12. KAPITEL
Die Frau mit den Schwingen
1.
S
eit ihrer Ankunft im Blütenpalast war sich Yrrein nicht gänzlich sicher, was sie von jenen halten sollte, die hier für Illistra Gaon arbeiteten. Sicher, wenn man es aufs Einfachste herunterbrach, war der Blütenpalast vor allem ein Bordell, in dem junge Männer und Frauen ihre Körper zur Befriedigung anderer feilboten. Allerdings war es ein sehr gehobenes, teils nobles Bordell. Auf Hygiene wurde enormen Wert gelegt und außerdem – und Yrrein rechnete es Illistra hoch an, dass ihr dieser Punkt wichtig war – wurde hier niemand zur Arbeit gezwungen. Alle leichten Jungen und Mädchen hier waren frei, jederzeit einen anderen Beruf zu ergreifen und ihr Geld auf andere Weise zu verdienen. Illistra wahrte sogar ihre Identitäten, indem sie darauf bestand, dass sich all ihre »Angestellten« einen Decknamen zulegten. Wer hier verkehrte, ließ sich also verführen von Sittaria, der Fürstin der Leidenschaft, oder von Darlo, dem Stier des Morgens, oder Laria, der Honigprinzessin – niemand war gezwungen, einen echten Namen zu verwenden.
Den zweiten Abend in Folge saß Yrrein nun auf der Galerie, die den großen Salon einrahmte, und blickte durch die Balustrade auf das Treiben unter ihr hinab. Dort wurde gebadet, Wein floss über die Maßen, viel nackte Haut war bereits hier zu sehen und ein Ensemble von Musikern unterlegte von einer unauffälligen Bühne aus alles mit exotischen Klängen. Illistras Angestellte trugen oft nicht mehr als das Nötigste am Körper – und gerne auch nicht einmal das. Neben den Theken, den Sitz- und Liegeecken und Bassins zum Baden gab es diverse Séparées und natürlich jede Menge Nebenräume oder hinter verzweigten Gängen liegende Einzelzimmer, in die man sich zu zweit oder auch zu mehreren zurückziehen konnte, um dort zu tun, was mancher nicht gern vor Zuschauern tat.
Yrrein war keine Theologin, dennoch ergab es in ihren Augen Sinn, dass dieser Palast der Lüste hier im Vorhof der Ewigkeit stand, Mosmeranos Tempelbezirk. Denn hier wurde der Göttin Evisandre gehuldigt, der strahlenden Verführerin, Wegbegleiterin von Liebe und Leidenschaft, Gönnerin aller Schönheit und Künste, aller Obsession und des Rauschs. Einen besseren Tempel konnte man ihr im Grunde genommen gar nicht errichten. Und der öffentliche Evisandretempel wirkte im Vergleich zu den Festen, die allabendlich im Blütenpalast gefeiert wurden, beinahe wie eine biedere Taverne.
Das Treiben, das Yrrein unter sich beobachten konnte, wirkte auf sie eher ermüdend als erregend. Zwar war ihr persönlich Körperliches nicht gleichgültig – aber der Nähe, die hier unter dem Schleier eines ausschweifenden Festes ausgetauscht wurde, haftete in ihren Augen etwas Verzweifeltes an. Die Menschen, die dort nach Erfüllung suchten, fanden sie in ihrem Leben außerhalb des Blütenpalastes offenbar nicht. Das Gefühl, nach Erlösung zu hungern, aber sie trotzdem nie erreichen zu können, war eines, das Yrrein alles andere als fremd war. Sie hatte kein Zuhause mehr. In den Thronländern hatte sie nicht bleiben können. Bei den Herbstgängern hatte sie nie für eine Ewigkeit bleiben wollen – zumindest hatte sie sich dies eingeredet, bis es die Herbstgänger auf einmal nicht mehr gab.
Es war ein Gefühl des Unerlöstseins. Und alles, was sie dort unter sich erblickte, erinnerte sie daran. Sie sah Dutzende von Unerlösten unter sich. Und sie verabscheute sie alle.
