18. KAPITEL
Zwei Schakale zu viel
1.
K annst du Licht machen?«, fragte Glin.
»Pah.« Fenja musste lachen. »Ist das alles , was dir zu dieser Situation einfällt?«
Eine Kugel aus weißem Licht erschien und schwebte oberhalb ihrer Köpfe zwischen ihnen. Ihr Schein war ungefähr mit dem einer Pechfackel vergleichbar. Es reichte, um den Raum gerade so notdürftig zu erhellen.
»Du kannst mich nach Herzenslust beschimpfen, wenn wir hier heil rausgekommen sind.«
»Falls wir hier herauskommen«, flüsterte die Magierin.
»Kannst du das Licht ein wenig hierher bewegen? Wie lange kannst du diese Magie aufrechterhalten?«
Die Kugel wanderte durch die Luft und erhellte die Wand neben der Tür, an der Glin nach der Mechanik suchte, mit der sich die chemistischen Lampen entzünden ließen.
»Vielleicht eine Viertelstunde, wenn ich sie nicht allzu hell leuchten lasse.«
»Wenn es länger dauert, sind wir vermutlich ohnehin verloren.«
Fenja stapfte hinter Glin her durch das Wasser, das ihnen mittlerweile bis über die Knöchel reichte und langsam stieg.
Glin förderte zwei Dietriche zutage und versuchte, den Mechanismus auszulösen. Ohne Erfolg. Es war zu schummrig und er hatte keine Ahnung, auf welchem mechanischen Prinzip die Funktionsweise beruhte. Also langte er in seine Brusttasche, wo sich Schönheit augenblicklich an seine Finger klammerte.
»Hey, meine Schöne«, flüsterte Glin der Grille zu, als sie auf seiner Hand saß. »Ich finde den Schlüssel für das Licht nicht, kannst du mir vielleicht aushelfen?«
Die Grille zirpte leise und sprang von seiner Hand in die Öffnung neben der schweren Tür des Tresors, in die der Erzherzog vorhin seinen Schlüssel gesteckt haben musste. Es klickte und ratterte und wenig später gingen nach und nach die chemistischen Leuchten an.
»Du besitzt ein mechanisches Skyldartier?«, rief Fenja, während sie die Lichtkugel mit einem Fingerwischen verschwinden ließ. »Verflucht, Glin. Und dann willst du noch etwas aus dem Tresor des Erzherzogs stehlen? Du könntest die Grille verkaufen und dir ein ziemlich großartiges Leben von dem Erlös gönnen.«
»Schönheit verkauft man nicht«, erwiderte Glin. »Sie ist eine Freundin.«
»Ob deine mechanische Freundin dir einen Grabstein kaufen wird, wenn sie den kleinen Tauchgang überlebt, den wir gleich unternehmen?«
Glin suchte die Tür des Tresors von oben nach unten ab. »Wir sollten langsam etwas unternehmen. Kannst du diese Marmorplatte hier wegsprengen?«
Binnen eines Atemzugs flog ihm der grüne Stein um die Ohren und er spuckte Staub. »Danke.«
»Du wolltest es so. Und wozu war das jetzt gut?« Unter der Marmorplatte war lediglich blanker Stahl zum Vorschein gekommen.
Es gibt keine Möglichkeit, die Mechanik für die vermaledeite Tür von innen auszulösen.
So richtig hatte Glin auch nicht damit gerechnet, dazu waren die Arbeiten des Meisters von Birkenau zu perfekt. Aber eine minimale Hoffnung hatte er gehegt. »Gut, versuchen wir es anders.«
»Kann deine Grille nicht den Tresor knacken?«
»Ich fürchte nicht.« Aber er sah Schönheit an. »Oder kannst du irgendwo doch einen Zugang zum Inneren der Tür finden?«
Die kleine mechanische Grille sprang fort und machte sich augenblicklich auf die Suche.
»Komm mit!«, sagte Glin zu Fenja und stürmte in den zweiten Raum hinter der Gemäldeausstellung. Hier stapelten sich Truhen und Kisten übereinander. »Ah, alles aus bestem Stahl, vermutlich auch noch chemistisch behandelt – damit bloß nichts zu Schaden kommt, wenn Borgessa hier mal jemanden ersäufen lässt – genau wie bei seinen Bildern.«
Er zog an einer flachen Truhe, doch die erwies sich als deutlich zu schwer.
