19. KAPITEL
Die Lagune
1.
D
ie Stadt lag vor ihm wie ein Labyrinth aus Lichtern und Masken. Glin stolperte vorwärts, so schnell er eben konnte. An jeder Straßenecke und hinter jedem Häuserblock suchte er den Spinnturm am Horizont und hastete darauf zu. Auf der Zunge lagen ihm eine Reihe Gebete und Gelöbnisse an die Götterwelt, sie mögen Yrrein doch vor dem Allerschlimmsten behüten. Aber nichts davon sprach er aus. Die Götter hatten sicher bereits entschieden, ob sie Glin wohlwollend bedenken würden.
Auf der Insel der Speichellecker waren die Straßen noch beinahe leer gewesen. Glin war es gelegen gekommen, denn so hatte er den Weg nutzen können, um seine Benommenheit abzuschütteln und die Armschiene festzuziehen, die mit einem seiner mechanischen Enterhaken bestückt war.
Doch sobald er auf die Marktinsel kam, wurde er beinahe von der Menge an Menschen erdrückt, die sich hier drängte. Mondmagier, Scharlachrote Pantomimen, Fischersoldaten und Seidenfrauen verstopften selbst die größten Marktplätze und machten sie kaum passierbar. Glin schob und zerrte und kämpfte sich Stück für Stück vorwärts. In Erwartung des großen Feuerwerks, das traditionell am ersten Abend des Festes vom herzoglichen Palast aus in den Himmel steigen würde, trieb es die Mosmerani nach draußen. Alle Orte, von denen aus man eine gute Sicht auf die Hochwohlgeborene Insel und den Palast hatte, waren begehrt.
Glin wusste nicht, ob das Feuerwerk nach den Unruhen im Palast überhaupt stattfinden würde – doch er mutmaßte, dass Borgessa sich keine Blöße geben würde.
Die Menschen um ihn herum waren ausgelassen – Gerüchte von einem Unglück im Palast hatten sich offensichtlich bislang nicht herumgesprochen.
Glin schob weitere Kostümierte beiseite und versuchte, ausgerechnet jenen unheimlichen Ort zu erreichen, von dem aus man den allerbesten Blick auf den Palast haben musste. Er hoffte, dass sich keine Wagemutigen oder verliebten Dummköpfe dort oben herumtrieben, um das Feuerwerk zu bestaunen, wenn der Magier den Turm erreichte. Vielleicht war Aurinius auch schon längst dort? Glin hatte durch das Gedränge das Gefühl für die Zeit verloren.
Vor allem anderen aber hoffte er inständig, dass Yrrein nichts geschah.
Zur Piazza des Wassers hin nahm die Dichte der Feiernden ab. Der Spinnturm ragte erhaben, aber nun zum ersten Mal auch bedrohlich über der Szenerie auf. Glin lief an der Kaimauer entlang zu jener Stelle, an der eines der gigantischen metallenen Beine des Skyldarkonstruktes ins Wasser stieß und von wo aus er den Turm bereits zuvor erklommen hatte. Verglichen mit dem Geschiebe und dem Trubel am Markt, war es hier beinahe gespenstisch still.
Er zielte mit dem Enterhaken und ließ ihn von dem Mechanismus getrieben in die Höhe schnellen, wo er Halt an einem der Gelenke des Beines fand. Er aktivierte die zweite gespannte Feder und hob, von dem Seil getragen, ab, rauschte durch die Luft und griff haltsuchend in den Wust aus dicken Rädern und Speichen am Bein des mechanischen Monsters.
Von oben hörte er einen langen spitzen Schrei.
Yrrein!
Ihm blieb keine Zeit, die Federn des Enterhakens mühsam wieder aufzuziehen. Also machte er sich daran, den Koloss mit Händen und Füßen zu erklimmen, und dankte den Göttern, dass Tausende von chemistischen Lichtern die Stadt erhellten. Das Blut rauschte in seinem Kopf.
Je näher er der offenen Kammer kam, in die die Beine des Turmes mündeten, desto mehr Geräusche meinte er zu hören. Er kletterte schneller und zielstrebiger.
Schließlich ergriff er den Rand der Balustrade, die um die Schaltzentrale des Spinnturmes führte und von einem großen metallenen Baldachin vor Regen geschützt wurde. Er zog sich hoch und erhaschte gerade noch einen Blick auf Yrrein, die von Aurinius in hohem Bogen aus einer der offenen Seiten geschleudert wurde. Die helle Bandage um ihren Kopf flatterte im Wind.
