INTERLUDIUM VI
Der Prinz von Tarsica
Aus Talmos Geschichte
Von Glin rekonstruiert anhand von Erzählungen und gefundenen Aufzeichnungen. Die Ereignisse des vorliegenden Abschnitts fanden statt in Tarsica, der nördlichsten der Amantinischen Republiken. Im Jahre 1006 nach Amantis. Sieben Jahre, bevor die Herbstgänger nach Mosmerano reisten.
1.
S
ie hat was getan?«, fragte Madeire ungläubig.
»Du hast schon richtig gehört«, entgegnete Arbo. »Sie ist die Klippen hochgeklettert, ohne Hilfsmittel, ohne Werkzeug.«
»Bei diesem Wetter?«
Arbo nickte. »Als wäre sie eine kleine Eidechse.«
Die Herbstgänger standen nachts im Schein mehrere chemistischer Glühkugeln um ein Mädchen. Sie war vielleicht acht Namenstage alt und trug einfache, mehrfach geflickte Sachen – und sie war klatschnass vom Regen. Sie blickte trotzig in die Runde.
Sie waren in Tarsica und spielten in dieser Saison Silvanis Der Kanzler und die Schäferin
(und planten nebenbei, ein renommiertes Wagenrennen zu ihren Gunsten zu manipulieren). Das Mechanische Theater hatten sie direkt oben an den berühmten Klippen der Stadt aufgebaut, in direkter Nachbarschaft zum Luftmarkt
und den Hängenden Siedlungen
.
Arbo hatte die erste Wache gehabt. »Ich habe sie eine ganze Weile beobachten können. Eigentlich habe ich sie nur durch einen Zufall entdeckt, weil ich aus Langeweile um das Theater herumgegangen bin – es rechnet ja keiner damit, dass jemand die Felswände hochklettern könnte. Dann habe ich eine Weile zugeschaut und erst, als die Kleine anfing, heimlich, still und leise das Theater zu durchsuchen, hab ich sie mir geschnappt.«
»Irgendwie zieht das Theater junge Diebe in diesem Alter an, kann das sein?«, meinte Talmo und zwinkerte Glin zu. »Beinahe so etwas wie eine Tradition.«
»Zur Tradition würde es erst, wenn wir sie auch bei uns aufnehmen würden«, ergänzte Glin.
Talmo ging vor dem Mädchen in die Hocke. »Also, wie heißt du?«
»Sira«, antwortete die Kleine.
Talmo nickte. »Sira also. Pass auf, kleine Sira, du hast genau zwei Möglichkeiten. Möglichkeit eins: Du machst bei uns mit. Jemanden, der selbst im strömenden Regen steile Klippen hochklettern kann, können wir sicher gut gebrauchen. Möglichkeit zwei: Du landest im Kerker der Erzherzogin.«
Das Mädchen schien zu überlegen. »Bei euch wirkt es eigentlich ganz nett. Aber ich nütze euch doch gar nichts. Ich bin keine Schauspielerin.«
»Das könnte man ja ändern.«
»Außerdem gehöre ich dem Prinzen. Und der lässt mich bestimmt nicht ziehen.«
Die Herbstgänger sahen einander an. »Welchem Prinzen?
«
2.
D
ie Amantinischen Republiken waren allesamt Wahlmonarchien. Erzherzog oder Erzherzogin wurde man nicht durch Erbe, sondern durch eine Wahl nach dem Ableben oder Abdanken des Vorgängers.
Folglich gab es keine
Prinzen oder Prinzessinnen in den Republiken.
Aber Sira erzählte von jemandem, der sich so nannte:
Der Prinz von Tarsica
war ein kräftiger Gauner, vielleicht achtzehn oder neunzehn Namenstage alt. Er residierte in einem längst nicht mehr gebrauchten und halb eingefallenen Speicher im alten Teil des Hafens der Stadt, dessen Stege und Buhnen unterhalb der Klippen ins Meer hinausragten. Der Speicher war ein Zufluchtsort für jene heimatlosen Kinder geworden, die in keinem der Waisenhäuser der Stadt Platz gefunden hatten.
