9. Kapitel
Das Gemälde, das es nicht gibt
1.
G ut.« Glin klatschte voller Tatendrang in die Hände und stand von seinem Stuhl auf. Die Übrigen schauten eher müde und zerknirscht drein. Vor ihnen stand ein verhältnismäßig üppiges Frühstück aus diversen Brot- und Käsesorten, dazu Obst. Außerdem feiner Kaffee, der in der Nähe von Tal Schadod in Abitreija angebaut wurde.
Zwischen all dem stolzierte Schönheit umher. Glin hatte die schlaflose Nacht mit Gedankenspielchen verbracht, die sich um Magier und Nichtmagier drehten. Dann war er früh aufgebrochen, um Frühstück einzukaufen. »Die erste Stufe unseres Vorhabens haben wir erklommen.«
»Kannst du nicht warten, bis wir einen Schluck Kaffee getrunken haben?«, murrte Falk und legte die Laute weg, auf der er gedankenverloren herumgeklimpert hatte. »Wir sind müde.«
»Ich habe jede Menge Kaffee getrunken. Die ganze Nacht über.« Glin lief weiter vor ihnen auf und ab.
»Du siehst auch noch beschissener aus, als ich mich fühle«, konterte Falk und Glin war nur zu bewusst, dass das stimmte. Dass er sich so aufgedreht fühlte, war auf Pump gekauft – aber die Energie musste er nutzen, solange sie da war.
»Wir haben ein sicheres Quartier, können uns halbwegs frei bewegen und verfügen über die meisten unserer heiß geliebten Spielzeuge: Kostüme, Perücken, Schminke, Werkzeug, Waffen …«
»Und Kaffee«, stöhnte Falk und schenkte sich nach.
»Ich werde heute zwei wichtige Besuche vornehmen«, meinte Glin. »Und währenddessen möchte ich euch darum bitten, euch umzuhören.«
»Uns umzuhören?« Yrrein sah ratlos drein.
»Genau. Ich möchte wissen, was an Gerüchten über Aurinius von Veelyn in der Stadt kursiert. Ob es überhaupt etwas gibt. Niemand kann derart großkotzig auftreten, ohne dass er Spuren hinterlässt. Ich vermute, dass er in irgendeiner Form im Palast des Erzherzogs tätig ist. Er hat Andeutungen gemacht.«
»Er sitzt also mitten im Zentrum der Macht?«, hakte Madeire nach. »Klingt unantastbar.«
Doch Glin verneinte. »So unantastbar kann er nicht sein, sonst bräuchte er niemanden, der ihm Borgessas Tresor knackt. Ich möchte, dass du dich auf der Insel der Speichellecker umhörst. Zieh dich teuer, aber praktisch an, nimm von dem Geld, das wir noch haben, genug mit. Spiel eine weltgewandte Kauffrau, die auf eine Warenlieferung und eine Passage ins Imperium wartet. Geh ins Museum, in die Galerien und Kaffeehäuser und wirf mit verführerischen Blicken um dich. Ich bin sicher, früher oder später wirst du mit irgendjemandem ins Gespräch kommen, der etwas aufgeschnappt hat.«
Madeire nickte und schlürfte an ihrem Kaffeetässchen.
»Gut«, meinte Glin erneut. »Yrrein, ich möchte dich bitten, dich ebenfalls halbwegs vorzeigbar zurechtzumachen und dich in den Parks der Grünen Insel herumzutreiben.«
»Bin ich sonst nicht so vorzeigbar?«, foppte sie.
Glin setzte ein schiefes Lächeln auf. »Sieh zu, dass man dich für eine Kaufmannstochter oder etwas Ähnliches halten könnte. Und zieh dir unbedingt eine Perücke über. Wenn du in den Parks kein Glück hast, versuchst du es bei den Stadtherolden. Mach einem unschuldigen Trottel dort schöne Augen und erzähl, du wolltest immer schon mal wissen, wie das Sammeln und Verbreiten von Nachrichten für die Bürger so effizient funktionieren kann.«
»Ah, die Damen dürfen sich zurechtmachen«, meinte Falk. »Mich schickt er vermutlich zu den Gerbern oder zu den Totengräbern oder dergleichen.«
Glin zog die Augenbrauen hoch. »Was willst du denn da? Nein, ich möchte, dass du hier im Vorhof der Ewigkeit bleibst. Du bist ordinierter Priester des Din Vestro – du wirst genau das wieder ein bisschen mehr herauskehren und dich bei deinen ehemaligen Ordensgeschwistern umhören. Und wenn die nichts liefern, gehst du unter Vorwänden in die Tempel der anderen Götter und fragst dich durch.«
»Ich hasse die Orden«, sagte Falk. »Was meinst du, warum ich damals von denen weg bin? Das ist ein ekelhaftes Volk, das es sich unter dem Mantel der Scheinheiligkeit gutgehen lässt.«
»Ich bitte dich einfach darum«, sagte Glin.
»Ich mach es ja. Bin ich Talmo schließlich schuldig«, murmelte Falk. »Aber fast lieber wäre ich zu den Gerbern gegangen. Der Gestank ist wenigstens offensichtlich und man muss ihn nicht erst freilegen.«
»Danke«, meinte Glin und klatschte erneut in die Hände. »Dann verschwinde ich jetzt und verrichte mein eigenes Tagwerk, bevor ich aus Versehen irgendwo hundemüde zusammenklappe.«
»Können wir uns nicht wenigstens einen halben Tag ausruhen, Glin?«, fragte Madeire vorsichtig. »Wir haben gerade Freunde und Zuhause verloren, haben seit Tagen kaum geschlafen und –«
»Nein«, unterbrach er sie. »Die Zeit ist knapp. Und nur, weil die Wohnungssuche schneller ging als erhofft, dürfen wir noch lange nicht trödeln. Es muss alles so rasch wie möglich geschehen. Aber keine Panik: Es wird noch die eine oder andere Stunde geben, in der wir uns in Geduld üben müssen. Die Frage ist, ob wir das überhaupt wollen. Ich für meinen Teil fühle mich jedes Mal beschissen, wenn ich zur Ruhe komme. Dann kommen all die Bilder wieder hoch, die ich nie wieder sehen möchte.«
Er spürte, wie betretenes Schweigen eintrat.
