4. KAPITEL
Was einen schlechter schlafen lässt
1.
Ü ber der Lagune lag die Abenddämmerung. Drei Dutzend lodernde Fackeln steckten in Vorrichtungen entlang der Tribünen und tauchten alles in flackernden Schein. Glin sah durch einen Spalt im Vorhang und registrierte, dass alle Plätze besetzt waren: von den hoch gelegenen Reihen über den Dächern ihrer Wagen bis hinunter in den Hof, in dem sich noch einmal knapp sechzig Menschen drängten.
»Hochverehrte Signori und Signore«, rief Talmo – gekleidet in einen karmesinroten Theaterfrack – von der Bühne aus in die Runde. »Es ist mir die größte Ehre und höchste Freude, hier und heute in der Stadt Mosmerano, der Tänzerin über dem Wasser, ein Stück anzusagen, welches einer der wohl berühmtesten Söhne dieser wunderschönen Republik verfasst hat: Tresco Silvani.«
Applaus brandete auf.
»Es ist Jahrhunderte alt und ebenso komisch wie tragisch.«
Glin ließ seinen Blick über die Menge gleiten. Frauen und Männer hielten sich in etwa die Waage, während er an der Kleidung der Menschen erkennen konnte, dass sich erstaunlich viele Wohlhabende oder gar Adelige in den Amboss gewagt hatten. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ab wann die Herbstgänger nicht länger als Geheimtipp gehandelt werden würden. Hin und wieder hörte man den Namen in der Szene. Doch aufgrund des schäbigen ersten Eindrucks, den das Theater hinterließ, hatten sie bislang nie die Aufmerksamkeit höchster Adelskreise auf sich gezogen.
Und das war auch gut so.
»Folgen Sie mir in die letzten Tage des großen Amantinischen Reiches. Steigen Sie mit mir hinab –«
Talmo stockte.
Glin wusste zunächst nicht warum. Er überlegte noch, ob es eine gewollte Kunstpause war – doch sie machte überhaupt keinen Sinn.
Verzweifelt versuchte er den Grund für Talmos Aussetzer zu erkennen. Er folgte Talmos Blick – oder versuchte zumindest zu erahnen, was sein Ziehvater gesehen haben könnte. Irgendetwas musste er entdeckt haben, das ihm das Blut in den Adern hatte gefrieren lassen. Glin überlegte schon, Talmo zur Seite zu springen. Doch dieser setzte bereits von Neuem an und brachte seine Ansage zu Silvanis Stück zu Ende.
»Steigen Sie mit mir hinab in die so unterhaltsamen wie dramatischen Abgründe grenzenloser Schönheit – jener grenzenlosen Schönheit, wie sie die hohe Dame Livia einst besaß. Und schauen Sie, Signore und Signori, wie ihr bezauberndes Wesen Ehemann um Ehemann betörte.«
Unter Applaus verbeugte sich Talmo, verließ die Bühne und betätigte im Vorbeigehen unbemerkt einen unscheinbaren Hebel am Bühnenrand, der einen Federmechanismus in Gang setzte, durch den wiederum die schweren Vorhänge zu beiden Seiten förmlich davongeweht wurden. Die Bühne gehörte nun Madeire und Glin. Erster Akt, erste Szene – erster Ehemann der hohen Dame Livia.
2.
D as Stück nahm seinen Lauf, das Publikum fühlte sich unterhalten und bald schon stellte sich die gewohnte Leichtigkeit in allen Abläufen ein.
Die Mechaniken der Bühne funktionierten einwandfrei. Zwischenböden hoben und senkten sich an Schienen und Ketten, von Kurbeln und Flaschenzügen betrieben, sodass es für die meisten Szenenwechsel genügte, wenn Sira mit geringem Kraftaufwand hier oder dort einen Hebel betätigte. Die Bühnenbilder wechselten fließend, was die heimliche Hauptattraktion jeder Darbietung war, die von den Herbstgängern gegeben wurde – natürlich gemeinsam mit Shalimos chemistischem Schnickschnack und Yrreins rasanten Schaukämpfen.
Livias Ehemänner starben einer nach dem anderen am Perfektionismus ihrer Gattin. Schließlich verfiel Livia dem Prinzen Ironimo, in dem sie den bereits perfekten Mann sah – doch der bekam aufgrund ihrer Vorgeschichte Angst. So ließ sich Livia von der Hexe Dava einen Trank brauen, der ihr Äußeres veränderte. Die Hexenküche war dabei einer der Höhepunkte auf der Bühne: Von Sira im Hintergrund betrieben, fuhren Glühkugeln in einer von Glin ausgetüftelten Kugelbahn vor dem rückwärtigen Panorama auf und ab und tauchten alles in waberndes Licht, während gleichzeitig eine Paste aus Shalimos Labor blaue und grüne Nebelschwaden absonderte.
Doch während die Hexe der Dame Livia ein neues Äußeres verpasste, nahm sie selbst die Gestalt von Livia an und übernahm hinterrücks all ihren Besitz, ihr Anwesen und ihre Dienerschaft. Dann – in einer Streitszene zweier Diener Livias – mussten Glin und Talmo nach hastigem Umziehen gemeinsam auf die Bühne, während Talmo plötzlich wieder wie vom Blitz getroffen stehen blieb. Glin versuchte diesmal genauer, seinem Blick zu folgen. Aber das einzig Auffällige, das er im Gegenlicht überhaupt erkennen konnte, war ein Mann in einer der hintersten Reihen, der sich eine Kapuze tief ins Gesicht gezogen hatte. Die Gesichtszüge selbst waren nicht zu erkennen, lediglich eine Strähne feuerroten Haars hatte sich gelöst und fiel aus der Kapuze heraus, die der Mann rasch wieder zurückschob.
Kennt Talmo den Kerl?
Talmo schien erneut unfähig, sich vor oder zurück zu bewegen – als wäre er in der Zeit erstarrt und all seine Routine mit einem Mal verflogen.