»Wie viele Edelsteine hast du noch dabei?«
»Zwei. Und die Reste von einem dritten.«
»Was kann man damit tun?«
»Was willst du denn damit anstellen?«
»Moment noch!«
Er kletterte einen Stapel stählerner Kisten hinauf, um bis zum westlichsten Teil der Marmordecke zu kommen. Dort waren breite Spalten eingelassen, durch die das Wasser ungebremst in den Raum strömte. Glins Schuhe schmatzten und seine Hosenbeine waren vollgesogen, als er an den Öffnungen ankam. Doch das Lagunenwasser drang mit solcher Heftigkeit ein, dass er keine Chance hatte, eine Hand in einen der Spalte zu stecken.
»Kannst du in einer dieser Öffnungen das Wasser einen Moment lang anhalten?«
Wenige Herzschläge später stoppte das Wasser in dem Spalt vor Glin. Doch als er hineingreifen wollte, schoss es wieder mit voller Wucht heraus. Er verlor den Halt, stolperte und fiel die Kisten hinunter, um mit einem lauten Platschen in dem wadentiefen Wasser aufzuschlagen. Es war eiskalt.
»Tut mir leid«, sagte Fenja. »Da ist so viel Druck drauf, die Steine waren im Nu verbraucht.«
»Grundgütige Götter«, stöhnte Glin, während er sich in dem Wasser hochrappelte. Der Sturz hatte zum Glück nicht wehgetan, aber er hatte ihn frustriert. Er zog seine vollgesogene Jacke aus. »Wenn das wirklich der Wasserdruck der gesamten Lagune ist, von der aus es eingelassen wird, dann haben wir hier auch keine Chance, uns dagegenzustemmen. Gut – lass mich überlegen, was wir stattdessen machen.«
»Überleg schneller!«, drängte Fenja. Nun schwang Panik in ihrer Stimme mit.
»Schönheit«, rief Glin und stapfte durch das Wasser in den ersten Raum. »Wo bist du? Ich glaube, ich brauche dich hier dringender.«
Im Nu war die mechanische Grille ihm auf die Schulter gesprungen. Sie zirpte und gestikulierte mit den Beinchen als wollte sie sich entschuldigend erklären.
»Schon gut, Kleine«, meinte Glin. »Ich mache dir keinen Vorwurf. Die Tresortür ist vermutlich auch für dich eine Nummer zu groß. Aber ich habe ein paar andere Schlösser hier, die ich sehr, sehr schnell knacken muss.«
Er eilte zurück in den Raum mit den abgedichteten Kisten und bearbeitete das Schloss der nächstbesten mit seinen Dietrichen.
»Was machst du denn da, verdammt?«, wollte Fenja wissen.
»Schlösser knacken. Ich bin ganz gut darin.«
»Das sind die falschen Schlösser – wir müssen aus der großen Tür raus, falls es dir noch nicht aufgefallen ist.«
Das Schloss, das den abgedichteten Deckel fest auf den Korpus der kastenförmigen Truhe drückte, sprang auf. Glin stieß den Deckel fort – doch alles, was er zu sehen bekam, waren Papiere. Er nahm eines in die Hand und entzifferte irgendwelche Zeilen, die verdächtig nach Buchhaltung aussahen. Oder waren es Wertpapiere? Egal!
»Mist«, murmelte er. Dann hielt er inne und überlegte. Um ihn herum stieg das Wasser. Es ging längst bis zu den Oberschenkeln.