Dankenswerterweise unterbrach Madeire. »Wo wir gerade von Geld sprechen … Wir müssen dringend an welches kommen. Spätestens, wenn wir wieder aus dem Blütenpalast ausziehen, müssen wir Ilistra noch mal zweieinhalbtausend Steli zahlen.«
»Auch dazu werde ich mir etwas ausdenken. Und wenn ich das Geld jeden Tag auf dem Markt aus Börsen und Geldkatzen zusammenstehlen muss.« Glin wusste, dass es ein schwacher Versuch war, Optimismus zu verbreiten. Aber zumindest stellte keiner weitere Fragen.
Er ließ die anderen frühstücken und verschwand in seinem Zimmer.
Ich brauche einen zweiten Coup, um den ersten Coup zu finanzieren. Großer Mist, den die Götter uns hier eingebrockt haben.
2.
D ie Garderobe und die Requisite möglichst vollständig mitgenommen zu haben, war essenziell für alles, was sie weiter vorhatten. Die Möglichkeit, sich rein äußerlich in jemand anderes zu verwandeln, war ein unschätzbarer Vorteil in diesem tödlichen Spiel. In Windeseile war Glin in Pluderhosen geschlüpft und hatte ein Barett über eine rote Perücke gezogen.
Er schnappte sich einen Rucksack und füllte ihn mit Wechselkleidern und dem kläglichen Rest des Herrn des Schlafes. Ohne Shalimo würden sie wohl bald auf chemistische Spielereien verzichten müssen. Sie würden nicht ewig die Preise zahlen können, die schwarze Chemistiker für ihre Gemische (und ihre Verschwiegenheit) verlangten. Um das Theater zu sprengen, hatte Glin einmal auf diese Option zurückgreifen müssen. Aber er konnte sein Glück nicht unnötig strapazieren.
Es gibt überhaupt wenig, das wir strapazieren können , dachte er. Und unsere Finanzen gehören eigentlich auch schon nicht mehr dazu.
Ein neuer Wachmann öffnete ihm die Tür von Atteo Enzo. Er hatte eine Glatze, Tätowierungen erstreckten sich über seine linke Gesichtshälfte – und er war ein Pechvogel, fand Glin. Denn kaum hatte er Glin hereingebeten, lag er bereits schlafend auf dem Dielenboden.
Atteo Enzo kam die Treppe hinuntergelaufen und raufte sich bei dem Anblick seines bewusstlosen Söldners die Haare. »Warum, bei allen sieben Göttern, müssen Sie das immer wieder tun?«
Glin ging gar nicht darauf ein. »Ich habe gehört, dass Sie ein geschwätziger Mann sind, Enzo.«
Er sah einen Hauch von Unsicherheit über Enzos Gesicht huschen. Das war gut so, denn es würde den Fälscher beschäftigen. Die quälende Frage, ob er nicht doch irgendwem gegenüber eine unvorsichtige Andeutung gemacht hatte, ein Wörtchen zu viel gesagt hatte und Glin womöglich irgendwie Wind von seiner Zusammenarbeit mit der Squadra Ignoto bekommen hatte.
»Entschuldigen Sie«, stöhnte Enzo. »Ich … ich werde mich einfach nie daran gewöhnen, dass Sie meine Wachleute … umlegen.«
»Müssen Sie ja auch gar nicht«, meinte Glin. »Sobald Sie Nacht vor Tarsica fertiggestellt haben, bekommen Sie eine angemessene finanzielle Entschädigung und werden mich nie wiedersehen.«
Der Maler funkelte ihn an. »Sie glauben gar nicht, wie sehr ich das hoffe.«
»Doch, doch«, entgegnete Glin. »Genau das war ja meine Absicht: Sie sollen froh sein, mir zu Diensten zu sein, und gleichermaßen auch, mich danach wieder loszuwerden.«
Enzo verdrehte die Augen.
»Also«, sage Glin. »Wie weit ist Ihre Arbeit gediehen? Lang kann es ja nicht mehr dauern. Und ich war wirklich geduldig.«
»Sie wissen schon, dass es dem Werk abträglich ist, mich zur Eile zu drängen, oder?«
»Je schneller Sie fertig sind, desto eher sind Sie mich los und um ein paar Tausend Steli reicher.«
Die Erwähnung des Geldes tat ihre beschwichtigende Wirkung. »Ich schätze, Sie wollen sehen, wie weit das Bild gediehen ist?«
»Selbstverständlich.«
»Dann folgen Sie mir.«
Sie gingen die Treppe hinauf in Enzos Atelier, wo der Maler an drei Staffelleien parallel arbeitete. Das linke Bild zeigte die Nacht vor Tarsica . Alles, was Glin über Vonatis verschollenes Gemälde recherchiert und in Erfahrung gebracht hatte, hatte er auf Skizzen und in Beschreibungen festgehalten und Enzo ausführlich erklärt, worum es ging. Auf Glin wirkte das Gemälde fertig. Es zeigte die Klippen vor Tarsica im Gegenlicht des zerbrochenen Mondes, das einen glitzernden Teppich aus Wellen über die Bucht legte. Boote der Mondfischer tummelten sich darauf und vom Ufer zog sich die Stadt die Hänge hinauf bis zu den Palästen, die auf den Klippen hoch über das Meer ragten.