Glin schnippte mit einem Finger wie wild vor seinem Gesicht.
Vielleicht sieht er auch etwas ganz anderes?
Talmo rührte sich nicht.
Glin fühlte eine ungekannte Panik in sich aufsteigen.
Sein Kreislauf. Vielleicht ist es auch sein Kreislauf. Oder er hat Fieber und niemandem etwas erzählt und steht jetzt auf der Bühne und …
Glins Verstand überschlug sich. Er begann, Verse zu improvisieren:
»Was tut Ihr da, werter Mann?
Verschlägt es Euch die Sprache,
verschluckt Ihr gar Eure güldene Zunge,
sonst zu jedem Wort der Ungunst bereit?«
Talmo blinzelte, als ob er etwas mit seinen Augen nicht scharf erkennen könnte.
»Was ist dort in der Menge, Diener?
So reißt Euren Blick doch einen Augenblick los von all der Schönheit dort.«
Talmo reagierte überhaupt nicht auf Glin.
Stattdessen sprang er von der Bühne und begann, durch die Zuschauer zu pflügen, hin zur Stiege, um auf die Tribünenaufbauten zu gelangen.
Glin wusste, dass das Publikum ihm nicht mehr lange abkaufen würde, dass das zum Stück gehörte.
»Halt!«, brüllte Talmo wie von Sinnen. Glin sah in die oberen Reihen: Der Gast mit dem feuerroten Haar war verschwunden.
Also geht es tatsächlich um den Kerl!
»Hört auf, Gespenstern nachzujagen!«, rief Glin.
»Ich wusste, es war der Wein.
Verstecken sollen hätt’ ich ihn,
damit Ihr nicht bereits am Mittag –«
»Schweig!«, donnert Talmo nun dazwischen.
»Was wagst du eitler Wicht,
mir vorzuwerfen, was sich ziemt
oder nicht?«
Den Göttern sei Dank, er improvisiert ebenfalls. Er ist wieder in der Rolle.
Glin musste aufpassen, sich vor Erleichterung nicht zu einem breiten Grinsen hinreißen zu lassen.
Doch ganz egal, wie oft er im Laufe des Abends noch von der Bühne aus ins Publikum schielte. Der Mann mit der roten Haarsträhne war fort.
3.
E s war ein Ritual der Herbstgänger: Nach der ersten erfolgreichen Aufführung der Saison entzündeten sie ein großes Lagerfeuer in der Mitte ihrer Wagenburg. Dort saßen sie auf Schemeln und Brettern, lachten, sangen Lieder und betranken sich weit über die Grenzen des guten Geschmacks hinaus.
Doch heute war es anders als in den Jahren zuvor.
Falk und Yrrein bemühten sich zwar sichtlich um etwas Stimmung, aber sie wollte nicht so recht aufkommen. Sie hatten extra eines der winzigen Fässer des malzigen Hafnar-Bieres aufgetrieben. Doch obwohl das dunkle Bier so süffig wie würzig schmeckte, verfiel niemand in Trinklaune.
Shalimo hatte mehrere Dutzend exotisch duftende Räucherstäbchen spendiert, Sira hatte Flickflacks geschlagen und mit Gabeln jongliert und Glin hatte Münzen über seine Fingerknöchel wandern und verschwinden lassen, nur um sie Sira nach dem nächsten Kunststück wieder aus dem Ohr zu ziehen. Doch es bleib dabei, dass der Knoten nicht platzen wollte.
»Möchte jemand Karten spielen?«, unternahm Glin einen weiteren halbherzigen Versuch, die Stimmung zu retten.
»Pah.« Shalimo lachte auf. »Wann hat denn das letzte Mal jemand von uns mit dir Karten gespielt? Glaub mir, ich bin verdammt dankbar für deine flinken Mechanistenfinger – aber nur, wenn du andere Leute damit beim Kartenspiel übers Ohr haust.«
»Wir könnten den alten Messer-Finger-Tanz spielen«, schlug Yrrein vor. »Ich bin zwar ziemlich gut darin aber …« Sie ließ den Satz unvollendet.
»Aber was ?«, frage Glin.
»Also zum Kartenspielen braucht man schließlich nicht unbedingt fünf Finger an jeder Hand. Frag die Tischler und Holzfäller.«
Schließlich wurde es Madeire zu bunt. »Talmo Melisma«, echauffierte sie sich. »Wir kennen uns jetzt eine verdammt lange Zeit. Wir haben so viel Scheiße und so viel Glück durchgemacht wie sonst nur alte Ehepaare. Aber noch nie habe ich dich so von der Rolle gesehen wie heute Abend. Ich hatte kurz befürchtet, du hättest mitten auf der Bühne einen Herzanfall erlitten. Du sagst uns jetzt verdammt noch mal, was mit dir los ist. Auf der Stelle!«
Alles wurde still. Talmo saß wie ein Häufchen Elend auf einem Holzschemel. Mit zusammengesunkenen Schultern hielt er einen Bierkrug in der Hand, von dem er in der vergangenen halben Stunde noch nicht einmal drei Schlucke getrunken hatte. Auf Glin wirkte er um Jahre gealtert.
»Er hat von der Bühne aus jemanden gesehen«, brummte Falk von der Seite. »Jemanden Bestimmtes. Jemanden im Publikum.«
Der Priester legte seine kleine Laute weg und griff nach einem Bierkrug.
»Wer war es?«, drängte Madeire. »Wen hast du gesehen? Irgendjemanden, den wir verärgert haben könnten und der uns auf die Schliche gekommen ist? Dann musst du uns das umso dringender sagen! Du kannst –«
»Nein«, schnitt Talmo ihr das Wort ab. »Es ist niemand, den einer von euch überhaupt kennen kann. Damals gab es die Herbstgänger noch nicht. Noch längst nicht.«
»Jemand, dessen Bekanntschaft du während deines Studiums gemacht hast«, mutmaßte Falk.