Als der Mann auftauchte, den sie nun schon die zweite Nacht in Folge suchte, wollte sie es zunächst gar nicht wahrhaben. Der Abend war noch gar nicht besonders weit fortgeschritten, aber die Beschreibung passte haargenau: ein in ein fliederfarbenes Brokathemd mit goldenen Borten verpackter Schmerbauch sowie ein dicker schwarzer Schnauzbart, der säuberlich gestutzt an den Mundwinkeln vorbei bis zum Kinn wuchs. Verschiedene Bilder und Zeichnungen aus jüngeren Jahren hatte Yrrein sich tags zuvor aus den zeitgenössischen politischen Bänden der Bibliothek an der Fakultät herausgesucht. Außerdem kam der Mann wie angekündigt in Begleitung zweier persönlicher Wachen, die jedoch im Vorraum warten mussten. Illistra Gaons eigenes Sicherheitspersonal – ein Haufen tüchtiger wie zuverlässiger Leute, die Yrrein in den letzten Tagen hatte kennenlernen dürfen – ließ es nicht zu, dass irgendjemand außer ihnen hier für Ordnung sorgte. Der Fehler der Bordellbesitzerin Illistra war hingegen gewesen, vor Glin den Beruf und die Position dieses gewissen Freiers auszuplaudern. Und Yrrein wusste, dass Glin zu gut war, um so eine Chance nicht zu wittern. Illistra Gaon hatte nichts weiter als prahlen wollen, bis in welch erhabene Kreise sich ihre Kundschaft erstreckte – und wie viel Macht sie besaß. Sie konnte die geheimen Fantasien der Mächtigsten im Staate erfüllen.
Der Mann, der das Etablissement nun betreten hatte, war niemand Geringeres als Tito Orleone, einer der sechs Minister des Erzherzogs, stellvertretend für diesen zuständig für die Organisation und Logistik von Heer und Marine der Republik. Er war der Herr der Stählernen Bank – aber vor allem war er verheiratet, hatte zwei heranwachsende und sehr hübsche Töchter sowie eine ebenso einflussreiche wie nichtsahnende Ehefrau.
Yrrein beobachtete Orleone genau. Eine Weile saß er einfach in den weichen Polstern einer Sitzecke, umgeben von künstlichen, in die Wand eingelassenen Wasserläufen und Orchideenblüten. Gleich drei junge Frauen leisteten ihm Gesellschaft, während er sich ein Glas eines bernsteinfarbenen und garantiert sündhaft teuren Weinbrandes genehmigte. Die Frauen lachten an den richtigen Stellen über vermutlich belanglose Witze. Illistra garantierte ihren Gästen Seriosität – und das auf einem so hohen, ja möglicherweise vollkommenen Niveau, dass es sogar die Staatsmänner und -frauen Mosmeranos hierher zog.
Orleone für seinen Teil zelebrierte den Abend ausgiebig. Er verkostete noch zwei weitere Getränke, die Yrrein aus der Entfernung für schillernde Fruchtliköre hielt, bis er sich offenbar für eine der drei jungen Damen entschied: Miana, die Zimtblüte.
Yrrein erhob sich von ihrem eigenen Sitzpolster und stieg die Stufen von der Galerie hinab in das wummernde Herz des Blütenpalastes. Sie nahm nicht den direkten Weg, sondern drehte eine Schleife und tat, als betrachte sie interessiert das Vergnügen in einem der hellblauen Bassins, in dem sich zwei junge Männer um eine ältere Frau räkelten, die für diese Art der Zuwendung an diesem Ort gewiss ein achtbares Sümmchen gezahlt hatte.
Schließlich begab sich Yrrein in den Gang, in dem die Zimtblüte mit Kriegsminister Orleone verschwunden war. Sie hatte die Räumlichkeiten am Vortag bereits ausgiebig ausgekundschaftet und interessierte Fragen gestellt. Miana hatte ihr eigenes Zimmer nicht weit von hier. Yrrein wartete etwas ab, dann betrat sie den Raum so leise wie unvermittelt – niemand war da. Doch es gab noch eine zweite Möglichkeit. Neben den Zimmern, die Nour, der Perle Abitreijas, und Gianella, der wütenden Göttin, gehörten, gab es noch ein privates Bad am Ende des Traktes. Offenbar war dem Minister nicht so sehr nach Baden vor anderer Leute Augen zumute – was Yrrein sehr gut verstehen konnte.
