INTERLUDIUM IV
Die flinkesten Finger der Welt
Aus Talmos Geschichte
Von Glin rekonstruiert anhand von Erzählungen und gefundenen Aufzeichnungen. Die Ereignisse des vorliegenden Abschnitts fanden statt in Abaste, der Hauptstadt des gewaltigen Wüstenreiches Abitreija. Im Jahre 999 nach Amantis. Vierzehn Jahre, bevor die Herbstgänger nach Mosmerano reisten.
1.
E
s hatte die Herbstgänger nach Abaste verschlagen, der Hauptstadt von Abitreija. Die Stadt erstreckte sich auf beiden Seiten der Meerenge, die die Eingeschlossene See mit dem Opalmeer verband.
Nicht weit entfernt begannen die ersten Ausläufer der großen Wüsten und bereits hier war Sand so allgegenwärtig, dass Talmo sich Sorgen um die Funktionstüchtigkeit seiner mechanischen Bühne machte.
In der Stadt lag der weitläufige Platz des Staubkönigs
. Neben Basaren und allerlei öffentlichen Wettkämpfen, durften hier auch Schausteller und fahrende Spielleute ihre Künste darbieten. Die mechanische Bühne stand am Rand des Platzes und das Ensemble führte allabendlich im Schein von chemistischen Laternen Das letzte Licht
von Jasma Leoporta auf.
Talmo war auf seinem Weg zum Podest des Ausrufers am Markt, um das Stück ankündigen zu lassen. Er atmete die abendliche Frühlingsluft ein, sie roch nach Staub und Salz. Die Menschen drängten sich dicht an dicht und das Vorankommen war nicht leicht, dennoch genoss Talmo es. Das wechselnde Licht der bunten Stoffbahnen über den Ständen, die exotischen Gerüche, das nahe Meer, der Sand unter seinen Sohlen …
Und dann rempelte er aus Versehen jemanden an.
Der Junge, den er übersehen hatte, schrie auf, als Talmo ihm auf den Fuß trat, und versuchte noch, sein Gleichgewicht zu halten. Doch der Eimer mit Obstabfällen, den der Junge getragen hatte, war bereits ausgekippt und sie beide rutschten in der Lache aus. Jemand drittes stolperte im Gedränge hinein und dann eine vierte Person.
»Verfluchte Götter«, brüllte Nummer drei. Ein breiter und bärtiger Mann, der sich aufrappelte und nach dem Jungen trat. »Du dummes Stück Kamelscheiße. Du hässliches Kind einer Sandratte. Kannst du nicht aufpassen?«
Talmo hatte sich den Ellenbogen aufgeschürft und ärgerte sich über das Missgeschick, ging aber sofort dazwischen.
»Das reicht, Mann«, sagte er und schob den Bärtigen beiseite, damit er seinen Weg über den Platz fortsetzte. »Es ist ja nichts zu Bruch gegangen. Der Junge ist gestraft genug, wenn er alles wieder einsammeln muss.«
Der Mann wollte etwas erwidern, entschied sich jedoch kurzerhand um und ging grummelnd seiner Wege.
»Geht es dir gut?«, wollte Talmo von dem Jungen wissen. Das Kind war schmal gebaut, wirkte beinahe zerbrechlich.
»Danke, Herr«, stammelte der Kleine, stand unsicher auf und begann, die herumliegenden Bananen- und Melonenschalen aufzulesen.
»Sei in Zukunft einfach ein wenig vorsichtiger«, gab Talmo ihm noch mit, bevor er sich den hellen Staub von der Hose klopfte und durch die Menge in Richtung der Marktschreier weiterzog.
Als er mit gewohntem Reflex zu dem Anhänger unter seinem Hemd griff, ging ihm schlagartig auf, was soeben geschehen war.
Das in Gold gefasste Abzeichen der Mechanistengilde war verschwunden.
»Bei allen sieben dreckig grinsenden Göttern!«, entfuhr es ihm.
Talmo überlegte fieberhaft, wie er ausgesehen hatte. Das Gesicht hatte er noch einigermaßen vor Augen. Auch die Kleidung … ein einfaches helles Hemd. Ziemlich dünn war das Kind auf jeden Fall gewesen.
Er griff in seine lederne Umhängetasche und stellte erleichtert fest, dass ihm zumindest daraus nichts abhanden gekommen war. So schnell er konnte, rannte er über den Platz zur nächstgelegenen Seitengasse.