Talmo zögerte erst.
»Ja«, sagte er dann schlicht.
»Oh, danke für die bereitwillige Auskunft«, schnaubte Falk. »Ich kann die Person quasi vor mir sehen, so detailreich ist deine Beschreibung, Talmo.«
Der blickte gequält drein.
»Es war ein Mann, er hatte langes rotes Haar, sein Gesicht war unter einer Kapuze verborgen«, mischte Glin sich nun ein.
Talmo nickte stumm.
»Und als Talmo zu ihm hingehen wollte, ist er verschwunden.«
Wieder nickte Talmo.
Falk stöhnte genervt. »Und wer ist dieser Kerl, wegen dem du beinahe komplett die Fassung verloren hättest?«
Einen Moment lang blickte Talmo schweigend in die Runde. »Sein Name ist Aurinius von Veelyn«, sagte er schließlich.
Falk hob eine Augenbraue an. »Ein Adeliger aus den Thronländern?«
»Ja«, bestätigte Talmo.
»Das verstehe ich nicht«, gab Falk zu und genehmigte sich einen Schluck des Hafnars. »Ich meine, wir haben in den letzten Jahren so viele Adelige nach Strich und Faden betrogen – und ich wette, nicht ein einziger ist uns je auf die Schliche gekommen. Dazu waren alle Coups viel zu gut. Vor allem seit deine kleine, unverschämte Ratte von einem Ziehsohn ausheckt, wen wir als Nächstes auf welche Weise übers Ohr hauen.« Er prostete in Richtung Glin.
Der hob seinen eigenen Krug als Erwiderung.
»Es ist niemand, den wir bestohlen haben«, sagte Talmo.
»Also ein Liebhaber?«
»Jetzt lass ihn doch endlich mal selbst reden!«, fuhr Yrrein den Priester an.
Sie schüttete den Rest ihres eigenen Bieres in Falks Krug. »Hier, trink. Wenn dein Mund voller Bier ist, kommt wenigstens nicht so viel blöder Mist heraus.«
»Mist mit Bier«, murmelte Falk. »Besser als gar kein Bier.«
»Ruhe jetzt!«
Alle starrten wie gebannt zu Talmo.
»Ihr wisst alle über die Skyldar Bescheid, oder?«, fragte dieser in die Runde.
Es wurde ganz still. Man hätte ein Blatt zu Boden fallen hören.
»Ein paar Legenden, die kennt jeder«, raunte Yrrein. »Ein uraltes, ausgestorbenes Volk. Sie haben den ganzen antiken magisch-mechanischen Krimskrams hergestellt. Beispielsweise mein Schwert.«
»So richtig Bescheid weiß ich eigentlich nicht«, meldete Sira sich zu Wort. »Ich weiß nur, was Yrrein gesagt hat, dass die Skyldar früher einmal hier gelebt haben.«
»Bis vor etwa einem Jahrtausend«, stimmte Talmo ihr zu. »Die Skyldar waren ein Volk, das den Menschen aber gar nicht so unähnlich war. Wenn man den wenigen künstlerischen Darstellungen aus jener Zeit glaubt, dann waren sie meist etwas schlanker und eleganter … und allgemein deutlich gepflegter als wir Menschen. Und sie wurden sehr viel älter. Manche Berichte sprechen von Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden, die so ein Skyldarleben dauern konnte. Und sie verfügten über eine mächtige magische Gabe.«
»Eine richtige Magie?«, staunte Sira.
»Eine richtige Magie«, bestätigte nun wieder Talmo. »Du kennst ja bloß die menschlichen Magier unserer Zeit.«
»Auf manchen Jahrmärkten ist auch das schon ziemlich beeindruckend.«
»Aber hast du einen Magier schon einmal ein echtes Wunder wirken sehen? Ich meine, hast du schon mal mehr gesehen als jemand, der ein paar glitzernde bunte Funken heraufbeschwören kann oder der einen Geigenbogen wie von Geisterhand auf einer Fidel spielen lässt?«
»Was meinst du denn mit einem richtigen Wunder?«
»Wie wäre es, wenn der riesige Spinnturm, der am Rande der Marktinsel aufragt, sich einfach auf seine acht Beine erheben würde und von dannen spazieren würde?«
»So etwas konnten die Skyldar?«
Talmo nickte. »Es war sogar das, wofür sie hauptsächlich berühmt waren. Guck dir zum Beispiel Schönheit an.«
Die mechanische Grille zirpte, als sich auf einmal alle Augen auf sie richteten.
»Heutige Mechanisten können vielleicht eine mechanische Grille bauen, die ein paar Kunststückchen kann. Aber etwas derart Kunstvolles und Filigranes wie Glins Schönheit? Etwas, das darüber hinaus noch vollkommen selbstständig ist und einen eigenen Willen besitzt … Ja, etwas, das gleichsam lebendig ist? Nein, das kann niemand. Aber sieh dir die kleine Grille dort auf Glins Schulter an. Sie hat ein Jahrtausend überdauert und springt immer noch herum wie frisch geschlüpft. Dabei besteht sie nur aus Zahnrädern, Achsen und Drähten.«
»Klingt ziemlich beeindruckend«, gab Sira zu. »Und was ist jetzt genau aus ihnen geworden? Ich meine, dass sie nicht mehr da sind, ist offensichtlich.«
»Das ist eine gute Frage«, meinte Talmo.
»Amantis, der Gottkaiser, hat sie vertrieben … wahrscheinlich sogar ausgelöscht«, murmelte Falk.