Wieder schlich sie leise hinein, dank der lautlosen Türen im Blütenpalast war das kein Problem. Hinter mehreren Sichtschutzen aus dickem Wachspapier fand sie zunächst die Kleidung des Ministers und darin alles, was für ihr Vorhaben wichtig war. Sie nahm es an sich und folgte dem Stöhnen.
Als sie den Sichtschutz zum Umkleiden hinter sich gelassen hatte, eröffnete sich ihr der widerwärtige Anblick: In der Mitte des mit grünem Marmor ausgekleideten Raumes lag ein beheizter Bassin. Weiterhin hatte man den Baderaum mit Kerzen und chemistischen Glühkugeln in vielerlei Farben dekoriert und Räucherstäbchen verbreiteten ätherische Düfte. Auf der anderen Seite des Bassins stand eine Bank, ursprünglich wohl für Massagen gedacht. Heute Abend diente sie einem anderen Zweck: Tito Orleone lag auf dem Rücken, während die Zimtblüte ihn mit all ihrer gekauften Leidenschaft ritt. Beinahe hätte Yrrein laut losgelacht, weil es lächerlich aussah, wie sich das Mädchen an dem dicken Wanst des Ministers festkrallen musste, um aufrecht auf ihm sitzen zu können.
»Guten Abend, Signore Orleone«, sagte Yrrein mit dunkler Stimme.
Miana fuhr vor Schreck zusammen und glitt von dem Minister hinunter, doch bevor sie sich in Richtung Tür aufmachen konnte, ließ Yrrein bereits ein langes Stilett aus ihrem Ärmel gleiten und hielt es der Prostituierten an die Kehle. Orleone hingegen ächzte und hatte Mühe, sich hinzusetzen. Yrrein versetzte ihm einen Schlag mit den Fingerknöcheln in seine Seite.
»Bleiben Sie liegen, Signore – oder machen Sie sich zumindest wegen mir keine Umstände.«
Sie konnte ihn viel leichter in Schach halten, wenn er auf dem Rücken lag – wehrlos wir ein umgedrehter Mistkäfer.
Die Zimtblüte hingegen wähnte Yrrein abgelenkt und unternahm einen Fluchtversuch. Doch sie war noch keine zwei Schritte weit gekommen, da hatte Yrrein ihr Handgelenk gepackt. Sie verdrehte der jungen Frau den Arm und trat ihr in die Kniekehlen, sodass sie schließlich nackt und wimmernd vor ihr kauerte.
»Entschuldige, meine liebe Miana«, meinte Yrrein. »Wenn du artig bleibst, dauert es nicht lange und du kannst ganz ungestört weiter auf dem ministerlichen Schwanz herumrutschen. Wenn du hingegen nicht artig bleibst, könnte dieser Abend deutlich weniger leidenschaftlich, aber sehr viel schmerzvoller für dich enden.«
Die Zimtblüte erwiderte nichts, sondern biss die Zähne zusammen.
»Was – bei allen sieben Göttern – wollen Sie von mir?«, stöhnte Orleone, der gerade wieder die ersten Atemzüge nach Yrreins Schlag tun konnte. »Ich dachte, dieses Etablissement wäre seriös und diskret – offenbar habe ich mich getäuscht.«
»Das haben Sie nicht«, entgegnete Yrrein. »Und dieses Etablissement wird auch nach diesem winzigen Intermezzo mit uns beiden wieder ganz genau so diskret und seriös sein, wie Sie es gerne hätten. Und wenn Sie Illistra Gaon nach diesem Abend irgendwelche Probleme bereiten sollten, dann seien Sie gewiss, dass wir Sie finden werden.«
»Sie wissen, wer ich bin, oder?«
Yrrein warf das Stilett in einer beiläufigen Bewegung hoch und fing es blind wieder auf. »Überlegen Sie selbst: Wäre ich sonst hier, wenn ich das nicht wüsste?«
»Hm.« Orleone seufzte.
»Schauen Sie mal, Minister: Ich habe Sie hier gefunden, obwohl dieser Tempel der Lüste wirklich sehr seriös und diskret ist. Ich habe Sie in Ihrem wehrlosesten Moment erwischt und Sie können weder Hilfe herbeirufen noch sich überhaupt aufsetzen, ohne dass ich es erlaube. Glauben Sie mir ruhig, wenn ich Ihnen sage, dass ich Sie auch außerhalb des Blütenpalastes finde, wenn ich es nur will – und dass Sie schon bis zu den Neunundneunzig Inseln segeln müssten, um mir zu entkommen. Außerdem verspreche ich Ihnen bei Din Vestros gerissenem Lächeln Folgendes: Sollten wir uns jemals wieder treffen – zum Beispiel weil Sie irgendwie versucht haben, mir das Leben schwer zu machen –, dann werde ich Sie nicht
töten.«
In Orleones Blick las sie Verwirrung.
