewisserte Cossa sich.
»Also ich weiß, dass er im fünften Jahrhundert in Tarsica und Ittrico gelebt hat. Die schnellen Striche mit dünnen Pinseln sind charakteristisch für seine Gemälde, besonders für seine Landschaftsmalereien, für die er schließlich weltberühmt wurde.«
»Dann werden Sie doch bestimmt seine einzigartige Gemäldereihe über die Tageszeiten kennen?«
Sira sah ihn mit großen Augen an und mimte Unwissenheit.
»Das überrascht mich dann doch«, gestand Cossa. »Ich dachte –«
»Meinen Sie die Bilder Morgen in den Dünen und Kinder der Dämmerung und dergleichen? Ich wusste nicht, dass sie als eine Reihe von Bildern gedacht waren. Dabei erscheint es sogar ganz logisch. Danke für den Hinweis, Signore.«
Cossas Überraschung wandelte sich in ein Lächeln von väterlicher Güte. »Gern geschehen, Mademoiselle. Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.«
Mit einer Hand führte er sie dezent am Ellenbogen direkt vor die fraglichen Gemälde. Es waren fünf an der Zahl.
»Vonati hat diese Bilder vermutlich um das Jahr vierhundertachtzig herum in Tarsica angefertigt. Es ist eine Reihe, die den Tageszeiten folgt. Möglich, dass es einem nicht sofort auffällt, wenn man bloß Beschreibungen und schlechte Faksimiles zum Studium zur Verfügung hat. Sehen Sie – Sie können die Bilder hier von links nach rechts in chronologischer Folge sehen. Morgen in den Dünen , Der Tänzer unter der Mittagssonne , Trost im Zwielicht , Kinder der Dämmerung , Attristo und der zerbrochene Mond
»Und zwischen den beiden letzten fehlt eines«, stellte Sira fest. »Wird es zurzeit restauriert?«
»Bedaure, nein«, räumte Cossa ein. »Dieses gute Stück trägt den Titel Nacht vor Tarsica und es gilt seit über zwei Jahrhunderten als verschollen.«
»Verschollen?«, entfuhr es Sira.
»Ich fürchte ja, Mademoiselle. Es gab über die Jahre immer wieder Hinweise, gerade im letzten Herbst noch … aber was erzähle ich Ihnen das? Es ist dem Kuratorium bislang nicht gelungen, das fehlende Werk aufzutreiben.«
»Das ist tragisch«, meinte Sira und trat näher an das letzte Bild der Reihe heran, Attristo und der zerbrochene Mond . Sie kniff ein Auge zu und betrachtete die Beschaffenheit des Bildes. »Aber dieser Pinselstrich Vonatis ist wirklich beeindruckend, muss ich gestehen.«
»Im wahrsten Sinne«, Cossa wirkte stolz. »Ich würde Ihrem wissensdurstigen jungen Geist am liebsten die Originale zeigen, aber –«
»Die Originale?«, fuhr Sira herum. »Sind diese hier denn bloß Kopien?«
»Ich fürchte ja. Die Originale werden im Tresor des erzherzoglichen Palastes aufbewahrt. Es erschien seiner Durchlaucht auf Dauer dann doch etwas heikel, die Originale dem gewöhnlichen Volk zugänglich zu machen. Wissen Sie, Mademoiselle, die einfachen Leute wissen große Kunst nicht angemessen zu würdigen … und bevor die Bilder Gefahr liefen, eines Tages zu Schaden zu kommen, hat der Erzherzog verfügt, dass nach und nach Kopien angefertigt werden, durch die die Originale hier im Museum ersetzt werden konnten.«
»Aber wer ist denn in der Lage, den einzigartigen Stil Vonatis zu kopieren? Die Unterschiede zwischen Original und Kopie müssen doch frappierend sein.«
»Erstaunlicherweise nicht«, erklärte Cossa. »Signore Atteo Enzo, der Mann, der die Vonati-Gemälde kopiert hat, ist ein echter Wunderknabe. An ihm ist ein großer Künstler verloren gegangen. Allein, ihm fehlt die Inspiration für ein eigenes künstlerisches Schaffen. Er verdient seinen Lebensunterhalt stattdessen damit, die Kopien berühmter Originale herzustellen. Darin ist er allerdings brillant.«
Sira runzelte die Stirn. »Aber wie unterscheidet man dann am Ende Original und … nennen wir es mal Fälschung?«
»Kopie «, berichtigte Cossa sie. »Eine Fälschung würde ja eine böswillige Absicht unterstellen.« Damit trat auch er näher an das Bild heran. »Sehen Sie diese Striche hier, Mademoiselle de’Lauraque?«
Sira tat, als müsse sie einen Augenblick lang suchen. Dann stieß sie einen leisen Pfiff aus. »Das ist ja raffiniert. Diese beiden Striche ergeben ein A und ein E, ineinander verschlungen. Sie stehen für den Namen des Kopisten, oder? Atteo Enzo.«
»Sehr gut«, lobte Cossa. »Und jetzt schauen Sie sich das Ganze einmal in diesem Fall an.« Er führte sie weiter zu Trost im Zwielicht .