»Das kann aber nicht sein«, wiegelte Sira ab. »Nicht wenn sie so mächtige Dinge wie den Spinnturm hatten.«
»Doch«, nickte Talmo bedauernd. »Amantis hat einen Weg gefunden, mit ihnen fertig zu werden. Hinter welches ihrer Geheimnisse er dafür kommen musste, weiß leider niemand mehr. Er hat das Wissen mit ins Grab genommen. Ich denke, die meisten Menschen waren davon überzeugt, dass Amantis ein ungewöhnlich mächtiger Magier war – viel, viel mächtiger und weitaus bedeutender als alles, was du in den Gauklertruppen heutzutage findest. Daher auch der Beiname, Gottkaiser. Die Menschen haben in ihm so etwas wie einen göttlichen Gesandten gesehen. Sein Krieg gegen die Skyldar war kurz und gnadenlos. Er hatte sie irgendwie an ihrem schwachen Punkt erwischt – und dann ging wohl alles sehr schnell. Zumindest erschließt es sich so aus den spärlichen Quellen.«
»Vielleicht war Amantis einfach nur ein großer Mechanist«, überlegte Sira laut.
Talmo hob die Schultern. »Es ist alles möglich – aber von Amantis ist nicht überliefert, dass er jemals selbst irgendetwas Mechanisches konstruiert hätte. Wenn du mich fragst, muss er jedoch ein sehr tiefgreifendes Verständnis von jener Magie besessen haben, die es den Skyldar ermöglichte, ihre mechanischen Wunderdinge zu bauen. Wissen, das heute verloren ist.«
»Aber warum hat er die Skyldar überhaupt ausgelöscht?«
»Ich schätze mal, sie wollten nicht verhandeln. Amantis wollte ein riesiges Imperium der Menschen errichten.«
»Was ihm ja auch gelungen ist«, merkte Falk an.
»Aber es hatte keinen Bestand«, sagte Madeire. »Amantis wird zwar Gottkaiser genannt, aber seine Lebensspanne war dann doch ziemlich menschlich.«
»Und essen und scheißen musste er vermutlich auch wie ein Mensch«, grinste Falk.
Talmo ignorierte ihn. »Seine Erben haben das Amantinische Reich noch einige Jahrhunderte aufrechterhalten, bevor es schließlich im Streit untergegangen ist. Heute gibt es die Amantinischen Republiken und das Imperium der Thronländer. Der alte Glanz ist längst verblasst.«
»Schade nur, dass wir die Skyldar nicht mehr fragen können«, meinte Sira.
»Ja. Aber vermutlich gäbe es dann gar nicht so viele menschliche Mechanisten, die versuchen, sich mit immer neuen Spielereien zu übertrumpfen. Letztens habe ich davon gehört, dass in Vilsheil jemand ein mechanisches Huhn erfunden hat, das sogar Körner aufpicken und Wasser trinken kann … und das Futter auch noch verdaut.«
»Es kann mechanisch kacken«, freute sich Falk.
Talmo verdrehte die Augen. »Ja, auch das.«
»Aber es kann niemand mehr lebendige mechanische Dinge herstellen«, fasste Sira zusammen.
»Aurinius wollte das ändern«, sagte Talmo.
»Aber das ist doch gut.« Siras Augen leuchteten.
Und auch Falk pflichtete ihr bei. »Stell dir doch mal vor, es gäbe eine zweite Epoche wie die der Skyldar.«
Doch Talmo schüttelte den Kopf. »Ihr versteht das nicht. Aurinius ist gefährlich. Wenn man irgendjemandem auf der Welt keine Skyldar-Technologie anvertrauen sollte, dann Aurinius von Veelyn. Und man sollte ihn erst recht nicht mit den Fähigkeiten ausstatten, selbst welche zu erschaffen. Die Götter mögen dafür sorgen, dass das gesamte Wissen der Skyldar lieber bis in alle Ewigkeiten verlorengeht als dass es in seine Finger gelangt.«
»Ist er so schlimm?«
»Ja.« Talmo spuckte vor sich aus. »Aurinius hat Tiere gefoltert, um die Wirkung bestimmter Substanzen auf sie zu erforschen. Er wollte herausfinden, ob man Lebewesen mit Mechaniken magisch verbinden kann. Und er hätte bestimmt nicht davor zurückgeschreckt, es auch mit Menschen zu versuchen.« Er hielt kurz inne, dann schnellte er hoch und schleuderte seinen Schemel über den Innenhof. »Ach was«, brüllte er. »Wahrscheinlich hat er das längst getan. Das mit uns ist ja eine Ewigkeit her.«
»Oh, da hat aber wirklich jemand schlecht zu Abend gegessen«, kommentierte Falk trocken. »Sicher, dass du nicht doch etwas trinken willst, Talmo?«
Der funkelte ihn bloß zornig an.
»Was will denn dieser von den Skyldar besessene Blödmann überhaupt von dir?«
»Er will den Besten«, sagte Glin leise. Augenblicklich drehten sich alle Gesichter zu ihm. Er sah hoch. »Was denn? Dieser Aurinius will den besten Mechanisten für seine Zwecke haben. Das wollte er damals schon, habe ich recht? Ich weiß ja nicht, wie viel mechanisches Zeug ihr schon gesehen habt, aber ich für meinen Teil kann mich an nichts erinnern, das Talmos Fähigkeiten überboten hätte.« In seiner offenen Hand hielt er Schönheit, die aufmüpfig in alle Richtungen blickte. »Abgesehen von den Mechaniken, die von den Skyldar hergestellt wurden.«
»Du meinst, nach all den Jahren will er immer noch etwas von Talmo?«, fragte Madeire. »Was sollte das denn sein?«
»Keine Ahnung.« Talmo winkte ab. »Vielleicht ist er auch einfach ein sadistischer Bastard und will mich unbedingt an seine jämmerliche Existenz erinnern. Auf jeden Fall hat er mir einen gehörigen Schrecken eingejagt.«
»Komm mit«, meinte Glin auf einmal. Schönheit sprang von seiner Hand hoch und setzte sich in seinen Kragen, als er aufstand. »Komm, ich glaube, mir ist etwas eingefallen, was deine Laune erheblich aufhellen dürfte.« Er fasste Talmo bei der Schulter. Ein verschmitztes Grinsen huschte dabei über seine Züge »Glaub mir, das wird dir gefallen. Und es gehört auch noch zum Plan.«
4.