»Beeindruckend«, meinte Glin. »Es sieht im Grunde fertig aus.«
»Es muss noch den künstlichen Alterungsprozess durchlaufen. Dafür benötige ich einige Tage. Es bedarf einiger chemistischen Substanzen. Aber vor allem nehme ich Eiklar, verteile einen dünnen Film über das Gemälde und lasse es dann über Tage in der Nähe einer Hitzequelle. Üblicherweise stellt mir eine Bäckerei aus der Via Legno einen Platz oberhalb ihres Ofens zur Verfügung …«
Während Enzo in Ausführlichkeit erklärte, trat Glin näher heran und nahm die Details des Bildes in Augenschein. Vor allem aber machte er sich auf die Suche nach Signaturen – kleinen und unscheinbaren Pinselstrichen oder Schraffuren, die einen Hinweis auf den wahren Schöpfer des Bildes gaben. Glin wusste zwar in etwa, wonach er suchen musste, aber dennoch waren seine Augen alles andere als geübt.
Wenn Sira doch hier wäre.
Tatsächlich fand er selbst etwas: Im Schatten, den das Mondlicht durch das Geäst eines ufernahen Baumes warf, konnte man spiegelverkehrt Enzo lesen. Glin sah noch einmal genauer hin, um sich zu vergewissern, dass er sich nicht einfach von einigen wilden Pinselstrichen täuschen ließ. Aber Enzo arbeitete akkurat und wusste genau, was er tat – dieser Umstand hatte ihn schließlich zu dem begehrten Kunstfälscher werden lassen, der er war.
Also brauchen wir etwas mehr Dramatik hier , beschloss Glin.
Er fuhr herum, ließ ein Stilett aus dem Ärmel in seine Hand fallen und zielte mit der Spitze am ausgestreckten Arm auf den erbleichenden Enzo.
»Sie. Haben. Signaturen. Eingearbeitet«, knurrte Glin. Er betonte jedes Wort und legte ein beinahe albernes Maß an Bedrohlichkeit hinein.
»I-ich … ich wollte.« Enzo stammelte herum, war leichenblass geworden und seine Knie zitterten. »Das m-macht man halt so.«
Schwache Entschuldigung!
»Sie sollten einen Vonati malen, keinen Enzo«, fauchte Glin und machte einen schnellen Schritt auf den Künstler zu, der rückwärts über einen Schemel mit Ölfarben fiel.
Glin überlegte fieberhaft, was er dem ach so schlauen Enzo antun könnte. Er war schon ein erbärmliches Häufchen, wie er sich dort auf dem Fußboden beschmiert und wimmernd auf die Ellenbogen stemmte.
»Hoch mit Ihnen!«, befahl er. Der Schrecken, den er Enzo durch seinen Zornesausbruch eingejagt hatte, musste fürs Erste genügen.
Ängstlich rappelte der Maler sich hoch.
»Folgendes wird jetzt passieren«, erörterte Glin. »Sie werden alle Signaturen von diesem Gemälde entfernen. Alles, was auch nur im Ansatz verraten könnte, dass das Bild nicht von Vonati selbst stammt.«
Enzo nickte.
»Gut«, meinte Glin. »Das und diesen künstlichen Alterungsprozess – wie lange benötigen Sie dafür, wenn Sie sich beeilen?«
Enzo überlegte kurz. »Ich benötige fünf Tage, besser eine Woche.«
Von Shalimo wusste Glin, dass das Verfahren nicht ganz so lange brauchte – und wenn seine neue Idee zündete, war es auch nicht mehr ganz so wichtig. »Ich gebe Ihnen drei Tage.«
»Drei?«, japste Enzo.
Glin ging nicht weiter darauf ein. »In vier Tagen werde ich das Gemälde abholen und Sie bezahlen. Sorgen Sie dafür, dass es bis dahin fertig ist.«
Ohne dem Kunstfälscher ein weiteres Wort zu gönnen, verschwand er die Treppe hinunter und war auf der Straße. Enzo würde Wimpel aushängen, um Kontakt zu den angeblichen Agenten aufzunehmen – eine Sache, die in diesem Fall Falk würde erledigen müssen. Wichtig war nur, dass der Maler sich in Sicherheit wiegte.
3.
G lin entfernte sich rasch von Enzos Haus, bog ab, durchquerte verschiedene fensterlose Gassen, zog die zweite von drei verschiedenen Jacken aus seinem Rucksack an und nahm wie so oft einen anderen Weg zurück, als er gekommen war.
Diesmal wählte er eine Route, die ihn über den Amboss führte und zur Piazza der würfelnden Götter.
Das Dickicht aus Buden und Zelten wurde kurz vor Beginn des Unabhängigkeitsfestes immer dichter. Vor Kurzem noch war das Mechanische Theater eine Landmarke auf der weitläufigen Piazza gewesen. Jetzt zeichnete es sich nicht länger vor dem übrigen Gewirr des Jahrmarkts ab, ehe man sich nicht auf einen Steinwurf genähert hatte. Dann jedoch spürte Glin, wie es ihm die Kehle zuschnürte. Was der schwarze Chemistiker ihnen bei der Herstellung seiner speziellen Mixtur versprochen hatte, hatte sich mehr als erfüllt.
Wo vor drei Tagen noch eine Wagenburg mit allerlei Aufbauten trutzig gestanden hatte, war nur ein Trümmerfeld geblieben. Alles, was aus Holz gewesen war, war zu schwarzer und grauer Asche zerfallen. Dazwischen ragten die verformten Reste von Metall heraus – Achsen, Geländer, Hebevorrichtungen.
Glin schluckte gegen die zugeschnürte Kehle an.
»Bei allen sieben verdammten Göttern«, hauchte er leise. Welchen Schatz an Erinnerungen und Träumen habe ich hier quasi mit einem Fingerschnipsen ausgelöscht?