»Ich werde Ihnen stattdessen Ihre ministerialen Eier abschneiden. Und alles, was Sie dann noch an Racheschwüren auf Lager haben sollten, macht plötzlich nur noch halb so viel Spaß, weil das Leben ein grauer Ort ohne Libido und mit dem Gefühl von tausend brennenden Nadeln beim Pinkeln geworden ist. Haben wir uns verstanden?«
Der Minister nickte langsam.
»Was übrigens noch viel besser wirkt als die Androhung roher Gewalt, Minister Orleone, ist das hier.«
Yrrein stieß den verdrehten Arm von Miana, der Zimtblüte fort, und das Mädchen rollte sich auf dem Boden vor ihr zusammen und versuchte, sich nicht zu regen. Stattdessen holte Yrrein aus ihrer Tasche, was sie vor wenigen Augenblicken in der Kleidung des Ministers gefunden hatte: ein großes rundes Medaillon.
Mit einem Fingernagel löste sie den Schnappmechanismus und das Schmuckstück klappte auf. In den Innenseiten beider Hälften waren kleine Porträts hinter hauchdünnen Glasscheiben eingeklemmt. Drei Frauen waren zu sehen. Rechts eine Schönheit von etwa vierzig Sommern mit dem gebräunten Teint der Mosmerani und schulterlangen schwarzen Locken. Links waren zwei Mädchen abgebildet, die an Schönheit ihrer Mutter in nichts nachstanden – ungefähr fünfzehn und siebzehn Namenstage. Alt genug, um zu wissen, was es bedeutete, wenn man ihnen steckte, dass ihr Vater gerne mal einen Ausflug hierher unternahm.
»Ihre Frau und Ihre Töchter«, erklärte Yrrein langsam. »Ich gehe davon aus, es wäre Ihrem Familienfrieden abträglich, wenn Sie diesen Gegenstand verlieren würden. Und vermutlich wäre es umso abträglicher, wenn Gerüchte laut würden, dieses Medaillon wäre im Blütenpalast gefunden worden. Oder wenn man arrangieren würde, dass Ihre Frau oder Ihre Töchter es auch noch aus der Hand eines eher verführerisch leicht – wenn nicht gar nuttig – gekleideten Mädchens erhalten würden.«
Sie ließ ihre Worte auf Orleone wirken. Der Blick des Ministers zuckte hin und her, als suche er einen Ausweg aus seiner ungeschickten Lage.
Nach einigen Augenblicken voll beklemmenden Schweigens fügte sich der Minister in sein Schicksal.
»Verflucht«, brummte er. »Was wollen Sie von mir? Geld? Dann müssten Sie nur noch einmal meine Kleidung durchwühlen.«
»Netter Scherz«, meinte Yrrein ohne zu lachen. »Nein, Signore, ich will einen Gefallen von Ihnen. Erst wenn Sie mir den erfüllt haben, bekommen sie das Medaillon wieder.«
»Meine Frau ist mit einem Politiker verheiratet. Sie weiß, welche Gelüste mich von Zeit zu Zeit umtreiben.«
»Ich lasse es drauf ankommen«, sagte Yrrein, ließ das Medaillon in ihre Hosentasche gleiten und hielt dem glänzenden Blick aus den kleinen Augen des Ministers stand.