D en Spinnturm zu erklimmen, war nicht so schwierig, wie es auf den ersten Blick schien. All die Achsen und Verstrebungen der langen Beine boten einen hervorragenden Halt. Man musste keineswegs so gelenkig und wieselflink wie Sira sein, um hinaufzugelangen. Lediglich ein wenig Geduld war vonnöten.
Wächter gab es keine. Glin hatte sich zunächst gefragt, warum. Doch je weiter er sich in der Stadt umgehört hatte, desto mehr Spukgeschichten und Erzählungen voller Aberglaube über den Turm waren ihm zu Ohren gekommen. Von einem Eigenleben des Turmes, über magische Pechsträhnen, die von ihm ausgehen sollten, bis hin zu mechanischen Gargylen aus amantinischer Zeit, die angeblich unter seinem Dach wohnten und gerne jene fraßen, die sich hinaufwagten. Weder nutzten feiernde Jugendliche den Turm zu Mutproben noch Verliebte, um sich an warmen Sommerabenden zurückzuziehen. Sie brauchten etwa zehn Minuten, um es bis in die halb überdachte Kammer zu schaffen, in der die Beine des Ungetüms mündeten. Sie schreckten ein einsames Taubenpaar auf, das sich hierhin verzogen hatte, ansonsten waren sie allein.
Talmo glitt mit den Fingern über allerlei mechanische Armaturen, Hebel und Halterungen, die eine Art Balustrade um die Kammer bildeten. Alles lag unbeweglich seit Jahrhunderten da und war überzogen von einer hauchfeinen Patina aus Grünspan und Rost.
Sie blickten eine Weile schweigend hinaus auf die nächtliche Stadt, wie sie inmitten der schillernden Lagune lag. Die Seegemmen im Wasser ließen das Wasser rötlich schimmern. Es wirkte unterschwellig bedrohlich auf Glin.
»Das wolltest du mir zeigen?«, fragte Talmo schließlich. »Du weißt schon, dass ich auf diesem Turm schon herumgeklettert bin, als du in Abaste gerade deine ersten Worte brabbeln konntest, oder?«
»Schon klar«, wiegelte Glin ab und nahm seinen Rucksack vom Rücken. »Was glaubst du denn, was ich hier extra für dich hochgeschleppt habe? Etwas Schrott, den wir besoffen und lachend in den Kanal werfen können?«
»Besoffen klingt zumindest nach einem guten Plan.«
»Es gibt bessere Dinge.«
»Das darfst du nicht Falk erzählen.«
»Deshalb ist der ja auch nicht hier.«
Sie mussten beide grinsen.
Dann holte Glin ein Kleidungsstück hervor. Auf den ersten Blick wirkte es wie eine Jacke aus Drahtgeflecht, Streben und Zahnrädern.
Schönheit sprang von Glins Schulter auf Talmos Jacke und setzte sich in die Brusttasche, um von dort aus zu beobachten, wie Glin seine Erfindung anzog. Es war ein etwas umständliches Prozedere, aber schließlich war Glin hineingeschlüpft und nun offenbarte sich Talmo der Sinn und Zweck des Anzugs.
»Ich nenne es die Greifenrüstung «, verkündete Glin und Talmo trat heran, um sie näher in Augenschein zu nehmen.
»Wann hast du das gemacht?«, wollte er wissen.
»Den Winter über. Immer hier und dort, wann gerade etwas Zeit war. Ich habe ein paar deiner alten Ideen eingebaut.«
Er demonstrierte Talmo, wie er eine seiner Seilwinden in den rechten Arm der Rüstung integriert hatte.
»Das Ding frisst leider ziemlich viel Öl«, meinte Glin. »Sonst quietscht es wie ein ganzes Regiment von Eunuchen. Das ist zugegebenermaßen noch eine Schwachstelle der Rüstung. Aber sonst: kleine Repetierarmbrüste, versteckte Klingen und Werkzeuge, mechanische Federn, die per Hebelwirkung die eigenen Arme stabilisieren … alles, was das Herz begehrt.«
»Ziemlich beeindruckend«, meinte Talmo. »Und das musstest du mir unbedingt hier oben zeigen? Sollte das niemand von den anderen mitbekommen?«
»Ach.« Glin winkte ab. »Sira weiß es vermutlich eh schon, weil sie immer überall herumschnüffelt. Nein, darum geht es nicht, sondern um Folgendes …«
Er legte die Arme an, zog die Ellenbogen an die Brust heran und betätigte mit dem rechten Zeigefinger einen Mechanismus. Als er die Arme wieder ausbreitete, hatte er Flughäute zwischen mehreren Streben an den Armen der Rüstung.
»Du veralberst mich«, sagte Talmo.
»Nicht so ganz«, lachte Glin, nahm Anlauf und schwang sich über die Balustrade. Talmo beugte sich mit angehaltenem Atem vor, um seinen Ziehsohn zu beobachten, der leise und sanft bis zu einem riesigen Beingelenk des Turmes glitt, dort die künstlichen Flügel wieder einfuhr und nun die Seilwinde zur Hilfe nahm, um binnen einer Minute wieder über die Armaturen des Spinnturms zu Talmo in die Kammer zu klettern.
Kaum dort angekommen, fing er sich einen kräftigen Klaps auf den Hinterkopf ein.