»Nein«, hauchte er entsetzt und verfolgte den tiefen Fall durch die erleuchtete Nacht. Mit einem Platschen schlug sie im Wasser auf und Glin hielt den Atem an.
Ich muss hinterher!
Doch er konnte sich nicht einfach fallen lassen, dann würden ihn die Stangen und Gelenke des Turms auf dem Weg nach unten zerschmettern. Stattdessen musste er hinauf, um –
In diesem Moment tauchte Yrrein unter ihm wieder auf.
Und über ihm Aurinius von Veelyn.
Der Magier packte ihn mit erschreckend starkem Griff und zog ihn über die Balustrade hoch. Er trat Glin in den Bauch und warf ihn in eine Ecke, wo er nach Luft ringend liegenblieb. Glin würgte trocken und schnappte verzweifelt nach Luft – da war nichts mehr, was er erbrechen konnte.
»Ich dachte mir, dass Sie Ihre Freundin nicht einfach allein auf die Jagd nach mir schicken, Glin«, hörte er den Magier sprechen. Glin musste die Augen zusammenkneifen, um ihn scharf sehen zu können.
Aurinius zündete eine Handvoll chemistische Glühkugeln an und legte sie in den Kuhlen und Vertiefungen ab, die das mechanische Konstrukt um ihn herum bot.
»Ich denke, Sie haben es sich verdient, noch dabei zuzusehen, wie sich dieser Turm aus seiner Totenstarre erhebt, die beinahe ein Jahrtausend währte. Sie sind ein begabter Mechanist, genau wie Talmo – und Sie sind ebenso hartnäckig und listig. Dummerweise sind Sie jedoch ebenfalls ein gnadenloser Idealist und treten für eine komische Form von Rechtschaffenheit ein. Und das, obwohl Sie ein Dieb sind. Nun bleiben Sie gefälligst dort liegen, dann lasse ich Sie dieses Wunder noch erleben. Apropos Wunder: Woher wussten Sie, dass ich Ihnen auflauern würde?«
Schleim hustend versuchte Glin, sich an der Konversation zu beteiligen, nur um Zeit zu gewinnen. »Das … war einfach gut geraten. Ich hatte vermutet, dass Sie mich nicht mit dem Stein davonkommen lassen wollten. Sie haben nämlich im Gegensatz zu mir überhaupt kein
Gefühl von Rechtschaffenheit im Herzen. Wir mussten die Hochwohlgeborene Insel ja verlassen – und das geht am schnellsten über die Südbrücke.«
»Sie haben die Piazza Pisello also bereits vorher als idealen Ort für einen Überfall ausgemacht?« Aurinius hantierte an den Hebeln herum, die wohl irgendwie zur Steuerung des Ungetüms dienen mussten. »Nun ja«, gab er sich selbst eine Antwort, »ich habe mich mit Dieben eingelassen, was hatte ich erwartet?«
Er holte aus einer Gürteltasche den Herzstein hervor und setzte ihn in eine Art Fassung. Das Klicken, mit der er einrastete, war deutlich zu vernehmen, ebenso wie das Knirschen der uralten mechanischen Gelenke, die den Stein nun umklammerten.
Ebenso verblüfft wie resigniert musste Glin feststellen, dass die Geschichte, die Aurinius ihm über den Herzstein erzählt hatte, wahr gewesen war.
Warum hätte er dabei auch lügen sollen? Der Aufwand, um an den Stein zu gelangen, wäre ansonsten noch grotesker gewesen, als er ohnehin schon war.
Aber in anderer Hinsicht hatte der Magier gelogen: Er wollte nicht verhindern, dass Borgessa einen Krieg anzettelte. Nein, Aurinius wollte schlicht und ergreifend selbst den Turm.
Und es war ihm gelungen.
Die kolossalen alten Gelenke und Federn kamen in Bewegung, nachdem sie eine Ewigkeiten lang stillgestanden hatten. Alles knirschte und ächzte lautstark, aber die rätselhafte Magie der Skyldar hatte ebenso wie die von ihnen geschaffene Materie überdauert. Glin konnte unter seinem Körper spüren, wie der Turm erzitterte.
Aurinius bediente einige Hebel und langsam, ganz langsam senkte sich die Kammer. Die gigantischen Beine wurden angezogen, als ob sich ein Insekt von absurder Größe zum Sprung bereitmachte.