Eines Tages war dann einer der älteren Jungen im Speicher auf die Idee gekommen, dass er doch gar nicht selbst zu stehlen brauchte, wo es doch genug jüngere Kinder gab, die das für ihn übernehmen konnten. Zusammen mit einem Kreis halbwüchsiger Schläger übernahm er den Speicher und herrschte von nun an über einen kleinen Staat von Miniaturdieben. Er organisierte warme, halbwegs genießbare Mahlzeiten und eine Matratze für jeden Bewohner des Speichers. Im Gegenzug stahlen die Kinder für ihn und seine Lakaien, die es sich – gemessen an ihren bisherigen Verhältnissen – recht gut gehen ließen. Und weil sie die Ältesten und Kräftigsten im Speicher waren, fiel es ihnen nicht schwer, jede Revolte bereits im Keim zu ersticken – oder im Hafenbecken zu ertränken.
Im Speicher angekommen, stellte Talmo sich in die Mitte des offenen Erdgeschosses.
»Ich will den Prinzen von Tarsica sprechen«, rief er laut.
Irgendwie komme ich mir selbst ein wenig lächerlich vor, wenn ich so etwas sage
, dachte er.
Trotzdem rief er wieder und wieder, bis endlich eine Abordnung stinkender Jungen vor ihm standen.
Der mit den breitesten Schultern, dessen Stirn eine breite Narbe zierte und der einen halben Kopf größer war als Talmo, trat vor.
»Was möchtest du hier?«, fragte er.
»Ich möchte dir die kleine Sira abkaufen.«
»Sira?«, der Prinz hob interessiert die Augenbrauen an. »Ich würde sagen: Sie ist unverkäuflich.«
Talmo seufzte. Er zückte eine Geldkatze und warf sie dem Prinzen von Tarsica hin. »Hier«, meinte er. »Das dürfte deine Unkosten für eine Weile decken.«
Der Prinz jedoch lachte nur und steckte die Geldkatze ein. »Dankeschön, du Idiot. Und jetzt: raus hier!«
»Erst möchte ich, dass das Mädchen mit mir kommt und dass keiner von euch Nichtsnutzen sie mehr belästigt.«
Der Prinz trat vor. »Pass mal auf, du komischer Vogel. Ich weiß zwar nicht, was du
denkst, was das hier ist, aber so läuft das nicht.«
Talmo lächelte ungerührt und als der Große nahe genug an ihn herangetreten war, rammte er ihm ansatzlos das Knie in den Unterleib. Der Oberkörper des Jungen ruckte nach vorn, woraufhin Talmo seine Haare ergriff und ihm das Knie diesmal ins Gesicht rammte. Und weil es so schön war, wiederholte er das noch zweimal. Als er losließ, plumpste der Prinz von Tarsica zur Seite und hielt sich mit der einen Hand die blutende, gebrochene Nase.
Hinter Talmo betraten nun Falk und Arbo den Speicher, gefolgt von Sira. Während die Mitglieder der königlichen Garde aus Grünschnäbeln sich noch unschlüssig ansahen, begannen die beiden erfahrenen Kämpfer, die Jungs auseinanderzunehmen.
Als wenig später alle Verbündeten des Prinzen am Boden lagen, beugte sich Talmo zu dem königlichen Quälgeist herab und nahm ihm die Geldkatze wieder ab. »Ich nehme die mal als kleine Aufwandsentschädigung wieder an mich. Sira kommt mit uns und ihr Jungs werdet einfach höflich vergessen, dass ihr gerade von einer Truppe fahrender Schauspieler vermöbelt worden seid.«
Als sie schließlich gingen, meinte Sira zu Talmo: »Du hättest ihm nicht verraten sollen, wer ihr seid. Der Prinz macht bestimmt nur Ärger.«
Doch Talmo blinzelte ihr zu. »Ach, mach dir darum mal keine Sorgen. Hat der Prinz eigentlich auch einen anderen Namen als Prinz
?«
»Bestimmt«, sagte Sira. »Aber wir mussten ihn immer mit Prinz
anreden.«
»Na immerhin nicht mit königliche Hoheit
oder so einem Schwachsinn.«
»Ich meine es ernst – der Prinz wird bestimmt wütend sein.«
»Soll er«, sagte Talmo bloß. »Soll er.«
3.
S
ira selbst war die Tochter eines Netzeknüpfers und einer Schneiderin im Dorf Attalerno, nicht weit von Tarsica. Dann waren dort die Violetten Blattern ausgebrochen. Aus Angst vor einer Ausbreitung der Krankheit hatten einige Dorfbewohner Feuer mit chemistischen Brandbeschleunigern gelegt … und dabei mehr oder minder den gesamten Ort in Schutt und Asche gelegt. Siras kranke Eltern hatten keine Chance gehabt, dem Inferno zu entkommen.
Sie selbst konnte sowohl vor der Epidemie als auch vor dem Feuer fliehen und hatte sich bis in die Stadt durchgeschlagen.