»Was ist Mist? Was, verdammt?«, schrie Fenja. »Wir haben keine Steine mehr und wir ersaufen hier drin wie Ratten in der Kanalisation. Ich dachte, du hast eine Idee mit deiner Skyldargrille.«
»Ja«, meinte Glin und sah sich um. Die Kisten und Truhen standen übereinander, allein vom Gewicht her konnte er nicht auf den Inhalt schließen. »Schönheit knackt so viele Schlösser wie möglich und du öffnest die Deckel. Ich mache das Gleiche.«
»Was soll das bringen? Willst du Boote bauen?«
»Nein. Und jede Frage, die du stellst, kostet uns Zeit. Aber wenn Borgessa diesen verflucht sicheren Tresor wirklich als Schatzkammer verwendet, dann sind vielleicht auch Edelsteine unter den Sachen hier. Er hat Schmuckstücke erwähnt.«
Fenjas Gesicht hellte sich auf. »Hoffen wir, dass du recht hast.«
»Beten könnte auch helfen«, meinte Glin und machte sich ans Werk, um in Rekordzeit ein Schloss nach dem anderen aufzubrechen. Er kam sich vor wie bei einem Wettbewerb dafür. Und zu allem Überfluss waren die Schlösser hier nicht von der billigen Machart. Er fragte sich sogar zwischenzeitlich, wer wohl den zugehörigen enormen Schlüsselbund verwahren mochte. Borgessa selbst? Als perfides Spielchen, bei dem niemand anderes außer ihm selbst wusste, welche von Dutzenden oder gar Hunderten Truhen mit welchem Schlüssel zu öffnen war? Der Erzherzog prahlte ja mit seinem Gedächtnis und seinem Hang zur Geheimniskrämerei.
In Glins Rücken gaben die Schlösser unter der Bearbeitung der kleinen Grille nach, während Fenja immer lauter fluchte, wenn sie wieder nur Münzen, Barren oder schlimmstenfalls nur die Papiere irgendeines Archivs fand. Die untersten Truhen waren ohnehin nicht mehr zu erreichen, ohne dass sie tauchen mussten – und Glin fürchtete obendrein, dass ab einem bestimmten Pegelstand die chemistische Beleuchtung ausfallen würde.
»Sieh es mal so«, rief er über das Wasser hinweg. »Wenn wir hier drin ertrinken, dann haben wir zumindest ein gehöriges Chaos angerichtet. Borgessa wird fluchen wie ein ganzer Schwarm seiner weißen Krähen. Er hat das Zeug hier ja extra wasserdicht eingelagert, um Eindringlinge im Notfall jämmerlich ersaufen zu lassen.«
»Wenn du nicht aufhörst zu reden und verflucht nochmal schneller arbeitest, bewahre ich dich vor dem Ertrinken, Glin Melisma – indem ich dich vorher erschlage!«
»Danke, ich verzichte«, murmelte Glin und stemmte den nächsten Truhendeckel auf, nur um ein Dutzend Armbänder zu finden. Einige waren jedoch mit Brillanten besetzt. »Hier. Kannst du damit schon mal etwas anfangen?«
Fenja stieß sich ab und schwamm zu ihm herüber. »Was soll ich denn damit machen? Noch mehr Licht?«
»Oder du sprengst eine Reihe Schlösser auf«, schlug Glin ihr vor.
Sie grunzte und nahm eines der Schmuckstücke in die Hand. Eine Fingerbewegung später warf sie es wütend zurück in die Truhe. »Die Edelsteine sind versiegelt.«
»Mist.«
Sie kämpfte sich halb schwimmend zurück zu der Stahlkiste, deren Schloss Schönheit in der Zwischenzeit entriegelt hatte, und stemmte den Deckel auf. Glin arbeitete derweil wie besessen an einer Truhe von der Größe eines Rucksacks, deren Schloss ein besonders hakeliger Mechanismus zugrunde lag. Das Schlösserknacken würde er auf der Sonnenlosen Straße wohl vermissen – und seine kleine mechanische Grille ebenfalls. Bald würde er den Halt unter den Füßen verlieren und er würde schwimmend fortfahren müssen, jene Schlösser zu öffnen, die noch nicht unter der Wasseroberfläche lagen.
Da ertönte ein schriller Schrei.
Er fuhr herum. »Fenja! Was ist passiert?!«
»Sie sind alle unversiegelt«, schrie die Magierin bloß wie von Sinnen. Und tauchte ihre Hand in eine Kiste, so groß wie ein Eimer. Als sie die Faust wieder herauszog, hielt sie jede Menge Smaragde in der Hand, die zwischen ihren Fingern hervorquollen. Grün, glänzend, funkelnd. Sie lachte glückselig. »Das ganze verdammte Ding ist voller unversiegelter Steine.«
Und Glin spürte, wie sich der Griff einer Bärenfalle löste, die sich kalt um sein Herz gelegt hatte.