Als sie Anstalten machte, sich zum Gehen zu wenden, lenkte Orleone ein. »In Ordnung, Sie Aas. Sagen Sie, was Sie von mir wollen!«
Yrrein lächelte. »Ich will eine Einladung für zwei Personen zum herzoglichen Ball.«
Orleone machte ein verdutztes Gesicht. »Sie wollen zum Ball?«
»Nicht ich«, erklärte Yrrein. »Zwei Personen, die ich kenne.«
»Und was wollen Sie da? Wenn es ein Anschlag sein soll …« Orleone deutete auf das Stilett in Yrreins Hand. »Niemand mit Waffen wird hereingelassen.«
»Quatschen Sie nicht so dummes Zeug, Minister! Intelligenz steht Ihnen besser. Nein, ich will keinen Anschlag verüben. Ich will nur etwas verkaufen. Und der Ball ist die beste Möglichkeit, an meine Kundschaft zu kommen.«
»Ich dachte, Sie können Leute überall
finden?«
»Ja«, meinte Yrrein unumwunden. »Aber zum einen wähle ich gerne den Weg des geringsten Widerstandes – sonst hätte ich Sie nämlich einfach in Ihrer Villa auf der Hochwohlgeborenen Insel aufgesucht. Und zum anderen benötige ich den passenden Rahmen für mein Geschäft – meinem Kunden will ich nämlich im Gegensatz zu Ihnen keine Angst machen.«
»Das klingt … eigenartig.«
»Ich bin ja auch nicht hier, um mit Ihnen meine Pläne zu erörtern.«
»Gut«, seufzte Orleone ergeben. »Wie lauten die Namen Ihrer beiden … Freunde?«
Yrrein nannte sie ihm. Zweimal. Und sie ließ sie den Minister wiederholen um sicherzugehen, dass sie richtig übermittelt würden.
»Wenn alles so klappt, wie Sie es wünschen, finden Sie das Medaillon am Folgetag morgens in ihrem Sekretär.«
»Welchem Sekretär?«, fragte der Minister misstrauisch.
»Den im Obergeschoss, in der Schreibstube an der Ostseite Ihres Anwesens.«
Orleone wurde blass.
Yrrein hingegen wandte sich eben wieder zum Gehen, als ihr etwas ganz anderes einfiel.
»Eine Bitte habe ich allerdings noch«, sagte sie und pikste Orleone mit des Spitze des Stiletts in das weiche Fleisch seiner Schulter.
Der Minister zuckte zurück.
»Verraten Sie mir alles, was Sie über Aurinius von Veelyn wissen.«
»Diesen neuen Berater des Herzogs, der immer barfuß geht?« Es war klar herauszuhören, dass Orleones Meinung von Aurinius nicht die beste war.
Zufrieden über diese Feststellung ließ sich Yrrein zu einem breiten Grinsen hinreißen. »Genau über diesen komischen neuen Berater würde ich gerne alles wissen, was Sie ebenfalls wissen, Signore Orleone.«
2.
N
icht einmal eine Stunde später hing Yrrein an einem Mauervorsprung des Stahlpalastes und kam sich vor wie eine Fledermaus, die auf der Lauer liegt und auf das nächste Glühwürmchen wartet.
Sie war sich noch unschlüssig, ob sie es ihm jemals gestehen würde, aber die Greifenrüstung war das Raffinierteste, was sich Glin ausgedacht hatte, seit sie sich kannten. In Kombination mit Siras Kletterklauen konnte Yrrein beinahe wie ein Insekt an Wänden hochklettern, von Dach zu Dach springen und sich mittels der federbetriebenen Seilrollen von Ebene zu Ebene katapultieren. Für jemanden wie Glin war dies eine nette Spielerei – in den Händen einer Person wie Yrrein wurde Glins mechanischer Einfallsreichtum zu einem Quell tödlicher Instrumente.
Während sie sich hier oben an der großen Seefestung festhielt, die der Marine von Mosmerano als Hauptquartier diente, betrachtete sie es als seltsame Ironie der Götter, dass Glin zur gleichen Zeit ebenfalls hier war. Während Yrrein jedoch eine Reihe Fenster fest im Blick hatte, die zu den Offiziersquartieren der gehobenen Klasse gehörten, musste Glin sich irgendwo in den Zellen und Gängen auf der anderen Seite des Stahlpalastes durchschlagen, um diese Magierin Fenja Vannagren zu befreien.
Yrrein setzte darauf, dass Tito Orleones Abneigung gegen Aurinius von Veelyn nicht gespielt gewesen war. Da der Minister allerdings Gefahr lief, andernfalls vor seiner Familie entblößt zu werden, ging Yrrein eigentlich sogar fest davon aus, dass er die Wahrheit gesagt hatte.