Das Talent zum Klettern hatte sie schon als kleines Mädchen gehabt.
Talmo hatte noch keine Ahnung, wozu er sie brauchen konnte – doch sie war wissbegierig und hatte von ihren Eltern schreiben und sogar etwas rechnen gelernt. Madeire sah in ihr bereits eine Kostümschneiderin, während Glin dem Mädchen gleich ein paar Klauen verpasste – mechanische Greifvorrichtungen, die kleine Spitzen in Holz treiben konnten oder mit Sägezähnen das Abrutschen auf schwierigen Untergründen verhinderten und unterstützt durch Spannfedern kräftiger zupacken konnten.
Den größten Gefallen taten ihr aber wohl Shalimo und Arbo, die sich anboten, das Mädchen zu adoptieren und bei sich im Wagen wohnen zu lassen.
Nun war es tiefe Nacht. Und als die erste brennende Flasche auf das Theater flog, hörte man lediglich lautes Johlen. Die Glasflasche zerplatzte auf dem Dach von Madeires Wagen und der brennende Alkohol lief zu allen Seiten herab – um samt und sonders zu verlöschen, noch bevor der erste Tropfen den Boden erreichte.
Das Jubeln geriet ins Stocken, doch dann loderten weitere Flammen auf und gleich mehrere Flaschen auf einmal flogen und zerplatzten an den Wagen des Mechanischen Theaters. Doch auch diesmal erloschen die Flammen beinahe so schnell, wie sie gekommen waren.
Irritiert, aber vor allem wütend, krempelte der Prinz von Tarsica die Ärmel hoch, betrat das Theater und stieg das Treppchen zur Tür des nächsten Wagens hinauf, um die Tür aufzureißen. Doch Falk war schneller und knallte ihm von innen die Tür seines Wagens ins Gesicht. Dann packte er den taumelnden Prinzen und warf ihn in die Mitte der Arena, die das Wagenrondell des Mechanischen Theaters bildete. Die Nase des Prinzen blutete erneut entsetzlich.
»Man kann dieses Theater nicht anzünden«, ertönte Talmos Stimme, blechern durch zwei mechanische Resonatoren auf den Wagendächern verstärkt. Und die junge Räuberbande zuckte zusammen, bevor Talmo ergänzte: »Außer, man weiß, wie es geht.«
Da entflammte ein Ring aus Feuer in der Mitte der Wagenburg und schloss die jungen Raufbolde ein. Die Flammen schlugen schulterhoch, sodass es unmöglich war, sie zu überspringen – und zwei Handvoll halbstarker Möchtegernschläger saßen nun in der Mitte des Theaters in der Falle.
Einer von ihnen schüttelte seine Starre ab und näherte sich dem Flammenring, doch er zuckte zurück, als ihn etwas stach. Zwei Atemzüge später brach er ohnmächtig zusammen.
Talmo betrat den Flammenkreis, ohne auch nur im Geringsten gefährdet zu sein. Er wischte sich das züngelnde Feuer bloß wie ein Stäubchen von der Schulter.
Zwei der Halbstarken wollten sich auf ihn stürzen. Auch sie legten sich augenblicklich ohnmächtig zum Schlafen nieder, bevor sie Talmo auch bloß nahe gekommen waren – ebenfalls getroffen von den winzigen Pfeilen der Blasrohre, die im Dunkel jenseits des Feuers auf sie gerichtet waren.
Talmo vollführte eine Verbeugung.
»Prinz von Tarsica, Hoheit«, begann er. »Hast du wirklich gedacht, ich würde mich mit einer Bande Kinder anlegen, wenn ich Angst vor euch hätte? Nur zu, versucht zu entkommen oder mir etwas anzutun! Entweder verbrennt ihr schreiend bei lebendigem Leibe oder ihr legt euch zu euren Freunden schlafen. Wenn ihr Letzeres vorzieht, werfen wir euch einfach von den Klippen.«
Während seine Gefolgsleute einige Schritte zurückwichen, blieb der Prinz trotzig in der Mitte des Flammenzirkels stehen und begegnete Talmos Blick. Der Blutschwall, den er mit der Hand in seiner Nase zurückbehielt, dämpfte seine Stimme. »Bist du ein verdammter Magier oder so etwas in der Art?«
Talmo wiegte den Kopf. »Sag du es mir.«
»Pah.« Der Prinz spuckte Blut vor ihm aus. »Du hältst dich wohl für besonders gerissen. Aber warte nur ab, bis ich einen von euch in die Finger bekomme.«
»Und dann was?«, fragte Talmo.