Das hier war also doch nicht das Ende. Danke, Din Vestro! Ich werde dir die Beute des gesamten nächsten Coups opfern müssen, um auch nur einen Teil meiner Schuld wieder abzutragen.
Schönheit sprang über die zwei Truhen, die aus dem Wasser ragten, hinweg und landete auf Glins durchnässter Schulter. Ihr Zirpen war beinahe zärtlich.
2.
D as Zischen und Ächzen der mächtigen Stahltür drang erst nach draußen, kurz bevor die Angeln und Dichtungen durchgeglüht waren. Den Rest erledigte der enorme Wasserdruck, der sich im Inneren der Tresorkammern aufgebaut hatte. Die Tür wurde nach außen weggedrückt und eine Sturzflut ergoss sich in den Gang. Wer nicht von dem Ungetüm von Tür erschlagen wurde, der wurde von den Wassermassen fortgeschwemmt, die eine verheerende Kraft entwickelt hatten. Mit vernichtender Gewalt rissen sie alles um oder drückten fort, was sich ihnen in den Weg stellte.
Chaos und Panik brachen in den Kellergeschossen und unter den Wachmannschaften des Palastes aus.
Geschrei wurde laut.
Ein Anschlag!
Und auch wenn die Garden des Erzherzogs versuchten, nach oben hin alle zu beschwichtigen, um bloß das Fest nicht zu unterbrechen, machte sich doch Unruhe unter den Gästen breit. Viele brachten fadenscheinige Entschuldigungen vor, um überhastet abzureisen, und wer blieb, dem gelang es kaum, die eigene Verunsicherung zu verbergen und stattdessen standhaft oder gar unbeteiligt zu wirken.
Als die ersten bewaffneten Gardisten es schafften, den Fluten im Kellergeschoss zu trotzen und bis zu ihrer Quelle vorzudringen, fanden sie lediglich den verwüsteten Innenraum des Tresors vor. Stählerne Kisten und Truhen waren heillos durcheinandergewirbelt und im hinteren Bereich klafften Löcher in der Decke, durch die weiter große Wassermengen nachströmten.
Lediglich die Sammlung seltener Gemälde, Figurinen und Skulpturen in ihren ebenso eigenartigen wie teuren Glaskästen schien zum größten Teil unbeschädigt zu sein. Nur eine Handvoll der gläsernen Schutzhüllen war so in Mitleidenschaft gezogen oder gar zerstört, dass die Kunstwerke im Inneren auf immer verloren waren.
Verletzte wurden versorgt und es wurde nach Priestern gerufen für jene Unglücklichen, die von der Tresortür oder einem anderen Gegenstand in den Tod gerissen worden waren. Zwei der Toten waren nackt, als hätten die entfesselten Naturgewalten der Lagune sie entkleidet.
Die unteren Geschosse des herzoglichen Palastes von Mosmerano glichen einem Schlachtfeld nach dem Krieg, übersät mit Trümmern und Körpern.
Für Diebe hingegen gab es kein besseres Versteck als das allgemeine Durcheinander. Und so bemerkte niemand einen dünnen Mann und eine Frau in durchnässten Uniformen und mit prall gefüllten Tornistern, die über zuvor einstudierte Routen aus Nebengängen und Botenwegen den Palast verließen. Hinter ihnen herrschte das Chaos. Überall dort, wo man sich sonst so sehr um Contenance bemühte. Es war ein Desaster, dem die beiden Diebe am späten Abend entkamen – heilfroh, selbst am Leben zu sein.
Glin hatte ein stilles Dankgebet an Din Vestro auf den Lippen, während sie so würdevoll, wie es eben ging, die Hochwohlgeborene Insel durchquerten und sich in südlicher Richtung hielten. Die Straßen des mit Villen und prächtigen Palazzi übersäten Stadtteils waren nahezu verwaist. Jeder, der auch nur etwas auf seinen Stand hielt, war irgendwo zu irgendeiner Feierlichkeit eingeladen – wenn nicht sogar zum Ball des Erzherzogs selbst. Und Fenja und Glin huschten durch die tiefsten Schatten, die sich ihnen boten.