Als endlich das Licht in den beiden Fenstern ganz links gelöscht wurde, wartete sie noch ab, bis eine Wolke die hellen Bruchstücke des Mondes verdeckte und zählte hundert Herzschläge ab, bis sich ihre Augen an das Dunkel gewöhnt hatten. Sie küsste ihren Finger, tippte an ihre Stirn und sprach ein stummes Stoßgebet an Din Vestro.
Mit einem Kuss auf die Stirn und einem Gebet auf den Lippen.
Dann stieß sie sich von der Wand ab und glitt mit den Lederschwingen zu dem linken Fenster hinüber. Sie wusste, dass jeder Atemzug kostbar war. Ihre Gegner waren schnell. Folglich hielt sie sich nicht damit auf, leise einen Mechanismus auszuhebeln, sondern nutzte den Schwung ihres Gleitflugs und trat das Fenster geradewegs ein.
Es klirrte, als das Glas auf dem Boden zerbarst. Yrrein erfasste den Raum. Sekretär, Waschtisch, zwei Betten. Aus einem schnellte eine Gestalt hoch und warf etwas nach Yrrein, das in der Holzwand hinter ihr steckenblieb.
Woher das schlanke Schwert kam, das der vormals Schlafende im nächsten Moment in der Hand hielt, wusste Yrrein nicht. Sie fuhr die Klingen aus, die durch Mechaniken unsichtbar an den Unterarmen angebracht waren und parierte die präzise geführten Streiche ihres Gegners. Ihren Unterarmklingen fehlte es an Reichweite und ihr Gegenüber war ein guter Kämpfer.
Verflucht, ich habe keine Zeit.
Ein weiteres Stoßgebet zu Din Vestro, eine Parade. Dann aktivierte sie die Mechanik, die aus ihrem linken Armschutz eine Miniaturarmbrust schnellen ließ und schoss, ohne zu überlegen. Der Bolzen traf oder streifte das Bein ihres Gegners.
Die Irritation reichte, damit Yrrein Wehklage vom Gürtel nehmen konnte. Die Skyldarklinge setzte sich zusammen und begann ihren unheilverkündenden Gesang.
Der Schakal fing sich wieder, schlug eine Mühle und wirbelte auf Yrrein zu.
Die duckte sich weg und parierte zwei Streiche in rascher Folge. Ihr Gegenüber drängte sie in eine Ecke des Raumes. Er schlug nun von oben her zu und traf erneut auf Wehklages Parade.
Ich brauche mehr Platz!
Yrrein deutete einen Ausfallschritt an, zog zurück und stach mit der Schwertspitze nach dem Schakal. Der wich nun seinerseits aus. Aber die Zimmerwand war bereits zu nahe und Wehklages Spitze bohrte sich in das Holz eines Balkens.
Nein!
Ihr blieb nichts übrig, als den Griff des Schwertes loszulassen und mit einer Hechtrolle an ihrem Gegner vorbeizuspringen. Doch war das Stockbett im Weg und sie kam nicht auf die Beine.
Nun drehte sich der Schakal um, stand über ihr und bedrohte sie mit seiner Schwertspitze. »Du hast einen Fehler gemacht, Mädchen. Wie kannst du ernsthaft glauben, einen Schakal von Jaerhella übertölpeln zu können?«
»Du hast einen Fehler gemacht … Junge!«, äffte sie seinen überheblichen Tonfall nach.
»Und zwar?«
Doch Yrrein hatte bereits die mechanische Feder an ihrem Unterarm aktiviert. Der Enterhaken ihrer Seilwinde schoss direkt ins Gesicht des Schakals. Reflexhaft wandte der Getroffene sich ab.
Dieser Wimpernschlag genügte Yrrein: Sie griff nach Glins Dolch an ihrem Gürtel und rammte ihrem Gegner den Dorn am Knauf in den nackten Fuß.
Die allerletzten Reste des Herrn der Träume entfalteten ihre Wirkung. Ihr Gegenüber brach bewusstlos zusammen und Yrrein dankte dem Gott mit der lächelnden Maske, dass sie in diesem Zimmer bloß einen der beiden Schakale angetroffen hatte, die hier untergebracht waren.