Keine menschliche Mechanistin und kein Mechanist hatten jemals auch nur im Ansatz ein solches Wunder vollbringen können. Glin wurde von einer gewaltigen Ehrfurcht erfüllt.
Was tue ich hier eigentlich? Dieser Platz in der Geschichte gebührt mir nicht.
Da fiel sein Blick auf etwas Vertrautes: Wehklage.
Das in seinem Griff zusammengefaltete Schwert lag nur wenige Armeslängen von ihm entfernt in einer Ecke. Yrrein musste es verloren haben.
Mühsam zog Glin sich hoch, ließ sich aber sofort wieder theatralisch fallen, gerade in Reichweite des Schwertes.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie liegen bleiben sollen!«, rief Aurinius zu ihm hinüber, während er sich auf die Steuerungselemente des Turmes konzentrierte.
»Keine Sorge«, meinte Glin. »Ich kann sowieso kaum laufen. Aber Sie skrupelloser Arsch haben doch bereits gewonnen. Was soll das hier werden, wenn es fertig ist?«
Aurinius musste lachen. »Ist es nicht faszinierend?«
Es donnerte und ein leichtes Vibrieren ging Glin durch Mark und Bein. Dann wieder ein Donnern. Schreie drangen an Glins Ohren. Erst da begriff er, dass der Spinnturm Schritte machte. Gewaltige Schritte, groß wie Grundstücke.
Er wollte besser gar nicht hinuntersehen.
In diesem Moment begann es zu blitzen und zu krachen. Lichter flackerten und hüllten sie jeweils für Wimpernschläge in bunten Schein. Das Feuerwerk hatte begonnen.
»Dafür
all der Tod und die Vernichtung, Aurinius?«, schrie Glin, während der Turm über die große Marktinsel schritt und unter ihm die Pflastersteine bebten und splitterten. »Dafür
haben Sie Talmo ermordet? Und wer weiß wie viele noch? Wie können Sie eigentlich mit sich selbst leben, Sie widerwärtiger Bastard?«
»Ich tue, was getan werden muss«, knurrte der Magier, über dessen Gesicht immer wieder Licht und Schatten des Feuerwerks huschten.
»Sie verraten alles und jeden für eine fixe Idee. Haben Sie Talmo nicht sogar mal geliebt?
War es nicht so?«
Aurinius wirbelte herum. In seinen Augen loderte dunkles Feuer. »Talmo hat Ihnen wirklich nichts von dem erzählt, was damals vorgefallen ist?«
»Klären Sie mich auf! Bislang wirkt es auf mich, als seien Sie ein ziemliches Arschloch gewesen … was sich übrigens bis heute nicht geändert hat.«
»Dieser Talmo, den Sie gekannt haben, muss ja ein wahrer Heiliger gewesen sein, Glin. Dass wir einmal dieselben Ziele verfolgt haben, hat er Ihnen verschwiegen, schätze ich?«
Glin wusste nichts zu erwidern – natürlich, wenn sie sich geliebt hatten, mussten sie auch an etwas Gemeinsames geglaubt haben. Aurinius hatte es ja auch schon einmal angedeutet.
Der Turm zitterte bei jedem Schritt.
»Überrascht?«, rief Aurinius. »Auch Talmo Melisma hatte sich einmal zum Ziel gesetzt, die Menschen der Ruhenden Welt durch Skyldartechnologie voranzubringen. Was könnte man nicht alles erreichen, wenn man die Magie der Skyldar entschlüsselt? Wenn Mechaniken selbstständig und effizient unsere Felder bestellen oder unser Wasser schöpfen oder unsere Kleider weben würden?«
Das klang schon mehr nach Talmo als Kriegsvorbereitung mittels Skyldarmechaniken.
Der Turm schritt unaufhaltsam voran. Das Feuerwerk flackerte um sie her.
»Was hat Talmo dann davon abgehalten, diesen Weg weiterzuverfolgen?«, wollte Glin wissen.
»Skrupel«, meinte Aurinius. »Wir hatten einen Plan: Er setzt alles daran, ein herausragender Mechanist zu werden, und ich als der magisch Begabte gebe meine Ausbildung zum Mechanisten auf, um mich dem Studium der Magie zu widmen – und zusammen ergründen wir die Geheimnisse der Skyldar. Doch Talmo hat den Plan verraten. Wenn ich mich nicht auf ihn eingelassen hätte, wäre ich
heute derjenige mit dem Abzeichen und anschließend hätte ich immer noch Magier werden können.«
Aurinius’ Finger umklammerten das Gildenabzeichen um seinen Hals.