Wenn man in Mosmerano nicht über ein Boot verfügte, führte der einzige Weg von einer Insel zur nächsten immer über eine Brücke. Und Brücken waren Flaschenhälse, an denen sich alles verengte und staute, hier ging es nur vor oder zurück, wenn man nicht nach links oder rechts ins Wasser sprang. Und gleichfalls Nadelöhre waren jene kleinen Plätze und Straßenkreuzungen, die vor den Brücken lagen. Kurzum: Wollte man in Mosmerano jemanden am Fortgehen hindern, dann übernahm man die Kontrolle über einen Brückenzugang.
Die Piazza Pisello war prädestiniert dafür. Der Platz lag geradewegs vor der Brücke, die den Übergang zur Insel der Speichellecker markierte. Er war nicht groß und in schicken Mustern gepflastert – nur etwa doppelt so breit wie die Straße und erhellt von chemistischen Straßenlaternen.
Glin und Fenja preschten aus dem Garten einer Wohnanlage über den Hofeingang und direkt auf die Hauptstraße, die in die Piazza Pisello mündete. Dann mussten sie bremsen, denn vor der Brücke hatte sich jemand breitbeinig aufgebaut.
Gedämpft wurden die Geräusche der Feierlichkeiten aus anderen Vierteln von dem nächtlichen Sommerwind über die Lagune getragen. Jener Wind ließ den Gehrock, die Robe und die langen Haare der Gestalt flattern. Im Schein der Straßenlaternen waren sie von einem noch unheimlicheren Rot als bei Tageslicht.
Aurinius von Veelyn hatte die Arme vor der Brust verschränkt.
Langsamen Schrittes traten Fenja und Glin in die Mitte der kleinen Piazza.
»Ein ganz schönes Chaos haben Sie da hinterlassen, Glin«, sprach der Magier langsam. »Wie geschickt, sich in Gardeuniformen hinauszuschleichen.«
»So sind wir eben«, entgegnete Glin. »Ich würde sagen, wir haben unseren Auftrag erfüllt.«
»Das ist richtig. Ich verteile nur ungern Komplimente, aber in diesem Fall muss ich es wohl tun.«
»Der Krieg mit einem Skyldarmonster ist abgeblasen, alle Beteiligten sind am Leben – eigentlich könnten wir uns an dieser Stelle verabschieden und uns daran erfreuen, dass keiner von uns den anderen jemals wiedersehen muss.«
»Zuerst überlassen Sie mir den Herzstein, Glin«, sagte der Magier.
Aus den Schatten der Hauseingänge links und rechts der Brücke traten Gestalten heran. Sie alle trugen Uniformen – so weit geschnitten, dass schnellste Bewegungen möglich waren. Sie hatten metallene Schakalmasken mit spitz zulaufenden Schnauzen auf.
»Was ist, wenn ich den Herzstein einfach in der Lagune versenkt habe?«, fragte Glin.
Aurinius’ Brauen zogen sich zusammen und seine goldenen Augen funkelten. »Das wäre ziemlich bedauerlich.«
Glin setzte seinen Tornister ab. »Hier, schauen Sie rein. Sie werden nichts finden. Und wenn Sie mich abtasten wollen … bitte sehr. Mich von Ihnen berühren zu lassen, stelle ich mir zwar ziemlich widerlich vor … aber durch manche Dinge muss man eben durch.«
»Was halten Sie davon, wenn ich Sie einfach töte und mir dann ansehe, was Sie so am Körper tragen?«
»In diesem Fall würde ich etwas anderes vorschlagen: Wie wäre es, wenn ich Ihnen jetzt sage, dass ich den Herzstein versteckt habe und der Einzige bin, der weiß, wo er ist?«
»Sie bluffen, Glin. Das können Sie zwar nicht schlecht, aber Sie vergessen, dass ich den Mann sehr gut kannte, von dem Sie das gelernt haben: Talmo Melisma.«
Glin seufzte. »Also schön. Ich würde gerne am Leben bleiben. Was halten Sie davon?«, sagte er frei heraus.
Aurinius begann zu feixen. Höhnend und schmutzig lachte er, wie die üblen Gegenspieler der romantisierten Helden es gerne taten – dies erinnerte an jene Theaterstücke, die das Mechanische Theater all die Jahre über aufgeführt hatte. Talmos Gildenabzeichen, das um Aurinius’ Hals baumelte, setzte dem Spott die Krone auf.