»Da sind es diese beiden Grashalme«, stellte Sira diesmal blitzschnell fest und ging von selbst weiter zum nächsten Gemälde. »Und hier sind die Buchstaben in der Struktur der Baumrinde zu erkennen.«
Sie suchte auch die übrigen Bilder ab. »Natürlich«, sinnierte sie halblaut. »Mit solch einer unverkennbaren Signatur kann dieser Signore Enzo jederzeit beweisen, dass ein Gemälde von ihm stammt. Und der Erzherzog weiß sicher, dass hier bloß Kopien hängen.«
»Sie sind wirklich eine sehr aufgeweckte junge Person«, komplimentierte Cossa.
In diesem Moment hüstelte Glin und trat näher. »Ich störe ja nur ungern, Signore. Und ich bedanke mich aufs Herzlichste, dass Sie den Wissensdurst meiner Schwester mit solcher Hingabe stillen … aber ich habe am Nachmittag Geschäfte zu erledigen und ich fürchte, wir müssen uns nun auf den Weg machen.«
»Oh … äh … ja«, stammelte Cossa sichtlich enttäuscht. »Selbstverständlich, Monsieur de’Lauraque. Ich bedanke mich. Es war mir ein außerordentliches Vergnügen, Ihrer gebildeten jungen Schwester die Kunst Vonatis ein wenig näherzubringen.«
»Es freut mich, wenn es zu Ihrer Erquickung beigetragen hat. Kommst du, meine Liebe?«
»Sehr wohl, Bruder.« Es klang nörgelig.
»Eines noch.« Cossa berührte Glin sanft am Ärmel. »Wenn ich mir die Einmischung erlauben dürfte, Monsieur de’Lauraque … aber wenn es Ihnen irgend möglich ist, dann überreden Sie Ihre Eltern doch, dass sie Ihre reizende Schwester später einmal an die Fakultät schicken. Und wenn es nur für ein kurzes Jahr ist. Mit ihr könnte die Welt eine große Kunsthistorikerin gewinnen, jemanden, dem das Erbe dieser großen Maler hier am Herzen liegt. Ihre Chancen, sich mit ihrer Expertise einen Namen zu machen, wären später ausgezeichnet. Bitte, Monsieur, ich will mich ja nicht einmischen … aber das Talent Ihrer Schwester und ihr hungriger Geist sollten unbedingt gefördert werden. Ich setze auch gerne ein Empfehlungsschreiben auf.«
Mit ehrlichem Stolz, wenn auch aus den falschen Gründen, blickte Glin auf Sira herab. »Ich … werde das auf jeden Fall in Erwägung ziehen, Signore. Haben Sie vielen Dank und einen guten Tag unter Marcators Gnade.«
»Den wünsche ich Ihnen ebenfalls.« Cossa deutete eine Verbeugung an. »Und ich wünsche Ihnen gute Geschäfte in der Stadt, Monsieur.«