Die mit einer Feder betriebene Seilwinde hatte Talmo über den Winter entworfen, es hatte sich jedoch noch keine Gelegenheit ergeben, sie außerhalb des Theaters einzusetzen.
Er kletterte auf ein Fass, das in einer Ecke stand, und warf den am Seil befestigten Enterhaken hinauf, wo er am Rand eines Flachdaches Halt fand.
»Din Vestro, Herr des geschickten Diebstahls und aller gerissenen Pläne«, murmelte er ein leises Stoßgebet. »Wenn du irgendwo ein wenig Glück für deinen leichtsinnigen Diener Talmo erübrigen kannst … jetzt gerade würde ich mich über ein kleines Zeichen der Gunst echt freuen.«
Sich auf diese Weise Mut zuzusprechen, war albern, da der Junge gerade einen eleganten kleinen Diebstahl durchgezogen hatte und sich die Gunst des Gottes mehr verdient hatte. Aber Talmo musste sein Abzeichen wiederbekommen! Er umgriff die Winde fest mit beiden Händen und legte mit dem rechten Daumen das Hebelchen um, das die Feder entsicherte. Das Seil wurde in rasantem Tempo aufgerollt und Talmo flog die Hauswand hoch, an seinem Haken vorbei auf das Dach.
Sein Herz hämmerte.
»Danke«, murmelte er gen Himmel und spurtete los. Über die engen Gassen von einem Dach zum nächsten zu springen, war im dicht bebauten Abaste kein großes Kunststück.
Immer wieder spähte er auf den Platz des Staubkönigs hinunter, während er die breiten Brüstungen der Flachdächer entlanglief.
Wie, bei allen Göttern, soll ich einen kleinen Jungen inmitten von Hunderten –
Doch da war etwas.
Ein Junge kam aus einer der Seitengassen herausspaziert.
Talmo musste ein zweites, sogar ein drittes Mal hinsehen.
Tatsächlich, der kleine Bastard, der ihn mit dem Eimer zum Ausrutschen gebracht hatte – bloß ohne Eimer. Statt des Hemdes trug er nun ein grünes Wams und hatte die wuscheligen Haare mit viel Wasser glatt nach hinten gestrichen. In aller Seelenruhe schlenderte er zurück über den Platz und ging in die entgegengesetzte Richtung.
Talmo schnaubte teils vor Bewunderung, teils vor Erleichterung.
Der Kleine hatte wohl alles gut geplant. Er musste von dem Abzeichen gewusst haben und er hatte geschickte kleine Finger. Din Vestro war ganz sicher mit diesem kleinen Bastard.
Der Dieb in Talmo begann, eine Neugierde auf den Jungen zu entwickeln.
2.
D
ie Gegend war keine besonders gute. Der Dreck türmte sich in Ecken und Winkeln der Straßen, es stank erbärmlich und in den Hauseingängen lauerten finstere Gestalten. Als die Statik der Dächer weniger vertrauenerweckend wurde, war Talmo rasch über eine Markise hinabgerutscht.
Der Junge hatte ihn noch nicht bemerkt. Er hatte ein anderes Problem: Eine Gruppe verwahrloster Kinder hatte ihn umzingelt und auf dermaßen kreative Weise beschimpft, dass selbst Talmo staunen musste. Obwohl sie größer und in der Überzahl waren, rührte jedoch keiner den Jungen an. Talmo hatte bei dem Ganzen den Namen des Jungen mithören können: Glin.
Das Waisenhaus, hinter dessen Haustür der Junge verschwand, hätte unscheinbarer kaum sein können. Eines von Dutzenden in den ärmeren Vierteln der Stadt.
Als Glin die Tür hinter sich geschlossen hatte, wagte sich Talmo aus seiner Deckung und huschte hinüber. Er ignorierte den Türklopfer, trat einfach ein und erlebte sogleich eine Überraschung: Das Hausinnere sah überraschend aufgeräumt und sauber aus.
»Scheiße«, entfuhr es dem Jungen, der sich im Hausflur gerade des übergeworfenen grünen Wamses entledigte. Seine großen Augen verrieten echte Überraschung.