Auch der Blick in die Runde war bedrückend. Glin sah von einer ausdruckslosen Maske zur anderen. Die Schakale von Jaerhella – gefürchtet und tödlich.
»Sehr witzig«, unterbrach Glin den Magier, als dessen Gelächter allmählich verebbte. »Es gibt also keine Möglichkeit für mich, mit Ihnen zu verhandeln?«
Aurinius tat, als müsse er sich Tränen der Heiterkeit aus den Augenwinkeln wischen. »Sie haben doch nie ernsthaft geglaubt, dass ich Sie mit all dem Wissen, das ich Ihnen anvertraut habe, einfach davonkommen lasse? Haben Sie wirklich angenommen, ich könnte zulassen, dass diese Dinge öffentlich werden, weil ein begabter, aber unbeherrschter kleiner Mechanist seine vorlaute Klappe nicht halten kann, mit der die Götter ihn verflucht haben? Nein, Glin. So leid es mir tut, Ihr Talent vergeudet zu wissen, aber ich kann Sie nicht am Leben lassen, selbst wenn ich wollte.«
Nun reichte Glin das Possenspiel. »Sie irren sich, Aurinius. Ich behaupte genau das Gegenteil: Sie haben doch nicht ernsthaft geglaubt, dass ich Sie so einfach davonkommen lasse.«
Der Magier sah irritiert drein, doch Glin war noch nicht fertig. »Sie waren es schließlich, der meine Freunde ermordet hat. Und auch wenn Sie sich einreden, dass alles einem höheren Zweck dient – es hat Ihnen auch noch Freude bereitet und Befriedigung verschafft, Sie widerlicher Scheißkerl. Ich bin es, der Sie nicht davonkommen lässt!«
Aurinius legte den Kopf schief. »Soll ich jetzt etwa wieder anfangen zu lachen?«
Glin schüttelte den Kopf. »Ich wusste ganz genau, wo Sie mir auflauern würden. Die Piazza Pisello ist der perfekte Ort für einen Hinterhalt. Verraten Sie mir, Aurinius: Mit wie vielen Schakalen sind Sie vor Wochen nach Mosmerano angereist? Nach meinen Informationen waren es acht. Zwei davon sind tot, einer wird noch von den Paiendraschwestern aufgepäppelt. Macht nach meiner Rechnung fünf. Aber wieso zähle ich sieben Schakalmasken?«
Aurinius’ Augen weiteten sich. Blitzschnell wirbelten die Schakalkrieger herum, doch die beiden zusätzlichen Schakale, die hinter ihnen leise aus den Schatten getreten waren, schossen bereits ihre Armbrustbolzen ab.
Zwei Krieger brachen zusammen, noch bevor sie die Chance hatten, auch bloß die Arme zu heben. Ein weiterer flog in hohem Bogen krachend gegen die nächste Hauswand, als Fenjas Magie ihn dorthin schleuderte.
In der Hand eines der der beiden neu aufgetauchten Schakale erschien eine Schwertklinge, die sich binnen weniger Wimpernschläge allein aus dem Griffstück heraus in einer komplizierten Faltmechanik zusammensetzte. Die Waffe gab einen singend-summenden Ton von sich, als sich ihre Herrin ins Duell mit einem weiteren Maskenträger stürzte.
Der letzte Schakal wollte seinem Kameraden zu Hilfe eilen, doch Glin zog den Paradesäbel vom Gehänge seiner Uniform und warf ihn etwas ungelenk zwischen die Beine des Schakals – der sich als Kriegerin entpuppte. Stolpernd landete sie auf dem Straßenpflaster.
»Sie von allen Göttern verfluchtes kleines Stück Dreck«, knurrte Aurinius Glin an.
»Gesegnet träfe es vielleicht eher«, konterte Glin und bereute seine Unverschämtheit umgehend, als Aurinius ihn mittels einer magischen Druckwelle auf das Pflaster der Piazza schickte.