»Das
war Ihre Motivation? Rache?
«, staunte Glin.
»Er hat meinen Traum zugunsten eines anderen zerstört – also habe ich seinen Traum zerstört.«
»Sie haben sein Theater zerstört und seine Freunde verletzt«, folgerte Glin. »Und? War es das wert?«
Der Spinnturm steuerte immer weiter über die Stadt. Dröhnende Schritte, das Feuerwerk krachte im Hintergrund – es war gespenstisch.
»Ich habe bekommen, was ich wollte«, sagte Aurinius bloß.
Glin sammelte all seine Kraft. »Nein, das haben Sie nicht.«
»Wie bitte? Ich stehe auf einem der größten Wunder der Geschichte dieser ganzen verdammten Welt.«
»Wenn Sie bekommen hätten, was Sie wollten, würden Sie heute mit Talmo an den Mechaniken der Skyldar forschen. Vermutlich hätten Ihre gemeinsamen Nachforschungen sogar Früchte getragen. Stattdessen thronen Sie hier auf einem mechanischen Ungetüm und wissen nicht mal, wie man es steuert.«
Ein ohrenbetäubendes Pfeifen ertönte. Eine Rakete des Feuerwerks schoss in die offene Kabine und explodierte in einem blauen Funkenregen. Aurinius hob reflexhaft einen Arm zur Abwehr. Aber Glin nutzte die Ablenkung und schnellte hoch. Im Sprung setzte sich Wehklages Klinge zusammen. Das Schwert heulte auf.
Doch Aurinius drehte sich geschickt auf ihn zu und Glin prallte mit der Brust gegen die Schulter des Magiers. Während Glin mit Mühe und nach Luft schnappend wieder auf die Füße kam, setzte sich in Aurinius Hand ebenfalls eine Skyldarklinge mit dem charakteristischen Klicken und Rattern zusammen. »Versuchen Sie so etwas Dummes nicht noch mal, Glin. Bitte. Sie sind kein Krieger.«
Aurinius’ Schwert sang nicht so hoch und wimmernd wie Wehklage, sondern gab ein tiefes, beinahe sonores Brummen von sich, wie die tiefen Saiten eines Cellos.
»Sie haben auch so eines?«, fragte Glin.
Aurinius hob die Schultern. »Schon vergessen, wem ich angehöre?«
»Magietechniker
, ein erlesener Kreis eingebildeter Saftsäcke«, titelte Glin. »Auf der anderen Seite zeigt mir das eines.«
»Und zwar?«
»Wenn Sie sich mit mir schlagen wollen, heißt das: Sie haben keine Edelsteine mehr bei sich, aus denen Sie Ihre magische Kraft ziehen können.«
Der Magier legte den Kopf schief und blickte ihn mit seinen goldenen Augen durchdringend an. »Brauche ich etwa Steine, um Sie zu töten, Glin?«
»Schauen wir mal.« Er stürmte los und hieb nach Aurinius’ Kopf, doch der Magier wich mit dem Oberkörper geschickt zurück. Im Gegenzug konnte Glin Wehklage gerade noch hochreißen, um einen Stich abzulenken. Die Klingen fauchten, als sie sich trafen. Helle Funken sprühten. Das
kannte Glin noch nicht. Er hatte Wehklage bisher nur im Kontakt mit menschengemachten Klingen erlebt – und dabei gab es kein Zischen und Fauchen, sondern die Klinge sang seelenruhig ihren sphärischen Todesgesang weiter.
Eine weitere Rakete explodierte unweit der Kammer und Funken stoben herein, sodass die beiden Kontrahenten schutzsuchend voreinander zurückwichen.
Doch schnell sprang Glin wieder nach vorn und setzte einen Schwung von rechts an. Aber Aurinius fing den Hieb genauso routiniert ab wie auch die beiden folgenden.
Glin versuchte sich an Yrreins Lektionen aus den Fechtstunden im Mechanischen Theater zu erinnern.
Die Beinarbeit! Nicht aus Versehen den Stand verlieren! Immer mit unerwarteten Manövern rechnen!