Der Prinz griff sich hastig ans rechte Bein, bevor es unter ihm wegbrach und er auf die Schulter fiel.
»Oh, die Dosierung war wohl etwas schwach«, meinte Talmo in gespieltem Bedauern. »Da ist wohl nur das Bein eingeschlafen, anstatt des ganzen Kerls.«
Talmo wandte sich an den Rest der Bande. »Also hört zu: Ich könnte euch im Handumdrehen heute Nacht samt und sonders aus eurem elenden Dasein erlösen. Ich könnte euch die Klippen hinunterwerfen oder euch im Schlaf jeden zweiten Finger amputieren und mir eine Kette daraus machen. Oder ich mache das nur mit der Hälfte von euch oder entscheide einfach per Münzwurf, wem ich ein Ohr abschneide und wem einen Fuß.« Die Jungs des Prinzen tauschten Blicke aus. »Ich könnte auch einfach bloß den Prinzen von der Klippe schubsen. Nur so zum Spaß, um zu sehen, wie sich Anarchie bei euch im Staate breit macht. Wer von euch wäre denn der nächste Prinz von Tarsica? Na? Keiner?« Die geweiteten Augen der Truppe sprachen Bände. »Ich könnte auch einfach regelmäßigen Tribut von euch fordern. Was haltet ihr von acht Zehnteln eurer Beute? Klingt eigentlich ziemlich gerecht, dafür, dass ich euch am Leben lasse.« Talmo schüttelte den Kopf. »Nein, Spaß beiseite, Jungs. Ihr seid ganz schöne Dreckskerle. Halbwüchsige Dreckskerle mit finsteren oder verängstigten Herzen. Aber ihr seid ja nicht blöd. Wir haben euch jetzt zweimal überrumpelt, obwohl die Initiative beide Male bei euch lag. Ihr habt es nicht mal geschafft, uns im Schlaf zu überraschen, was man darauf zurückführen kann, dass ich ein Magier bin; oder vielleicht bin ich auch ein verrückter Chemistiker, der das Feuer entstehen lassen kann, wie es ihm beliebt; oder es könnte auch einfach heißen, dass wir größere und gerissenere Dreckskerle sind als ihr.« Er wandte sich an den am Boden liegenden Prinzen. »Kannst du mir so weit folgen, Hoheit? Ich will gar nichts von euch. Du kannst dein elendes kleines Königreich von mir aus behalten. Nur das kleine Mädchen, das so gut klettern kann – das bleibt bei mir. Und wenn ich diese Stadt verlasse, werde ich sie mitnehmen. Sollte ihr während unseres Aufenthaltes in Tarsica etwas zustoßen oder sollte einem von uns etwas zustoßen oder sollte ich einfach bloß verdammt beschissene Laune haben – dann werdet ihr das büßen. Und glaub mir, ich bin sehr einfallsreich, was Bestrafungen angeht.«
Talmo verbeugte sich noch einmal theatralisch. »Ich denke, wir haben uns verstanden. Aber da ich etwas für die Ambitionen nachwachsender Künstler übrig habe, hier noch eine großzügige Lektion, die ihr miesen kleinen Halunken euch hinter die grünen Ohren schreiben könnt: Man wird nicht zu einem großen Räuber, indem man es in alle Welt hinausschreit, auf großem Fuß lebt und nichts Besseres weiß, als anderen immer bloß auf die Fresse zu hauen. Man wird dadurch ein großer Schurke, dass andere gar nicht wissen, dass man einer ist.«
Als auch der Rest der Bande schlafen gelegt worden war, verfrachteten Arbo und Falk den Prinzen und seine kleine Garde auf einen gemieteten Heuwagen, mit dem sie Futter für ihre Pferde herangeschafft hatten, und fuhren sie hinunter in den Hafen, wo sie sie in einer Gosse hinter ihrem Speicher abluden.
»Das waren verdammt gute Tricks«, sagte Sira, als sie die kleinen Gauner schließlich hinter sich gelassen hatten.
Talmo zwinkerte ihr zu. »Bedank dich bei Shalimo – die meisten der chemistischen Tricks gehen auf ihn zurück. Allerdings war dieses kleine Feuerwerk auch nicht ganz billig. Am besten, wir beginnen morgen mit dem Mathematikunterricht, damit du dir ausrechnen kannst, wie oft und wo du überall hinaufklettern musst, um uns die chemistischen Spielereien des heutigen Abends zurückzubezahlen.«