Eine erste Attacke von Fenja wehrte er irgendwie ab, doch die Magierin beschwor wie schon in der Wohnung eine Art gleißenden Blitzstrahl herauf, der auf Aurinius’ eigene magische Energie traf – und das bizarre Kräftemessen begann erneut, wie schon in der Wohnung über dem Blütenpalast. Glin hoffte, dass Fenjas bis zum Rand mit Smaragden gefüllter Tornister ausreichen würde, um Aurinius eine Weile standzuhalten. Während die Piazza Pisello in flackerndes Licht getaucht wurde und krachende magische Funken in alle Richtungen stoben, schnappte sich Glin den liegengebliebenen Säbel und kam Madeire in ihrer Schakaluniform zu Hilfe.
Madeire, die zwar das Bühnenfechten beherrschte, kam in Bedrängnis gegen die Schakalsöldnerin, die geschwind wieder auf die Beine gekommen war. Die Schakale hatten ihren Ruf nicht von ungefähr. Es schien ihrer Gegnerin ein Leichtes, sie nicht bloß beide gleichzeitig in Schach zu halten, sondern sie obendrein auch noch beide auf einmal in die Defensive zu drängen. Den blitzschnellen Drehungen und Pirouetten sowie der Fähigkeit, jeden abgeblockten Streich irgendwie doch postwendend wieder in eine Attacke umzumünzen, hatten Madeire und Glin nicht viel entgegenzusetzen.
Das Knistern und Krachen der magischen Blitze erstarb hinter ihnen und plötzlich wurde Glin gleichsam am Kragen rückwärts aus dem Geschehen gezogen. Er blieb kopfüber in der Luft vor Aurinius schweben – Fenja war verschwunden. Einfach fort.
Aurinius war wieder Herr der Lage. Geschwind hatte der Magier Glins Taschen inspiziert und sich enttäuscht vergewissert, dass der den Herzstein tatsächlich nicht am Körper trug. Nun fiel der goldene Blick des Magiers auf den abgestellten Soldatentornister. Er ließ Glin auf den Kopf fallen – Schmerz und bunte Lichter flammten vor dessen Augen auf.
Bei den Göttern, er hat ihn , dachte Glin, doch vor seinem Blick tanzten farbige Schlieren auf rotem Grund und schränkten sein Gesichtsfeld ein.
Er wollte sich hochstemmen, doch der Schwindel machte es unmöglich.
Was ist passiert? Wo bei allen sieben Göttern ist Fenja? Wie schlägt sich Madeire? Warum höre ich das Singen von Wehklage nicht mehr?
Endlich erbrach er sich, würgte und würgte, bis sich vor ihm ein gelber Teppich aus stinkendem Mageninhalt gebildet hatte. Nein, er durfte nicht erschöpft den Kopf sinken lassen. Also kämpfte er mit aller Macht gegen den Schwindel, sodass er wenigstens mit dem Oberkörper hochkam.
Dann folgte ein Donnerschlag. Dumpf und kraftvoll. Entfesselte magische Energie fegte ringsum alle von den Füßen. Kraftlos kippte auch Glin wieder um.
In der Mitte über ihnen allen stand Aurinius, in der linken Faust den schwarzen Herzstein.
Selbstverständlich hatte Glin geblufft. Der Stein war in seinem Tornister gewesen.
Doch der Magier verschwendete hier nicht länger seine Zeit. Er drehte sich um, begann zu laufen und verschwand über die Brücke in südliche Richtung.
Glins Sichtfeld verschwamm an den Rändern.
Ist es vorbei?
Kann es das tatsächlich gewesen sein?
Was konnte er schon gegen diesen rothaarigen Dämon von Magier ausrichten, der es mit ihnen allen gleichzeitig aufgenommen hatte?
Vielleicht sollten sie es tatsächlich gut sein lassen, wie Yrrein vorgeschlagen hatte. Sie konnten weit fortgehen. Auf die Neunundneunzig Inseln, in die Waldungen, nach Daworje – dort könnte Yrrein unter falschem Namen sesshaft werden, so wie sie es immer gewollt hatte.
Yrrein … Der Name, der geliebten Freundin war ein schöner Gedanke, um wegzudämmern.
»Glin?« Jemand klatschte ihm wiederholt auf die Wange. »Glin!«
Es folgte ein ungeduldiges Trippeln und Pieksen auf seiner Wange.