»Hallo«, grüßte Talmo ihn im Plauderton. »Ich habe ein Abzeichen verloren und dachte mir, du könntest mir vielleicht helfen, es zu finden.«
Talmo sah aus dem Augenwinkel, wie es metallen aufblitzte, und duckte sich instinktiv. Zu spät, er spürte einen Stich oder einen Schnitt an der Schläfe und schlug danach. Im Gegenangriff warf er mit der Winde nach dem Jungen, der ausweichen wollte, stolperte und mit dem Kopf gegen den rückwärtigen Türrahmen prallte.
Ein zweiter Messerangriff von der Seite. Talmo wischte reflexhaft mit seinem weiten Ärmel danach und etwas verfing sich darin. Doch es war gar kein Messer, sondern etwas völlig anderes: eine mechanische Grille, so groß wie Talmos Handfläche. Vorsichtig hielt er sie durch den Ärmel an den Hinterbeinen fest, denn sie wehrte sich nach Leibeskräften und hackte mit spitzen Fängen nach seinen Fingern.
Solch eine faszinierende kleine Mechanik war sehr selten. Sie war übersät mit den ganz typischen, nie entzifferten Symbolen: ein Skyldar-Artefakt.
»Lassen Sie sie in Ruhe!«, hörte er den Jungen, der sich hochrappelte. Seine Hose hatte einen Schnitt am Oberschenkel, aber die Verletzung darunter schien nicht besonders tief zu sein.
»Bitte«, sagte der Junge diesmal. Es klang flehend. Er hielt ihm ohne zu zögern das in Gold gefasste Abzeichen entgegen. »Bitte, lassen Sie sie in Ruhe. Sie können Ihren Anhänger wiederhaben. Aber tun Sie ihr nichts.«
Bevor der Junge es sich anders überlegte, fischte Talmo ihm das Abzeichen aus den Fingern. Dann ließ er die Beine der Grille los, die mit einem Satz zu dem Jungen sprang und sich hinter seiner Schulter versteckte.
»Wo hast du die her?«, fragte Talmo.
»Das wird er Ihnen nicht sagen«, dröhnte eine tiefe Männerstimme. Sie gehörte einem Mann, der in diesem Augenblick die Treppe zum ersten Stock herunterkam. Sein Blick war zugleich väterlich und unbarmherzig. Er war klein, aber hatte eine sehr breite Statur und kräftige Oberarme. Die ergrauten kurzen Haar- und Bartstoppeln verrieten schließlich, dass er nicht mehr zu den Allerjüngsten gehörte.
»Was tun Sie hier in meinem Haus?«, donnerte er.
»Talmo Melisma ist mein Name.« Er streckte dem Mann die Hand entgegen.
»Wie schön, dass Sie einen Namen haben«, entgegnete der, ignorierte Talmos dargebotene Hand und funkelte ihn an. »Finuel Bá lautet meiner. Und Sie werden sich sehr schmerzhaft an ihn erinnern, wenn Sie mir nicht augenblicklich erklären, was hier vor sich geht!«
»Ihr Junge – Glin, wenn ich den Namen richtig mitbekommen habe – hatte sich etwas von mir geborgt. Aber wir haben das bereits unter uns ausgemacht.«
»Das war nicht zu überhören«, meinte Bá und bedachte Glin mit einem bitterbösen Blick. Er deutete auf das Bein des Jungen. »Geh und lass den Kratzer versorgen!«
Dann wandte er sich wieder Talmo zu und knurrte. »Dieser Junge hat die flinkesten Finger der Welt. Aber wenn ich bloß einen Viertel Kupferspeso für jede Flause bekäme, die er sich ausdenkt, wäre dieses Waisenhaus ein Palast.«
Talmo musste unwillkürlich grinsen über Bás Bemerkung. »Das mit den Flausen trifft sich gut. Denn genau darüber würde ich gerne mit Ihnen sprechen.«
3.
S
päter, als es Abend geworden war – als die Vorstellung der Herbstgänger vorüber und die letzten Zuschauer gegangen waren – saßen Talmo und der Junge auf einer Kaimauer und blickten auf das Pastellmeer hinaus. Ein warmer Wind aus der Wüste wehte sanft durch die Stadt und trug die Düfte von Gewürzen mit sich, bis er im Hafen schließlich den Wald aus Segelmasten zum Schaukeln brachte. Die von Chemistikern betriebenen Straßenlaternen glommen überall entlang des Ufers auf – goldgelbe Punkte, die sich beinahe wie Perlen in die Kulisse der sandfarbenen Stadt einfügten.