Sie nutzte das Seil einer der Winden, um den Mann zu verschnüren. Anschließend nahm sie das zweite Seil, machte den verpackten Schakal daran fest und schlang sich das andere Ende um die Hüften. Sie wuchtete das unförmige Paket aus dem Fenster, stemmte die Beine gegen den Rahmen und stöhnte leise, als ihre Fracht etwa anderthalb Mannslängen unter ihr mit einem Ruck hielt und nun in der Luft baumelte. Mit einem dritten Stoßgebet sprang sie selbst aus dem Fenster und breitete die Schwingen aus. Sie sackte nach unten. An einen langen Gleitflug war bei dem zusätzlichen Gewicht nicht mehr zu denken, aber sie schaffte es immerhin über die niedrige Mauer im Schatten eines Turmes und um dessen Ecke, bis sie schließlich unsanft zu Boden plumpste.
In Windeseile entledigte sich Yrrein der Rüstung und stopfte sie mitsamt der Seile in den großen Leinenrucksack, den sie unweit ihrer Landestelle deponiert hatte. Dann hievte sie den Mann hoch, der zwar jung und schlank war, aber trotzdem mehr wog als sie selbst. Sie besaß zwar die nötigen Muskeln – trotzdem brach ihr bereits auf den ersten Schritten der Schweiß aus. Sie hatte einen Arm des Schakals über ihre Schultern gelegt. Auf diese Weise einen Körper durch die Gegend zu schleppen, war unfassbar anstrengend. Doch es sollte den Eindruck machen, als ob der Schakal lediglich bis zur Besinnungslosigkeit betrunken wäre.
Sie musste es nur bis zu den billigen Kneipen der Hölzernen Bank schaffen, dort würde sie niemandem auffallen, wenn ein Sturzbetrunkener sich bei ihr aufstützte. Das Unabhängigkeitsfest begann morgen und die Stadt war zum Bersten voll mit Menschen, die aus allen Himmelsrichtungen nach Mosmerano gekommen waren, um sich hemmungslos zu betrinken. Eine Mietbarke oder eine Gondel zu finden, die sie gegen die passende Bezahlung bis zum Vorhof der Ewigkeit fahren würde, würde hoffentlich nicht allzu schwer werden.
Tausend Schritte waren es in etwa bis zu den ersten Ausläufern der Hölzernen Bank am Ufer entlang. Zweitausend, wenn man einen Schlafenden schleppen musste. Sie schwor sich, dass sie bei ihrer Rückkehr in den Blütenpalast ein ganzes Fass Wasser leersaufen würde.
3.
D
as ist tatsächlich einer der Schakale?«, wunderte sich Falk über den gefesselten jungen Mann, den Yrrein unsanft vor ihnen auf den Esstisch geworfen hatte. Schönheit saß auf der breiten Schulter des Priesters und beäugte neugierig, was Yrrein da angeschleppt hatte.
Im Schein der chemistischen Glühkugeln sah der junge Mann, der vor Yrrein auf dem Tisch lag, blasser aus, als man jemanden aus dem sonnigen Jaerhella eingeschätzt hätte – und außerdem jungenhafter, als Yrrein es von einem solchen Krieger erwartet hatte.
Wie alt mag er sein mit seiner blassen Haut, dem schwarzen Haar und dem Bartschatten an Kinn und Oberlippe? Achtzehn Namenstage? Neunzehn?
Es war egal, er war Teil dieser ganzen Misere, in die die Herbstgänger hineingezogen worden waren, und er würde seine Rolle in diesem Stück spielen müssen – auch, wenn diese nun sicher anders ausfiel, als sich der Junge vorher ausgemalt hatte.
»Ja.« Yrrein nickte.
Orleone hatte aus seiner Abneigung gegen Aurinius keinen Hehl gemacht. Im Gegenteil, Yrrein vermutete, dass der Minister sogar eine gewisse Befriedigung daraus gezogen hatte, dem verhassten Emporkömmling eins auswischen zu können. Der Marineminister war von Erzherzog Borgessa angewiesen worden, Quartiere für vier Schakale bereitzustellen. Vier weitere wohnten zu Aurinius’ eigener Sicherheit im herzoglichen Palast. Sie wechselten sich in Schichten ab.
Nun aber ist einer von acht Schakalen hier bei uns in der Wohnung über dem Blütenpalast
, dachte Yrrein. Das heißt, dass wir schon wieder fort müssen. Sobald Aurinius von der Entführung des Schakals Wind bekommt, wird er hier auftauchen und uns fertigmachen.