Mühsam schob Glin die Lider auseinander und Schönheit machte einen Satz von seinem Gesicht auf seine Brust.
Er blinzelte und blickte in den Himmel über der Stadt. Yrrein kniete über ihm, ihre Schakalmaske war fort. »Den Göttern sei Dank, du bist einfach nur umgekippt. Jetzt ist aber keine Zeit zum Schlafen. Komm schon!«
Sie zog ihn an den Armen hoch, bis er saß. »W- was hat Madeire?«
»Einen Schnitt an der Hüfte. Ist nicht so schlimm. Sie hat sich tapfer geschlagen.«
»Aurinius hat –«
»Ja, ich hab gesehen, was er getan hat.«
»Hat er Fenja getötet?«
Yrrein zog die Brauen zusammen. »Die feige Magierin ist einfach abgehauen.«
Seine Beine fühlten sich wackelig an, als sie ihm aufhalf.
»Warum hilfst du Madeire eigentlich nicht?«, fragte er.
»Ich muss einen verdammten Magier jagen«, entgegnete sie. »Sonst lässt er uns nie in Frieden.«
Und damit ließ sie ihn in der Mitte der Piazza Pisello stehen.
»Nein«, hauchte Glin fassungslos und blickte Yrrein nach, wie sie mit ihren katzenhaften großen Schritten und mit wehender Schakaluniform über die Brücke eilte.
Das durfte sie nicht. Sie durfte Aurinius nicht nachjagen. Nicht jetzt, wo alles beinahe vorbei war. Glin würde sie verlieren.
Nein, das werde ich nicht!
»Nein«, schrie er. Die Panik rief neue Lebensgeister in ihm hervor. »Nein!«
Er sah sich um und sah Madeire gegen einen Türpfosten gelehnt, die Hand auf ihre Seite gepresst. Die letzten Schritte zu ihr rutschte er beinahe auf den Knien über das Pflaster. »Madeire, bitte stirb mir hier nicht einfach weg.«
Die Diva hatte ihre Schakalmaske ebenfalls abgenommen und lachte trocken. »Ich komme schon klar!«
Glin warf einen Blick auf ihre vom Blut nassen Finger. So viel Blut kam nicht ausschließlich von einem oberflächlichen Schnitt an der Hüfte. »Bist du sicher?«
»Hier liegen genug Tote herum und ihre Gewänder reichen für mehrere Dutzend Druckverbände. Kümmere dich nicht um mich!«
»Ich kann nicht noch mehr Herbstgänger verlieren. Es geht einfach nicht.«
Unerwartet klatschte Madeire ihm einen ihrer Lederhandschuhe ins Gesicht. »Hier, nimm das!« Sie pulte mit schmierigen Fingern an einer großen Armschiene herum, die unter dem weiten Ärmel der Robe verborgen lag. Glin erkannte sie augenblicklich: Es war ein Teil der Greifenrüstung – mit versteckten Klingen und Seilfeder. Madeire riss das Ding mehr oder weniger von ihrem Arm. »Die zweite davon hat Yrrein. Und jetzt sieh zu, dass du sie wieder einfängst! Ansonsten wirst du dir dein ganzes Leben lang Vorwürfe machen, Glin!«
Der Dieb zögerte kurz.
Die Schakale schienen alle tot oder bewusstlos.
Er blickte zurück zu Madeire, deren Augen von Tränen glänzten – sie hatte offensichtlich starke Schmerzen. Es fiel ihm schwer, sie so zurückzulassen.
»Mach schon!«, knurrte sie ihn an. »Ich habe keine Angst vor der Sonnenlosen Straße – nur davor, dass das Essen dort vielleicht schlecht ist.«
Glin versuchte über ihren Galgenhumor zu lachen, es gelang ihm nicht.
Doch schließlich nickte er.
Er konnte Yrrein noch viel weniger gehen lassen.
Niemals, wenn er ehrlich war.
Nach den ersten unsicheren Schritten verfiel er bereits ins Laufen. Es gab nur noch ein einziges Ziel in der heutigen Nacht.
Er küsste seinen Handrücken, berührte mit ihm seine Stirn und schickte ein kurzes Gebet in Richtung Din Vestro.