Beinahe zwanzig Jahre hatte es die Herbstgänger gegeben. Sie hatten so vieles erlebt, bezwungen, überstanden … dann kam ein einzelner rothaariger Schatten aus Talmos Vergangenheit daher – und binnen eines Augenblicks war alles fort. Als wäre ein plötzlicher Windstoß gekommen und hätte ein Kartenhaus vom Tisch gefegt.
»Was ist denn dort vorgefallen?«, wandte Glin sich an den schmerbäuchigen Besitzer eines Standes für Zimtliköre und Heidelbeerbrände.
»Das war ein Radau, sag ich Ihnen«, sagte der Spirituosenhändler, der gerade versuchte, das Schild über seinem Stand halbwegs waagerecht auszurichten. Seinem harten Akzent war zu entnehmen, dass er aus dem Norden der Thronländer kam. »Das Ding ist mitten in der Nacht einfach in die Luft gegangen und zu Asche verbrannt. Das muss man über die halbe Stadt gehört haben, bis zum Hafen oder zum Markt mindestens. Sehr merkwürdig … als ob jemand gewollt hätte, dass nur dieses Theater abbrennt. Alles andere wurde verschont, den Göttern sei Dank.«
»Ein Theater also?«
»Das waren schräge Vögel, die dort gelebt haben. Aber begabt. Bei jeder Aufführung haben die ein volles Haus gehabt. Komisches Ding, dieses Theater – man konnte es zusammenfalten oder so, damit es auf wenige Wagen gepasst hat. Fragen Sie nicht, wie die das gemacht haben. Mit irgendjemandem müssen die es sich auch mächtig verscherzt haben.«
»Wieso? Glauben Sie, es war ein Anschlag?«
»Ein so punktgenaues Feuer, das nur dieses Ding abfackelt? Und dann noch in dieser Geschwindigkeit?« Der Mann beugte sich von seiner Trittleiter vor und zu Glin herunter. »Ich wette, da hat jemand ein Menge Geld für finstere Chemistik auf den Tisch gelegt, damit das alles genau so vor sich ging.«
»Verrückt«, raunte Glin. »Sind die … Schauspieler dabei ums Leben gekommen?«
»Schwer zu sagen.« Der Spirituosenhändler kratzte sich am Schnauzbart. »Das war so heiß, dass buchstäblich alles zu Asche verbrannt ist – schauen Sie doch.«
Glin folgte dem ausgestreckten Arm des Mannes pflichtbewusst mit den Blicken, aber er hatte eigentlich schon genug gesehen – zu Asche gewordene Träume.
»Also entweder sind die bei lebendigem Leib verbrannt«, folgerte der Schnauzbart. »Oder sie waren gewarnt und sind bereits vorher über alle Berge gewesen. Zurückgekommen ist zumindest keiner. Aber an deren Stelle würde ich mich hier auch nicht mehr blicken lassen.«
»Warum nicht? Ich würde doch wenigstens nachsehen, ob irgendetwas vom meinem Hab und Gut die Flammen überstanden hat.«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Also wenn es jemand, der so einen gezielten Anschlag verüben kann, auf mich abgesehen hätte … ich wäre vermutlich schon weit auf der Straße nach Thyriss. Selbst wenn die Göttin Evisandre sich höchstpersönlich splitternackt in der Mitte dieses Aschehaufens nur für mich räkeln würde – nichts würde mich hierher zurücktreiben.«
Glin nickte. »Das sind beunruhigende Dinge, die Sie da erzählen.«
»Ich hoffe nur, es vertreibt nicht die Kundschaft. Die Stadt ist zu diesem Unabhängigkeitsfest immer ein Tollhaus aber von so etwas werden vielleicht auch die Mosmerani vorsichtig.«
»Aber wenn es doch gezielt um diese Schauspielertruppe ging, dann hat doch niemand sonst etwas zu befürchten. Warum sollte Ihnen dann die Kundschaft wegbleiben?«
»Ach Junge, wissen Sie«, seufzte der Mann, »Menschen sind verrückt. Vieh läuft weg, wenn es laut knallt – aber Menschen? Die kommen erst neugierig gucken und dann bekommen einige Schiss, obwohl gar nichts mehr passieren kann, andere werden panisch, wieder andere todesmutig und noch andere würden ihr letztes Hemd verkaufen, nur damit sie sich das Maul zerreißen können. Aber alles in allem kann niemand vorhersehen, wie eine Horde Menschen reagiert. Ihr Wort in Marcators Ohr, Junge. Ich hoffe, Sie haben recht. Das Trinken verlernen die Menschen jedenfalls nicht – entweder wollen sie feiern oder sie wollen etwas vergessen.«
»Ich wünsche Ihnen auf jeden Fall viel Glück!«
Damit verabschiedete sich Glin und schlich durch den im Aufbau begriffenen Jahrmarkt davon. Nahe dem Ostufer der Insel gab es einige provisorische Mietställe für die Dauer des Jahrmarktes. Viele Tiere, wenige Menschen – ein idealer Ort, um in eine weitere Verkleidung zu schlüpfen. Doch gerade, als er seinen Rucksack an der Rückwand einer Baracke abgelegt hatte, fühlte er eine Hand auf der Schulter.
Das Stilett glitt aus seinem Ärmel und er wirbelte herum – doch die Klinge flog ihm aus der Hand und landete mehrere Schritte weiter zwischen Pferdeäpfeln.
Glin fand sich nur wenige Fingerbreit von einem widerwärtig vertrauten Gesicht wieder – unter einer Kapuze, doch von feuerrotem Haar gerahmt.
»Glin Melisma«, imitierte Aurinius zischend eine höfliche Begrüßung. Glin spürte die Hand des Magiers an seinem Kragen und wie er gegen die Wand gedrückt wurde. »Ich habe mich schon gefragt, wann Sie hier auftauchen. Immerhin haben Sie hier dem Vernehmen nach ein respektables kleines Feuerwerk abgebrannt.«
»Die Freude ist ganz meinerseits«, plapperte Glin. »Sie haben aber Glück, mich hier zu treffen.«
Verdammt, verdammt, verdammt!