Doch Aurinius ließ Glin kaum Zeit, sich darauf zu besinnen, was er ohnehin nur mehr schlecht als recht für die Theateraufführungen gelernt hatte. Der Magier trieb ihn mit einer schnellen Hiebfolge quer über die Brücke des Turms, begleitet von dem Zischen der Skyldarwaffen und dem Funkenschlag, wenn sie aufeinandertrafen.
Der Boden unter ihnen erzitterte bei jedem Schritt, den der Spinnturm tat. Und das Flackern des Feuerwerks machte Glin noch nervöser, als er ohnehin schon war. Er wich mit einigen langen Sätzen zurück und erhaschte einen Blick auf die Szenerie: Der Turm war führerlos nach Westen marschiert und verließ den Markt gerade in Richtung der Insel der Speichellecker. Glin mochte sich gar nicht ausmalen, über wen oder was der Gigant dabei alles getrampelt sein mochte. So ein faszinierendes Wunderwerk dieses Konstrukt auch war – es war so schwer wie ein Gott.
Aurinius war wieder bei ihm. Glin tänzelte ungeschickt zwei Schritte rückwärts, um einen Streich des Magiers gar nicht erst parieren zu müssen, doch er stieß mit der Ferse gegen eine Achse und stolperte. Reflexhaft versuchte er sich wegzudrehen – doch so hatte Aurinius statt seines Oberarms nur die Rückseite seiner Schulter erwischt.
Der Schnitt durchzuckte Glin mit heiß brennendem Schmerz. Er schlug der Länge nach hin und Wehklage fiel ihm aus der Hand.
»Verdammt«, keuchte Glin und wollte nach der Waffe greifen, doch sein Arm versagte ihm den Dienst.
Ein kräftiger Tritt von Aurinius beförderte ihn auf den Rücken. Wieder bekam er keine Luft – die nackten Füße des Magiers waren ebenso hart wie Stiefelleder.
Die Spitze seines Skyldarschwertes war bedrohlich brummend direkt auf Glins Kinn gerichtet.
»Ich fürchte, das war es nun endgültig mit unserer Zusammenarbeit, Glin. Es war mir ein Vergnügen, Ihrer letzten Aufführung beizuwohnen.«
»Na los!«, spie Glin ihm verächtlich entgegen. »Beenden Sie es endlich! Dann muss ich wenigstens Ihre verdammte Visage nicht mehr sehen.«
Doch Aurinius zögerte.
Zunächst verstand Glin nicht, warum. Er hörte das Stampfen des Turms und spürte die Erschütterung bei jedem Aufkommen eines Beines. Das Knallen des Feuerwerkes war verstummt, dafür begleitete lautes Platschen und Schmatzen jeden Schritt, den der große Turm tat – und der unheimliche Schein der Seegemmen strahlte düsterrot unter die Decke des mechanischen Baldachins.
Der Turm hat die Stadt verlassen und watet durch die Lagune.
Doch dann begriff Glin, was Aurinius eigentlich ablenkte.
Es war die mechanische Grille auf seiner Brust.
Und was dann geschah, war ein Wunder.
Schönheit saß dort und zirpte. Und jedes Zirpen der Grille wurde von Aurinius Klinge beantwortet, indem der brummende Todesgesang anschwoll und abebbte.
Zirpen.
Brummen.
Zirpen.
Brummen.
Es war eine eigenartige Zwiesprache, die die beiden Artefakte dort hielten.
Schließlich war Schönheit mit einem Satz auf dem Heft des Schwertes gelandet und die Klinge faltete sich kurzerhand zusammen – als hätte die Grille sie darum gebeten.
Fasziniert sah Aurinius zu, wie Schönheit auf seine Hand krabbelte. Er führte sie näher an sein Gesicht heran.
»Ich wusste nicht, dass Sie so etwas besitzen«, sagte Aurinius leise zu dem vor Schmerzen und Wut zitternden Glin. »Es gibt nichts auf dieser Welt, was erhabener ist als die Perfektion, mit der die Skyldar gearbeitet haben. Und doch sind es nicht mehr als Rätsel, die sie uns hinterlassen haben. Wenn wir Menschen mit unseren klobigen Werken doch nur ein einziges Mal überhaupt in die Nähe dieser Anmut kämen.« Er lächelte beinahe versonnen. »Jetzt fügt sich vieles zusammen. Sagen Sie, woher haben Sie diese Grille?«
»Was geht Sie das an?« Glin war perplex.