Madeire versuchte, den Jungen mit Riechsalz aufzuwecken.
»Du weißt, dass ich das ständige Umziehen echt satt habe«, kommentierte sie, während sie ihr Bestes gab, die Wirkung des Herrn der Träume bei dem Söldner verfliegen zu lassen.
Ihr und Falk war es zugefallen, ihr Hab und Gut in Taschen, Rucksäcke und Kisten zu verpacken. Die Götter allein wussten, wohin es sie diesmal verschlagen würde. Es gab keinen Ausweichplan für den Blütenpalast, kein Refugium, dessen Türen ihnen offen standen.
Endlich regte sich der Schakal unter einer Kaskade Backpfeifen, die Madeire ihm gab. Ein wenig mehr von dem Riechsalz beschleunigte den Prozess des Aufwachens zusätzlich. Er kam immer mehr zu Bewusstsein und schließlich weiteten sich seine Augen vor Schrecken, als er bemerkte, wie perfekt er von Yrrein verschnürt worden war.
»Guten Abend«, begrüßte die ihn.
»Sie sind die Frau mit den Flügeln, habe ich recht?«, argwöhnte er.
Falk musste grinsen. »Die Flederfrau, so so …«
Die Flederfrau
. Yrrein verdrehte die Augen, stieß Falk sanft in die Rippen … und wurde dann schlagartig ernst.
»Es gibt da ein paar Dinge, die ich von dir wissen will«, sagte sie zu dem Krieger vor ihr auf dem Tisch.
»Ich sage nichts«, erwiderte der.
Yrrein ließ theatralisch den Kopf hängen. »So etwas in der Art hatte ich befürchtet. Aber ich fange trotzdem erst einmal mit den direkten Fragen an: Ihr Schakale haltet eine Freundin von mir gefangen. Fünfzehn Sommer jung, kann sehr gut klettern, ist ziemlich neunmalklug und außerdem rotzfrech.«
»Ich sage nichts«, wiederholte der Schakal.
Yrrein seufzte. »Du bist ein ziemlich hübscher Junge. Aber du kannst mir glauben: Das werde ich Stück für Stück ändern, wenn du mir nicht jede verdammte Frage, die ich dir stelle, zu meiner Zufriedenheit beantwortest. Wir sind hier über einem der größten und besten Bordelle der gesamten Stadt und morgen beginnen die Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitsjubiläum. Unter uns wird gerade eine Orgie gefeiert, die Evisandre vor Neid erblassen lassen würde. Kurz und gut: Du kannst so laut und erbärmlich schreien, wie du möchtest – es wird dich hier niemand hören.«
Sie wartete ab, ob das Gesagte einen Effekt auf den Gefesselten vor ihr haben würde. Der starrte immer noch voller Trotz zu ihr auf.
»Also gut«, fuhr sie fort und strich sich eine Strähne ihres vom Schweiß verklebten Haares aus der Stirn. »Ich weiß nicht, was du gerne tust im Leben. Vielleicht isst du gerne ein herzhaftes Stück gebratenes Fleisch. Vielleicht bist du gerne künstlerisch unterwegs, schreibst Gedichte oder machst Musik. Auf jeden Fall ist deine große Leidenschaft das Kämpfen – du bewegst dich leichtfüßig, weißt deinen Körper perfekt auszubalancieren und bist fingerfertig. Und wer weiß – vielleicht feierst du auch gerne Orgien wie jene, die gerade unter uns im Blütenpalast stattfindet. Aber: All das wird ein für alle mal vorbei sein, wenn ich mit dir fertig bin.«
Sie nahm eine Kneifzange in die Hand, begutachtete sie demonstrativ, legte sie zurück auf einen Stuhl und nahm stattdessen ein Skalpell und drehte es zwischen den Fingern.
»Vielleicht warst du ja sogar dabei, als der Magier meinen Freund Talmo zu Tode gefoltert hat. Ich
werde dich jedenfalls nicht töten. Aber ich werde dafür sorgen, dass du Schmerzen leiden wirst. Jeden Tag, für den Rest deines Lebens. Die Augen öffnen, Nahrung zu dir nehmen, die Notdurft verrichten – alles wird entsetzlich weh tun. Du musst mich verstehen: Ich will meine Freunde in Sicherheit wissen – und ich tue, was immer dafür notwendig ist.«