»Quatschen Sie nicht so blöd, Glin. Sie sind sentimental, den Göttern sei Dank. Sentimentale Menschen sind berechenbar, wenn man weiß, woran ihr Herz hängt. Auch, wenn Sie sich für ach so gewitzt halten. Auf der Piazza zu warten, bis ein schlaksiger Kerl mit federndem Gang auftaucht, war nicht schwer – Perücken und bunte Jacken blenden einen nur dann, wenn man nicht weiß, wonach man Ausschau halten muss.«
Glin fühlte sich überrumpelt. Und er hasste dieses Gefühl.
»Erwischt«, las Aurinius offenbar in Glins Gesicht. »Sie haben Talmo Melismas Lebenswerk in nur einer Nacht niedergebrannt – fühlt sich vermutlich echt beschissen an.«
»Sie wiederum haben Talmo Melisma zerstört. Der darf jetzt ein paar Dinge mit der Todesgöttin Illismea aushandeln und schert sich gerade einen Dreck um sein Theater.«
Da ließ Aurinius plötzlich ab und wich einen Schritt zurück, als hätte er sich die Fingerspitzen an Glin verbrannt.
»Er hat es also nicht überlebt«, murmelte der Magier. Ob Bedauern darin lag, konnte Glin schwer einordnen.
Glin rückte sein Hemd zurecht. »Herzlichen Glückwunsch, Sie haben ihn zu Tode gefoltert.«
Doch Aurinius winkte ab. »Sie wissen doch gar nicht, worum es geht.«
»Erklären Sie es mir!«
»Bestimmt nicht. Was Sie wissen müssen, das wissen Sie bereits.«
»Würde ich anders sehen.«
Aurinius hob die Schultern. »Das ist Ihr Problem, nicht meines. Aber mir stinkt es, wenn ich nicht weiß, wo ich Sie auftreiben kann. In Ihrem Mechanischen Theater wohnen Sie ja ganz offensichtlich nicht mehr.«
»Das war einfach zu unpraktisch, wissen Sie.«
Der Magier fixierte ihn mit seinen goldenen Pupillen. »Wo sind Sie untergekommen, Glin?«
Glin musste auflachen. »Es ärgert Sie tatsächlich, dass Sie das nicht wissen, oder?«
»Ich hatte Ihnen doch erklärt, dass ich Ihnen die einzelnen Finger Ihres jüngsten Ensemble-Mitglieds zukommen lassen werde.«
»Werden Sie nicht.«
Aurinius hob erstaunt eine Augenbraue an. »Nicht?«
»Solange Sie nicht wissen, wo ich bin, können Sie mir auch nichts zukommen lassen.«
Der Magier ließ den Kopf sinken, als ob er des Diskutierens müde wäre. »Ich betone es noch einmal, Glin: Unterschätzen Sie mich niemals! Schwören Sie von mir aus bittere Rache, verfluchen Sie mich oder was immer Sie auch wollen. Aber halten Sie mich nicht zum Narren! Ich finde ohnehin heraus, wohin Sie sich verzogen haben – es dauert vielleicht ein, zwei Tage länger. Sie sind sentimental, deshalb werden Sie nicht zulassen, dass ich Ihnen gleich die ganze Hand oder einen Fuß Ihrer kleinen Artistin liefern lasse, wenn ich dann endlich herausgefunden habe, wo Sie sich aufhalten. Das flinke Klettern der Kleinen wird dann wohl für immer Geschichte sein.« Jegliche Süffisanz war aus dem Blick des Magiers verschwunden. »Ich verfüge über beste Beziehungen in dieser Stadt. Ich habe Ihre Freundin in meiner Gewalt. Ich weiß viel mehr über Sie, als Sie sich ausmalen können, Glin Melisma – und nein, das habe ich nicht aus Talmo herausgefoltert. Ich weiß, woher Sie stammen, wo sie groß geworden sind und warum Sie besessen von allem sind, was mit Zahnrädern und Federn zu tun hat.«
Er zeichnete mit dem Finger ein Symbol in die Luft und das Stilett erhob sich, schoss durch die Luft auf Glin zu und nagelte dessen Ärmel an die Barackenwand. »Und außerdem verfüge ich ganz schlicht und ergreifend über sehr viel mehr Macht und Willen zu Gewalttaten als Sie. Ich frage Sie also ein letztes Mal: Wenn es mich aus irgendeiner verrückten Laune heraus das nächste Mal nach Ihrer Gesellschaft verlangt und ich nicht stundenlang an der Ruine eines ehemals fahrenden Theaters warten will – wo suche ich Sie dann auf?«
4.
I ch habe einen Fehler gemacht«, schloss Glin seinen Bericht von der Begegnung mit Aurinius.
»Du machst nie Fehler«, stellte Yrrein fest.
Sie saßen an dem großen Mahagonitisch im Esszimmer der Wohnung über dem Blütenpalast. Das Licht des frühen Abends fiel schwer und honiggelb durch die hohen Fenster und spiegelte sich im Karomuster des Marmorbodens. Schönheit hatte sich auf Glins Schulter gesetzt und schmiegte sich an seinen Hals.
Ich habe es verbockt. Ich wollte Aurinius einen Schritt voraus sein – den Magier mit der Suche nach uns beschäftigen, um Zeit zu gewinnen.
»Glin«, sagte Yrrein und nahm seine Hand. Zum zweiten Mal seit gestern Nacht. »Hör auf, dir Vorwürfe zu machen, verdammt noch mal.«
Falk kam aus der Küche und stellte einen großen Becher dampfenden Kräutertee mit Kiefernhonig direkt vor Glins Nase ab.