»Bei Din Vestros ewig unverschämtem Grinsen«, schimpfte Talmo. »Ich … ehrlich gesagt, das war ein ganz schön starkes Stück, Glin. Warum hast du nichts gesagt?«
»Danke für die Blumen«, sagte Glin und verbeugte sich spöttisch, während er sich die schmerzende Stelle am Kopf rieb. »Ich hoffe, das gute Stück erfüllt heute Nacht noch seinen ersten Zweck.«
»Heute Nacht ? Ich dachte, du wolltest mir das Teil nur zeigen, weil du ein Angeber bist.«
»Hey«, protestierte Glin. »Hat die kleine Aufmunterung funktioniert?«
»Ich bin ja schon still.«
»Pass auf«, meinte Glin, während er Talmo bei der Schulter packte und ihn sanft in Richtung Stadtpanorama drehte. Es war nach wie vor eine milde Nacht und es roch nach Meer und Salz und Rauch. Hier oben blies ein leiser Wind, der vereinzelte Möwenschreie vom Hafen zu ihnen herüberwehte. »Siehst du das Lagerhaus mit dem dreigeteilten Giebel dort?«
Talmo kniff die Augen zusammen und suchte die Hafeninsel im Südwesten ab, nickte dann aber, als er entdeckte, was Glin meinte.
»Es gibt dort einen abgesperrten Hinterhof, rückwärtig an der Ostseite gelegen. Triff mich dort unten wieder.«
Wieder aktivierte Glin die Mechanik, mit der die künstlichen Flughäute gespannt wurden.
Talmo seufzte. »Das Gleiten kannst du aber auch nur nachts machen.«
»An etwas anderes hatte ich gar nicht gedacht.«
»Woraus sind diese … Flügel eigentlich?«
»Ganz dünnes Hirschleder. War nicht einfach aufzutreiben – zumindest nicht in der Qualität.«
»Tja, unser Beruf ist eben kostspielig.«
»Also dann.« Glin ging nicht weiter darauf ein. »Wir sehen uns unten. Du weißt doch: mit einem Kuss auf die Stirn.«
Und damit stieg er über die Brüstung des gigantischen mechanischen Spinnenkonstruktes, stieß sich ab und sprang in die Tiefe.
»Und einem Gebet auf den Lippen«, murmelte Talmo und sah ihm nach.
5.
G lin fühlte sich berauscht, während er langsam durch die Nachtluft glitt. Das rührte weniger von seinem Gleitflug her – nein, es kam vielmehr daher, dass seine Erfindung funktionierte .
Woher sein Interesse an allem Mechanischen kam, wusste Glin nicht. Nur, dass es schon immer da gewesen war.
Pläne austüfteln, lange über ihnen brüten, sie von der ersten losen Idee an behutsam pflegen und gedeihen lassen – das war seine große Leidenschaft. Sowohl bei mechanischen Erfindungen als auch bei diebischen Coups. Nichts war dem Gefühl ebenbürtig, das ihn überkam, wenn ein Kalkül aufging.
Die Routen der beiden Offiziere hatte Glin sich in den vergangenen beiden Wochen eingeprägt. Auch die Tatsache, dass immer mindestens ein Offizier niederen oder mittleren Ranges bei dieser Patrouille zugegen war. Glin wollte lieber gar nicht wissen, welcher hochstrebenden Kaufmannsfamilie die Lagerhalle gehörte und was sie an Einfluss geltend gemacht hatte, dass die städtische Nachtwache hier dermaßen hochgradig besetzt war. Er vermutete, dass es sich um Waffen handelte, wusste es aber nicht genau – die Ware war samt und sonders in Kisten verstaut.
Und auch heute funktionierte alles wie ein Uhrwerk. Zwei Männer in seinem Alter nahmen exakt die Route, die Glin sich eingeprägt hatte.
Selbst die Ehrengarde des Erzherzogs hätte nicht mit einem Angriff aus der Luft gerechnet.
Als sich die beiden Soldaten nach dem leisen Rauschen hinter ihnen umdrehten, war Glin bereits unmittelbar über ihnen – der Herr der Träume tat sein Übriges. Zwar kostete es ihn einiges an körperlicher Mühe, aber noch bevor Talmo da war, hatte er die beiden Männer entkleidet, fein säuberlich verschnürt und in den schlecht einzusehenden Hinterhof geschafft. Dort schlummerten sie selig, während Glin sich der Greifenrüstung entledigte.
Als Talmo ankam, reichte Glin ihm die Hosen des Offiziers. »Hier, die stehen dir besser als mir.«
»Aha«, machte Talmo bloß, als er der beiden Schlafenden gewahr wurde.
»Noch etwas.« Glin langte in seinen Seesack, förderte etwas Glänzendes hervor und drückte es Talmo in die Hand.
»Ein Generalsabzeichen?«, wunderte der sich. »Wann hast du das gestohlen?«
»Gar nicht. Ist selbst gemacht. Aber vom Original nur im direkten Vergleich zu unterscheiden.«
Talmo pfiff anerkennend durch die Zähne. »Manchmal frage ich mich, woher du deine grenzenlose Verschlagenheit hast.«
Glin musste grinsen. »Einen Teil habe ich von dir gelernt. Den anderen von den gar nicht so ruhenden Teilen der Ruhenden Welt.«
6.
A tteo Enzo hatte seine Lektion gründlich verstanden, das hatte Glin in den vergangenen Nächten bereits gemerkt. Der Künstler hatte sich in sein Schicksal gefügt. Wenigstens einmal hatten die Herbstgänger ihn beobachten können, wie er versucht hatte, sie zu verraten. Doch es war eher ein kläglich verzweifelter Versuch gewesen, denn außer einem leicht paranoiden Verweis auf angebliche nächtliche Besucher, die im Haus alle Wächter und Angestellten betäubten aber nichts stahlen, konnte er nichts vorweisen.
Das bezahlte Wachpersonal hatte er überraschenderweise wieder auf eine Person reduziert, einen vierschrötig wirkenden gedungenen Raufbold. Diesem oblag es auch, Enzo zu wecken. Talmo und Glin baten ganz anständig um Einlass, gekleidet in ihre geliehenen Uniformen.
Kurze Zeit später tapperte ein schlaftrunkener Atteo Enzo die Treppe hinunter und rieb sich den Schlaf aus den Augen.