Die mechanische Grille lugte aus der Brusttasche des frischen Hemdes, das Glin trug. Dann krabbelte sie heraus, klickte leise und strich sich über die Drähte, die ihr als Fühler dienten. Sie waren aus einer Legierung, deren Zusammensetzung nur die Skyldar kannten. Das ganze Tier war übersät mit bislang nicht entzifferten Schriftzeichen.
»Wo hast du die Grille eigentlich her?«, fragte Talmo leise. Er bewunderte das kleine mechanische Tier und sprach beinahe ehrfürchtig von ihr.
»Ich habe sie immer schon gehabt. Sie war bereits bei mir, als man mich als Säugling bei Finuel abgegeben hat.«
»Und er hat sie dir nicht weggenommen?«, wunderte sich Talmo.
Glin schüttelte den Kopf. »Nein. Sie hat sich immer gut versteckt – oder Finuel hat sie versteckt, wenn es nötig wurde. Und als ich größer wurde, hat er mich eindringlich gewarnt, sie niemandem je zu zeigen. Damit die Leute sie nicht stehlen.«
»Ein erstaunlich gütiger Mann«, meinte Talmo nachdenklich. Es war in der Tat ungewöhnlich. Er hätte gewettet, dass jemand, der wie Finuel Bá ein Haus voller Waisenkinder zu versorgen hatte, für jede Einnahmequelle dankbar war. Und für den Erlös einer solchen Skyldar-Grille hätte er seine ganze Bande jahrelang durchfüttern können.
Die Grille fuhr indes fort, sich zu putzen.
»Ich habe sie Schönheit
genannt«, sagte Glin. »Weil sie sich immer sauber macht und oft ein wenig … eitel wirkt.«
»Schönheit«, sinnierte Talmo. »Das ist wirklich ein passender Name. Sie ist ja auch eine kleine Schönheit.«
»Und sie ist meine Freundin.«
»Sie hat dir oft geholfen, oder?«
»Immer mal wieder«, gab der Junge zu. »Aber das meiste haben Finuel und die älteren Kinder mir beigebracht. Stehlen, meine ich. Sie sagen, ich hätte besonders geschickte Finger. Schönheit habe ich nicht oft gebraucht. Sie hat ihren eigenen Kopf. Aber manchmal kann man sie auch um etwas bitten und sie tut es.«
»Verstehe.« Talmo nickte. Dieser Junge war so eigenartig, dass es schon beinahe an ein Wunder grenzte, dass er in einer rauen Stadt wie Abaste so lange unter Dieben überlebt hatte. Finuel Bá hatte sich den Jungen förmlich versilbern lassen. Talmo hatte tief in die Theaterkasse greifen müssen, um ihn mitnehmen zu dürfen. »Musstet ihr viel stehlen für Finuel?«
Glin zuckte die schmalen Achseln. »Jede Woche ein bisschen. Dafür hat Finuel uns aber auch Schreiben und Rechnen beigebracht und ein wenig Kochen und einige Benimmregeln der Kaufleute. Das hat das Stehlen leichter gemacht, weil man die Leute besser täuschen konnte.«
Talmo zog eine Augenbraue hoch. »Dieser Finuel wird in meiner Vorstellung immer ungewöhnlicher. Ihr passt gut zusammen. Ein ungewöhnlicher Waisenjunge und ein ungewöhnliches Waisenhaus.«
»Aber jetzt gehöre ich dir.«
»Bestimmt nicht.« Talmo packte ihn fest an beiden Schultern und sah ihm tief in die Augen. »Du gehörst niemandem
, junger Glin. Din Vestro, der Behüter aller Diebe und Gauner sei mein Zeuge. Wenn du willst, darfst du mich begleiten, ich würde mich sehr darüber freuen. Ich würde dir alles beibringen, was ich kann. Aber ich besitze dich nicht, Glin. Kein Mensch besitzt einen anderen.«
»Dann gehe ich mit dir«, sagte er Junge ohne zu zögern.
Finuel hatte gesagt, Glin wäre ungefähr neun Namenstage alt, auch wenn er schmächtig war und aussah, als wären es höchstens sieben. An seiner Aufgewecktheit konnte Talmo erkennen, dass Finuel ihn nicht belogen hatte.
Diebe unter Dieben
, dachte Talmo bei sich. Da bestahl ihn ein frecher Junge und er war auch noch so dumm und kaufte das Kind frei. Aus reiner Neugierde darauf, zu was für einem Steinchen im großen Mosaik der Welt ihn die Götter einst werden lassen würden.