»Weißt du noch, was Talmo in einer solchen Situation immer gesagt hat?«
Glin zwang seinen Blick zu ihm hoch. »Wer nicht träumt, der hat nicht gelebt?«, zitierte er eine von Talmos Lebensweisheiten.
»Nein, du kleiner Blödmann.« Falk gab ihm einen Klapps auf den Hinterkopf. »Hör auf, dich selbst zu bemitleiden. Dann läuft es halt mal nicht ganz so, wie du dir ausgedacht hast. Es läuft doch eh schon alles mies, da fällt das auch nicht mehr ins Gewicht. Bei den Göttern, wie schlimm kann es sein, dass Aurinius weiß, wo wir wohnen? Dann lenken wir ihn halt mit etwas anderem ab. Was hat Talmo zu so etwas immer gesagt?«
Glin seufzte. »Wenn jemand Angst hat, dass du ihn mit der rechten Hand austricksen könntest, dann zeig sie vor – und trickse ihn mit der linken aus.«
»Korrekt«, meinte Falk. »Soll der Magier sich doch zwanghaft dafür interessieren, wo wir hausen. Wichtig ist ja erstmal, dass wir hier nicht so sehr auf dem Präsentierteller sitzen wie auf dem Jahrmarkt. Wir können uns freier bewegen und müssen nicht auf unser Hab und Gut achtgeben – es ist ja kaum noch was davon übrig.«
Glin lächelte schief. »Das Beste aus der Situation machen … ich habe schon verstanden.«
»Etwas anderes bleibt uns ohnehin nicht übrig, oder?«
Die Wohnungstür schlug hörbar zu und wenige Atemzüge später stiefelte Madeire in die Küche und schlug die Kapuze eines hellen Mantels zurück. Ihr Gesicht darunter war verschwitzt, die aufgetragene Schminke zerlaufen.
»Spätestens als ich den Vorhof der Ewigkeit betreten habe, dachte ich, ich müsste mich gleich an eine Straßenecke setzen und einfach schwitzend sterben«, hechelte sie.
»Zu dumm, dass du in diesem aufgetakelten Zustand keine Wechselkleidung mitnehmen kannst«, säuselte Yrrein.
»Sehr witzig, junge Dame.« Madeire verdrehte sich, um an sich hinunterzuschauen. »Bin ich kleiner geworden? An irgendeiner Stelle vom Schweiß eingelaufen? Ich fühle mich nämlich so.«
»Diese Diva«, stöhnte Falk und tippte sich an die Schläfe. »Vielleicht ist tatsächlich etwas eingelaufen …«
»Lass mich.« Madeire zwinkerte ihm zu. »Ich habe einige brauchbare Informationen.«
Glin schnellte von seinem Stuhl hoch. »Wie bitte?«
»Ich habe heute mit einem sehr netten Herren vorzüglich zu Mittag gegessen. Dass ich mich als Kauffrau gab, war ziemlich erfolgreich. Ich habe erwähnt, dass ich gehört hätte, ein gewisser Aurinius von Veelyn hielte sich in der Stadt auf und dass ich ihn gerne treffen würde, um ihm ein Geschäft vorzuschlagen. Meine Begleitung hat mir die weitere Fragerei fast automatisch abgenommen und wollte wissen, ob ich den eigenartigen Kerl meinen würde, der barfuß und mit knallroten Haaren herumlaufen würde. Und später war ich dann im Museum und bin bis zu diesem Kurator namens Cossa durchgedrungen, den ihr mir beschrieben habt. Und jetzt haltet euch fest …«
Es war Madeire anzusehen, wie sehr sie die aufgebaute Spannung genoss.
»Aurinius von Veelyn zählt seit einigen Wochen zum persönlichen Beraterstab von Großherzog Irico Borgessa.«
»Ist nicht wahr«, platzte es aus Glin heraus. Auch wenn er Aurinius für das hasste, was er tat, wurde Glin langsam echt neugierig, wer der Magier eigentlich war. Woher der Einfluss? Woher die Macht? Warum hatten sie dann noch nie von ihm gehört?
»Bei Din Vestros verdammter Maske«, meinte Falk. »Wie ist ihm das denn gelungen?«
»Das weiß ich nicht. Aber Aurinius muss quasi aus dem Nichts aufgetaucht sein. Cossa betonte mehrfach seine eigenen guten Freundschaften mit zwei der sechs höchsten Richter. Außerdem, dass er sich mit Borgessas Ministerstab mehr oder weniger duzen würde. Und alle hätten sich bereits den Mund darüber fusselig geredet.«
»Das mit den Richtern ist interessant«, sinnierte Glin.
»Warum?«, wollte Yrrein wissen.
»Ganz einfach. Laut Verfassung von Mosmerano ist der Rat der sechs Richter das einzige Gremium, das ein Veto gegen Erlasse des Erzherzogs einlegen kann. Sie werden von der Versammlung der Conti gewählt, die auch den Erzherzog selbst wählen.«
»Praktisch kann der Erzherzog trotzdem fast immer als Tyrann herrschen«, ergänzte Falk.
»Denn wenn genug Geld aus den Einnahmen des Palastes in die Taschen der Richter fließt …«
»… dann würden sie sich selbst schaden, wendeten sie sich gegen den Erzherzog«, beendete Yrrein den Satz. »Aber warum ist das jetzt ausgerechnet für uns gut?«
»Das ist ganz und gar nicht gut«, erklärte Glin. »Aber es sorgt dafür, dass ich Cossa glaube. Denn wenn schon die Richter in Aurinius einen einflussreichen Emporkömmling sehen, dann steht zu vermuten, dass er bei Erzherzog Borgessa möglicherweise wirklich etwas zu melden hat. Vielleicht ist er ein alter Bekannter oder gar Freund des Erzherzogs. Das macht es fast unmöglich, ihn irgendwie zu diskreditieren.«
»Kurator Cossa hat sogar die Schakale erwähnt«, sagte Madeire.