Glin hatte Mühe, nicht zu grinsen bei dem Gedanken, wie oft er diesen Kerl nun schon aus dem Schlaf gerissen hatte. Aber Enzo war einfach so herrlich arrogant, dass er haargenau in ihren Plan passte. Glin zog sich vorsichtshalber die Kapuze seines Umhangs etwas tiefer in die Stirn.
Gute Schauspieler sind die besten Diebe  – das war einer von Talmos Glaubenssätzen. Und Glin gab ihm recht.
Talmo straffte sich, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und nahm die Haltung eines Mannes ein, der es gewohnt ist, Befehle zu erteilen.
»Signore Enzo«, grüßte er ihn. »Ich bedaure die Unannehmlichkeiten meines Besuchs aber es ist unabdingbar, dass ich nachts zu Ihnen komme.«
»Es ist mir dennoch eine Freude … Generale.« Enzo klang unterwürfig.
Es ist ihm ganz und gar keine Freude , freute sich Glin.
»Von meinem Besuch hier darf niemand erfahren außer denen, die gerade hier sind«, fuhr Talmo fort.
»Wa- warum nicht?«, fragte Enzo.
»Ganz einfach. Ein falsches Wort zur falschen Zeit würde ein seit Langem geplantes staatliches Unterfangen gefährden.« Er zog eine kleine Geldkatze aus einer seiner Gürteltaschen und warf sie Enzos Wachmann zu, der sie verdutzt auffing. »Das gilt auch für Ihren … Söldner .« Talmo spie das Wort förmlich aus. »Sollte das Ihr Schweigen nicht gewährleisten, guter Mann, dann seien Sie gewiss: Wir finden einen anderen, bedeutend blutigeren Weg, uns Ihrer Verschwiegenheit zu vergewissern. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Der Mann nickte eifrig.
»Womit …« Enzo räusperte sich, um einem Frosch im Hals loszuwerden. »Womit habe ich denn nun die Ehre Ihres … Besuches verdient, Generale …?«
»Girane«, stellte Talmo sich vor. »Generale Girane von der Squadra Ignoto
»Die Squadra Ignoto? Die Geheimpolizei des Herzogs?«
Talmo deutete ein Nicken an, ging aber nicht weiter darauf ein. »Sie waren zuletzt öfters Opfer von spontanen nächtlichen Besuchen. Habe ich recht, Signore Enzo?«
Enzo bekam große Augen. »In der Tat, woher wissen Sie das?«
Talmo machte eine wegwerfende Bewegung mit der behandschuhten Rechten. »Sie haben versucht, sich Hilfe zu holen und sind mehrfach abgewiesen worden. Die Details kennen Sie vermutlich besser als ich, Sie sind ja schließlich dabei gewesen. Wichtig ist nur, dass wir davon wissen.«
»Das … erleichtert mich, ehrlich gesagt. So skurril sich das vielleicht anhören mag, aber ich habe schon an meinem Verstand gezweifelt.«
»Keine Sorge, das müssen Sie nicht, Signore. Wir sind um das Wohl unserer angeseheneren Bürger besorgt – auch wenn wir das in dieser Angelegenheit nicht allzu öffentlich tun können.« Talmo ließ das Gesagte einen Atemzug lang einwirken. »Sagen Sie, Signore, wie oft sind Sie zuletzt nachts belästigt worden? Nach unseren Informationen und dem, was wir beobachtet haben, kommen wir auf drei Mal – aber ich möchte nicht, dass uns etwas entgangen ist.«
»Ja, Generale, drei Mal«, meinte Enzo so erstaunt wie erleichtert. »Einmal sogar in meiner Sommerresidenz in Merazzo. Es war wirklich äußerst unangenehm.«
»Hatten Sie jemals Besuch von mehr als zwei Eindringlingen?«
Enzo verneinte. »Es waren immer nur zwei. Ein Mann und eine Frau. Erstaunlich jung … etwa im Alter Ihres … Begleiters.« Er deutete auf Glin.
»Und skrupellos waren sie, das können Sie mir glauben. Sie hatten keinen Respekt vor dem Besitz und dem Hausfrieden anderer. Sie haben mich und alle meine Wachleute jedes Mal mit einer Substanz betäubt … ich möchte gar nicht wissen, was für Zeug das war.«
»Warum hat diese Bande Sie mehrfach aufgesucht?«
»Sie … sie sagten, dass sie einen Auftrag für mich hätten. Aber genaue Instruktionen habe ich bislang nicht erhalten. Sie wollten mir lediglich demonstrieren, dass ich mich nicht weigern kann, weil es für mich unmöglich wäre, mich vor ihnen zu verstecken. Oh Generale, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wir froh ich bin, dass die Exekutive Mosmeranos hier doch noch eingreift. Ich bin unglaublich erleichtert und dankbar.«
»Das ist selbstverständlich. Hören Sie, Signore Enzo, wir möchten diese Bande fassen. Sie ist uns und unseren Kolleginnen und Kollegen aus anderen Städten schon seit Längerem ein Dorn im Auge. Sie fälschen Kunst und verkaufen sie zu exorbitanten Preisen auf dem Schwarzmarkt.«
»Sehr gut«, freute sich Enzo. »Ich helfe, wo ich kann. Ich könnte –«
Talmo hob die Hand und der Künstler brach ab. »Wir wollen gerne die gesamte Bande schnappen – auch alle Strippenzieher und Hintermänner, nicht bloß die Laufburschen.«
»Äh …«, Enzo wirkte verunsichert.
»Diese Bastarde sind leider schlüpfrig wie die Fische«, meinte Talmo. »Wir können nicht einfach nur die Vorhut schnappen, sondern müssen sie hinhalten, bis wir die Hintermänner haben.«
Enzo erblasste. »Sie meinen … ich muss das Spielchen vorerst mitspielen?«
»Wir wissen Ihren Mut zu schätzen, Signore. Organisierte Kriminalität auszurotten, ist aufwendig. Strohmänner, eingeschleuste Agenten, grenzübergreifende Operationen … es braucht leider vor allem eines: Zeit. Finanziell soll es Ihr Schaden nicht sein, wir entschädigen Sie für Ihre Mühen und ersetzen, was Sie an Material benötigen.«
Enzo wirkte unentschlossen.