»Etwa von Ihren Eltern?«
»Wie kommen Sie denn auf so etwas?«
»Ich kannte einmal zwei außergewöhnlich begabte Mechanisten, die eine solche Grille besaßen. Die Grille habe ich eine Ewigkeit nicht gesehen. Jahrzehnte. Vielleicht … vielleicht würde es ja einen Sinn ergeben, wenn man Ihr Talent bedenkt, Glin.«
Da sprang Schönheit vom Handrücken des überraschten Magiers an das Gildenabzeichen an seinem Hals.
Wie die Grille den dort verborgenen Mechanismus auslöste, konnte Glin nicht erkennen. Aber wohl, dass das Abzeichen in einen seckszackigen Stern auseinandersprang und mittels einer Feder scharfkantig anfing zu rotieren.
Aurinius kreischte, schlug mit der Hand nach dem Abzeichen. Er schrie, bekam es schließlich irgendwie zu packen und riss es von seinem Hals und Gesicht fort. Es fiel zu Boden. Schmerzerfüllt stolperte Aurinius zur Seite und wischte sich mit der Hand über das blutüberströmte Gesicht.
»Mein Auge«, schrie er.
Geistesgegenwärtig rollte Glin sich nach vorn und trat blitzschnellnach dem Magier. Mit einem weiteren Schrei taumelte Aurinius. Scheppernd landete er in der Balustrade, verlor den Halt und kippte schließlich darüber.
Im Fallen schrie er weiter.
Der Schrei wurde leiser.
Dann war er verstummt.
2.
V
orbei.
Alles.
Der warme Seewind des späten Sommers wehte durch die offene Kammer des Turmes, während dieser sich langsam seinen Weg durch die Lagune bahnte, in der er mühelos stehen konnte.
Glin zog sich mühsam mit der linken Hand hoch in eine sitzende Position. Blut lief an seinem rechten Arm hinab.
Er hob Talmos Abzeichen auf, das nun nicht mehr aufgezogen war und dessen sternförmig angeordnete Klingen sich einfach einklappen ließen. Einen abgeschnittenen Finger des Magiers warf Glin in die Lagune.
Wie viel Blut er selbst verloren hatte, wusste er nicht – nur dass der Schnitt an seiner Schulter tief war und blutig suppte und dass er vermutlich irgendwann zu viel Blut verlieren würde.
»Nun«, meinte er zu der Grille, die sich auf seinen Oberschenkel gesetzt hatte. Es schien, als blicke sie mit ihm zusammen auf das von Seegemmen glühende Meer hinaus, in dessen Antlitz sich die Scherben des zerbrochenen Mondes spiegelten. Die Stadt war noch nicht sehr weit weg, sie näherten sich gerade der Insel der Illismea, der Friedhofsinsel, die vor dem Mondschimmer im Wasser sehr gut auszumachen war. »Es gibt wohl deutlich schlechtere Möglichkeiten, der Ruhenden Welt Lebewohl zu sagen und sich aufzumachen zur Sonnenlosen Straße, habe ich recht?«
Die Grille zirpte etwas, das Glin als Zustimmung deutete,
»Ein guter Weinbrand wäre vermutlich das Richtige für diesen Moment, was? Es könnte kaum stilvoller sein.« Er seufzte ergeben und in seinen Augen sammelten sich Tränen, nun da er Gewissheit besaß, dass dies das Ende sein würde. »Ein kleiner Teil von mir wünscht sich, dass du den Magier hättest ausreden lassen, als es um meine Eltern ging.«
Wieder ein Zirpen. Es kam in mehreren verschiedenen Tonfolgen. War es eine Erklärung von Schönheit für ihr Handeln? Oder gar ein an ihn gerichteter Tadel, er solle doch gefälligst ein wenig dankbarer sein?
Mit Schönheit zu sprechen, fühlte sich vertraut an. Und es beruhigte ihn, schließlich doch eine Freundin bei sich zu haben in diesem Moment, in dem alles zu Ende ging.
»Na ja«, hauchte er, während er seine Kräfte schwinden spürte, »Familien sind halt immer auch Gespinste aus Verheißung, Schicksal und Traum. Auf der anderen Seite: Wer keine Träume hat, ist eigentlich schon tot, oder?«
Er hörte ein schwaches Zirpen.
»Vielleicht gehen mir ja langsam die Träume aus, wer weiß?«, lächelte er matt.
Regen wäre jetzt schön.