»Ja?« Glin war Feuer und Flamme. »Was hat er gesagt?«
»Ich glaube, sein Interesse war eher kunsthistorischer Natur. Er hat von dieser alten, religiösen Kriegerkaste von Jaerhella geschwärmt wie von einer archäologischen Ausgrabung. Er hat sie korrekt beschrieben. Schakalmasken, fließend geschnittene Uniformen, die manche Bewegungen schwer durchschaubar machen …«
»Hm«, machte Glin. »Den Schakalen haftet schon etwas Legendäres an. Wir leben in friedlichen Zeiten. Außerhalb von Jaerhella bekommt man sie so gut wie nie zu sehen. Konnte Cossa sagen, wie viele es sind?«
Madeire schüttelte den Kopf. »Er sprach von zwei Leibwachen. Aber du sagst, du hast mindestens noch einen dritten gesehen.«
»Ja, zwei haben mich und Aurinius durch das Marktviertel eskortiert und ein dritter wartete am Boot.«
Yrrein meldete sich. »Weiß jemand, wie teuer die Dienste der Schakale sind?«
Glin sah sie an. »Das ist eine gute Frage. Ich dachte, du warst diejenige, die in Jaerhella gelebt hat?«
Doch Yrrein schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur, dass sie in Soldatenkreisen bekannt sind. Aber das trägt eher sagenhafte Züge. So wie zum Beispiel Amantis’ persönliche Leibgarde, die Schildleute von Mavree , die Smaragdlegion oder andere legendäre Regimenter in der Geschichte. Allerdings haben sie niemandem Loyalität geschworen – es heißt, sie würden im Notfall zwar die Stadt Jaerhella verteidigen, sich aber unter kein anderes Kommando stellen als ihr eigenes. Wenn man den Begriff Söldner in einer Enzyklopädie nachschlagen würde, könnte man die Schakale praktisch als Paradebeispiel heranziehen. Sie gehen nur Kontrakte ein, die aus ureigenen Beweggründen interessant für sie sind – vor allem finanziell. Ich habe nie davon gehört, dass sie politische Ziele verfolgen.«
»Die sind ja richtig sympathisch«, stöhnte Glin. »Im Grunde die perfekten Söldner. Effektiv und loyal. Aurinius hat also offenbar so viel Geld, Macht und Einfluss, dass man eigentlich den ganzen Tag lang kotzen möchte.«
»Treffsichere Analyse«, komplimentierte Falk nüchtern.
»Also gut«, meinte Glin und stand auf. »Danke, Madeire. Das gleicht mein Versagen zwar nicht aus – aber es gibt mir einige neue Spielsteine, wenn auch nicht besonders schöne. Ich versuche sie zu irgendeinem sinnvollen Zug zu ordnen.«
Damit verließ er das Esszimmer – hinter ihm setzte Madeire sich zu Yrrein und Falk an den Tisch.
»Was ist denn los mit ihm?«, hörte er sie noch fragen, bevor er in seinem Balkonzimmer war und die Tür hinter sich zugemacht hatte.
5.
G lin hatte sich auf sein Bett geworfen und starrte an die mit Stuck verzierte Decke.
Er sehnte sich nach einem schönen kühlen Herbstregen vor seinem Fenster – das hätte ihm geholfen, zu entspannen und klarere Gedanken zu fassen.
Um sich abzulenken, nahm er schließlich die Schatulle in die Hand und probierte mit einem Dietrich daran herum. Sie war perfekt gearbeitet. Es gab keine Chance, einen Hebel anzusetzen. Also musste er das mechanische Rätselspielchen wohl oder übel mitspielen, das Talmo sich hier ausgedacht hatte. Glin schob den Dietrich ins Schlüsselloch und bewegte einen der Stifte, woraufhin sich eine der Seitenwände verschieben ließ. Je nachdem, mit wie vielen und mit welchen Stiften im Schloss man das tat, konnte man die Seitenwände der Schatulle jeweils ein wenig in verschiedene Richtungen bewegen – was wiederum dazu führte, dass die Stifte im Schloss nun andere Bewegungen der Wände erlaubten. Dermaßen raffiniert gearbeitet, konnte dieses Rätselkästchen wirklich nur an Glin adressiert sein. Niemand sonst würde es auf diese Weise probieren. Die Verlockung war einfach zu groß, es schlicht wie eine Nuss aufzubrechen.
Doch das komplizierte Rätselkästchen bot ein gutes Mittel, um die eigenen Finger zu beschäftigen, während Glin seinen Gedanken nachhing.
Er ärgerte sich maßlos über sich selbst. Und alles innere Beteuern, dass der ursprüngliche Fehler – oder zumindest der Ausgangspunkt ihrer Misere – wohl weit in Talmos Vergangenheit lag, machte es nicht besser.
Talmo ist nicht mehr hier. Wie kann stattdessen ich diesem Aurinius beikommen? Magische Kräfte, enorme Mittel, brillante Kontakte. Es ist zum Verzweifeln.
Alles in Glin widerstrebte dem Gedanken, sich einfach dem Willen des Magiers zu fügen. Sie hatten die verrücktesten und unwahrscheinlichsten Dinger durchgezogen in den letzten Jahren – es musste doch irgendeine Möglichkeit, irgendeinen Plan geben, um aus dieser Situation herauszukommen.
Sie hatten teure Gemälde gestohlen, Kartenturniere manipuliert, mit den Wertanteilen großer Handelshäuser Schabernack getrieben und Zigtausende eingestrichen. Sie hatten einen dramatisch schlechten Bildhauer weltberühmt gemacht, sie waren in die große Wasserburg von Vesterdam eingebrochen, sie hatten renommierte Wettfahrten durch Betrug gewonnen …
Glin ging in seinem Kopf alles durch, was ihnen geglückt war. Die Pläne dahinter waren ausgeklügelt, aber meist auch ein wenig verrückt (wenn nicht gar völlig absurd) gewesen. Aber sie hatten nie gelernt zu verlieren, ohne überhaupt gespielt zu haben.