Also räusperte Talmo sich. »Wir … uns ist zu Ohren gekommen, dass Sie sich seit einiger Zeit darum bemühen, Grund und Boden auf der Insel unter den Fittichen zu erwerben.«
Glin bemerkte, wie von einem Wimpernschlag zum nächsten Gier in Enzos Züge trat.
»Es wäre uns möglich«, fuhr Talmo langsam fort, »Ihren Bemühungen ein wenig unter die Arme zu greifen.«
»Die Insel unter den Fittichen?«, echote Enzo leise.
»Nun, sicherlich wird es kein Grundstück im Zentrum an einem der Parks sein. Sie ahnen sicher, dass ich bei Grund und Boden einen diplomatischen Drahtseilakt mit dem niederen Adel nicht überstrapazieren kann … aber bei einem der am Rand gelegenen Grundstücke ließe sich sicherlich etwas machen.«
Enzo seufzte, als würde er ein schweres Opfer erbringen. »Dieses Angebot ist wirklich großzügig, Generale. Es wird mir eine Ehre sein, meinen Bürgerpflichten nachzukommen.«
Talmo nickte. »Das freut mich zu hören, Signore. Ich hatte darauf gesetzt – immerhin haben Sie einen außerordentlichen Ruf. Ihre Kopien im Museum …« Er hielt inne. »Nein, jetzt werde ich unprofessionell, Signore. Der Bewunderer in mir muss in diesem Fall Zurückhaltung wahren.«
Der gebauchpinselte Enzo konnte sich nur mit sichtlich großer Mühe das zufriedene Grinsen verkneifen.
Genau wie Glin.
»Ich signiere Ihnen gerne etwas, Generale«, gab sich Enzo gönnerhaft.
»Oh.« Talmo kratzte sich am Kopf. »Ich … das ist großzügig, Signore. Ich komme darauf gerne zurück – jedoch erst wenn unsere Operation beendet ist. So lange muss ich Ihnen zunächst einmal eine geruhsame Nacht wünschen.«
»Ich werde wirklich viel besser schlafen«, lachte Enzo.
»In Ordnung. Das ist gut. Noch etwas: Wenn Sie meine Abteilung kontaktieren wollen, Signore Enzo, dann hängen Sie jeweils zwei weiße Wimpel an die Ecken Ihres Balkons. Es reichen auch Fetzen eines zerrissenen Tuches oder etwas in der Art. Sehen Sie nur zu, dass es nicht allzu auffällig ist. Jemand von meinen Leuten wird sich dann binnen eines Tages mit Ihnen in Verbindung setzen.«
»Ich danke Ihnen aufrichtig, Generale.«
»Danken Sie mir nicht, Signore. Wir haben zu danken. Dank Ihrer Bereitschaft zur Zusammenarbeit sind wir diesen Kunstfälschern seit Jahren endlich einmal einen Schritt voraus.«
7.
Z urück hinter der Lagerhalle wartete der mit Abstand mühsamste Teil der Nacht auf sie: Sie mussten die beiden schlafenden Soldaten wieder anziehen.
»Warum müssen wir das noch gleich tun?«, ächzte Talmo, während er einem der beiden Unglücklichen seine gestärkten Hosen überzog. »Die werden doch ohnehin Fragen stellen, wenn sie später wieder aufwachen.«
»Es geht aber darum, dass sie die falschen Fragen stellen«, erläuterte Glin und schnaufte, als sich das Handgelenk seines Soldaten im Ärmel verhedderte und er von vorn beginnen musste. »Was auch immer die hier bewachen … es wird am Ende der Nacht hoffentlich nicht gestohlen sein. Dann wird ihnen dieses ungewollte Nickerchen vermutlich höchst peinlich sein und sie werden den Vorfall unter den Tisch fallen lassen. Wenn sie es trotzdem melden, wird man ihnen wohl eine saftige Strafe aufbrummen – warum sollten sie also so dumm sein? Sollte tatsächlich etwas gestohlen worden sein, bekommen die beiden ohnehin ganz andere Probleme. Wenn wir ihnen die Uniformen allerdings nur fein säuberlich gefaltet hinlegen und im Lagerhaus außerdem nichts fehlt, könnte irgendjemand auf die Idee kommen, dass das Ausborgen der Uniformen das eigentliche Ziel der Aktion gewesen ist. Du siehst, es ist zwar ziemlich umständlich, aber es hilft nichts: Wir müssen sie wieder ankleiden.«
»Du bist cleverer, als gut für dich ist, Glin Melisma«, brummte Talmo und quetschte den Hintern seines Wachsoldaten in die enge Hose.
»Schön, dass sich deine Laune wenigstens etwas gebessert hat«, resümierte Glin, als sie sich auf den Rückweg machten.
»Ein wenig tatsächlich.« Talmo musste lächeln.
»Aber es beschäftigt dich, oder?«
Talmo nickte. »Ja. Dinge aus meiner Vergangenheit, von denen ich dachte, ich wäre sie los.«
»Du könntest aufhören, allzu geheimnisvoll zu tun, und mir endlich einmal erzählen, was dich bewegt. Du könntest auch überhaupt mal das dämliche Schweigen brechen und aus der Vergangenheit erzählen. Vom Theater, von den Anfängen, von der Zeit davor …«
»Das ist viel.«
»Wir haben Zeit.«
»Das würde ich auch gerne glauben.«
»Versuch es einfach. Am besten gleich! Fang mit etwas an, das weniger belastend ist als deine Geschichte mit Aurinius. Fang mit dem Theater an. Zum Beispiel indem Du mir erzählst, was es mit der Libelle auf sich hat.«
Talmo seufzte.
Und verfiel zunächst wieder in Schweigen.
Doch schließlich überwand er sich.
Und begann.