Ein schöner, seidener Herbstregen, der seine Wunden und seine Lider kühlte. Oh, wie Glin den Regen liebte …
Ein letzter Versuch, noch einmal nach der Stadt zu sehen, wollte ihm nicht recht gelingen. Sein Blick verschwamm bereits. Und als er sich anstrengte und die Augen zusammenkniff, um vielleicht doch noch einen Blick zu erhaschen, fühlte er, wie ihn die Lebensgeister endgültig verließen.
Kurz meinte er, einen Schemen in der Nähe wahrzunehmen. Aber er war doch ohnehin schon dabei, in die Schatten zu gleiten.
Sein Oberkörper kippte zur Seite.
Dann war es endlich dunkel.
3.
Y
rrein hatte den Magier in die rötlich schillernde Lagune stürzen sehen, als sie das Stadtgebiet bereits verlassen hatten. Panik hatte Besitz von ihr ergriffen. Doch seit der Turm sich bewegte, war es ungleich schwerer geworden, ihn zu erklimmen – ständig lief man Gefahr, von den uralten Gelenken und Getrieben eingeklemmt zu werden. Und auch wenn der Turm beinahe anmutig zwischen Häuser und Palazzi trat und überhaupt erstaunlich wenig Zerstörung anrichtete – heillose Panik löste er dennoch aus.
Die Schreie der Mosmerani taten in den Ohren weh und der Abendwind war längst nicht so warm, wenn er auf ihre durchnässte Kleidung traf.
Doch trotz aller Widrigkeiten hatte Yrrein den Aufstieg schließlich geschafft.
Sie stürzte schlitternd neben Glin auf die Knie. Ihre Hände fuhren über sein Gesicht, ihr Haar fiel herab, den durchweichten Verband hatte sie abgestreift.
Sie gab Glin Ohrfeigen, rief seinen Namen.
Er atmete, aber zeigte keine weitere Reaktion.
Wie auch immer Glin es angestellt hatte, den Magier zu schlagen – es hatte ihn einiges gekostet. Im schummrigen Licht einiger Glühkugeln, die in Halterungen verstreut steckten, konnte Yrrein Blutspuren erkennen. Und Glin, der bewusstlos auf die Seite gekippt da lag, hatte einen hässlichen Schnitt an der Schulter. Es schienen dabei vor allem Muskeln in Mitleidenschaft gezogen. Die Blutung hatte bereits erheblich nachgelassen. Trotzdem hatte Glin sicherlich einiges davon verloren.
Die Frage war: Wie bekam man einen Bewusstlosen von einem ziellos durch die Lagune watenden Koloss herunter?
Yrrein versuchte es an den Hebeln des Apparates, in den der Herzstein eingesetzt war, doch sie ließen sich nicht bewegen. Auch der Herzstein selbst war nicht mehr aus seinem Sockel zu entfernen.
»Schönheit?«, rief sie fragend, weil sie die Grille nirgends entdecken konnte.
Doch das kleine mechanische Insekt kam bereits herbeigesprungen.
»Kannst du dem Turm irgendwie … sagen
, dass er in eine andere Richtung steuern soll?«
Die Grille kletterte auf den Armaturen herum, zirpte hier und dort, doch es passierte nichts.
Yrrein begann, nervös zu werden. Die Greifenrüstung mit ihren Lederschwingen, die sie unter der Schakaluniform getragen hatte, war klatschnass. Selbst wenn sie mit Glin im Schlepptau springen sollte … die Stadt war mittlerweile zu weit weg – und dorthin schwimmen, war unmöglich.
Außer …
Yrrein hatte eine Idee und eilte zur anderen Seite der Balustrade.
Ja, tatsächlich, das könnte funktionieren!
Die Friedhofsinsel lag mehr oder weniger an dem Weg, den sich der Turm durch die Lagune bahnte. Selbst wenn die nassen Schwingen der Rüstung sie nicht bis auf die Insel tragen würden, wäre es vielleicht möglich, den Rest der Strecke irgendwie zu schwimmen.
Sie verstaute alles Wichtige – auch Schönheit. Um Glin zu sichern, nutzte sie die dünnen Seile in den federbetriebenen Winden.
Sie drückte ihm einen Kuss auf die Stirn.
Schließlich musste sie nur noch den Moment erwischen, in dem der Turm die Insel in größtmöglicher Näher passierte …
… und springen …
… und beten.