Seit Glin bei den Herbstgängern war, war nur der Einbruch bei Mizzoli und de’Vaag in Thyriss schiefgegangen. Der dafür aber richtig.
Dennoch gab es einen Unterschied: Damals waren sie selbst Schuld an ihrer Misere gewesen, die Arbo das Leben gekostet hatte. Diesmal jedoch traf keinen Beteiligten eine Schuld.
Aber einmal war immer das erste Mal.
Jetzt hatten sie verloren. Sie hatten eine volle Breitseite abbekommen, waren förmlich vorgeführt worden und Glin überlegte fieberhaft, wieso er Fehler machte. Dass sie nie lernen mussten, im großen Stile zu improvisieren, war geschenkt – es entsprach zwar den Tatsachen, durfte aber nicht als Ausrede dafür herhalten, dass alles so gekommen war, wie es nun einmal war.
Jammern hilft nicht.
Sira zu befreien (wenn man denn herausfand, wo sie war) und Aurinius davonkommen zu lassen, würde keine Garantie mit sich bringen, nie wieder von ihm zu hören.
Es war ein verdammtes Dilemma.
»Wenn jemand Angst hat, dass du ihn mit der rechten Hand austricksen könntest, dann zeig sie vor – und trickse ihn mit der linken aus.« Das war eine der Lektionen gewesen, die Talmo ihnen immer wieder vorgebetet hatte, wenn sie einen Coup planten und mit ihren Ideen in eine Sackgasse gekommen waren.
Ein anderer seiner Sprüche war gewesen: »Wenn du ein Spiel nicht gewinnen kannst, dann ändere die Regeln.«
Das klang alles so einfach, wenn man es bloß in Form von Phrasen vor sich herdrosch. Aber die Wahrheiten, die sich dahinter verbargen, waren fundamental.
Bislang hatte Glin Aurinius’ Spiel gespielt. Der Magier diktierte scheinbar die Regeln – er war viel mächtiger als die Herbstgänger, sah alle Schritte voraus, behielt die Kontrolle über das Spielbrett und hatte obendrein noch Sira in seiner Gewalt. Sie hatten versucht, sich Luft zu verschaffen, doch wenn der Gegenspieler zu viele Steine in den richtigen Positionen auf dem Brett hatte, konnte man sich höchstens von einer bedrohten Stellung zur nächsten manövrieren. Man war immer auf der Flucht. Pausenlos getrieben. Von einer Schachstellung in die nächste.
Was wäre aber, wenn die Herbstgänger einfach parallel ein zweites Spiel eröffnen würden?
Die Idee zog Glin an.
Wie eröffne ich unbemerkt eine zweite Partie nebenher?
In diesem Moment sprang der Deckel der Schatulle auf – er hatte das Rätsel offenbar gelöst, während er gegrübelt hatte.
Doch ein Blick hinein bestätigte Glins Vermutung: Es hatte sich nur der obere Teil der Schatulle geöffnet. Unter einem doppelten Boden musste noch ein zweiter Hohlraum liegen, der ungefähr zwei Drittel der Schatulle barg. In den Zwischenboden war eine in Messing gefasste, sternförmige Vertiefung eingelassen – ein weiteres Schlüsselloch, jedoch nicht für einen herkömmlichen Schlüssel.
Was Glin benötigte, musste aussehen wie ein flacher Stern.
Aber da war noch etwas: ein klein gefaltetes Stück Papier.
Glin fischte es heraus und bemerkte beim Auseinanderfalten, dass es größer war, als er zunächst angenommen hatte. Glin erkannte Talmos Schrift und begann hastig, die Zeilen zu lesen.
Mein lieber Glin,
ich halte dich für einen der begabtesten Mechanisten in der Ruhenden Welt, auch wenn Du nicht gerade die klassische Ausbildung durchlaufen hast (wenn man mal von dem einen Jahr in Thyriss absieht). Deine Fingerfertigkeit ist ein Phänomen, ansonsten hättest Du das Kästchen niemals aufbekommen und könntest dieses Schreiben gar nicht lesen. Kein anderer, den ich kenne, stellt so ideenreiche Mechaniken her, begeht so leichtfüßig einen Taschendiebstahl oder betrügt so hingebungsvoll beim Kartenspiel.
Umso reizvoller ist es für mich als Ziehvater (und Lehrer), noch einmal mein eigenes Können an Dir zu testen. Dass diese Schatulle ein zweites Fach enthält, ist Dir sicherlich schon aufgefallen, bevor Du dieses Papier hier auch nur eines Blickes gewürdigt hast. Dieses zweite Fach zu öffnen, dürfte Dir allerdings unmöglich sein, wenn Du nicht den richtigen Schlüssel dafür besitzt. Für den Fall, dass jemand es gewaltsam probieren sollte, habe ich einige sehr zerbrechliche Phiolen eingearbeitet. Sie enthalten eine Säure, die Shalimo liebevoll Gefräßiges Wasser genannt hat. Wendest Du Gewalt an, zerbrechen die Phiolen und die Säure zerfrisst augenblicklich Holz, Metall, Leder und Papier. Der Inhalt des zweiten Fachs wäre vernichtet. Aber ich gehe ohnehin davon aus, dass Dein Stolz und Deine Ehre als Mechanist Dich davon abhalten werden, es gewaltsam zu versuchen.
Wenn die Zeit gekommen ist, wirst Du die Lösung des Rätsels direkt vor Augen haben. Solange bin ich davon überzeugt, dass Du in dieser Schatulle Deinen Meister finden wirst, ganz egal, wie sehr Du Dich auch bemühst.
Mit den besten mechanistischen Grüßen
Dein Talmo