INTERLUDIUM VIII
Die Adeligen von Belynth
Aus Talmos Geschichte
Von Glin rekonstruiert anhand von Erzählungen und gefundenen Aufzeichnungen. Die Ereignisse des vorliegenden Abschnitts fanden statt in Jarrein, dem Stadtstaat am Indigomeer. Im Jahre 1009 nach Amantis. Vier Jahre, bevor die Herbstgänger nach Mosmerano reisten.
1.
E s war ein lauer Sommerabend und man konnte immer noch in einem dünnen Hemd draußen sitzen, obwohl die Sonne schon seit einer Weile untergegangen war.
Talmo saß auf einem kleinen Steg in Jarrein und sah auf das Indigomeer hinaus. Der Schein der vielen chemistischen Laternen des Hafens zauberte eine Schicht von glitzerndem Staub auf die sich kräuselnde Wasseroberfläche. Und die Scherben des zerbrochenen Mondes spiegelten sich darin wie silbrige Glutnester.
Immer wieder schloss er die Augen und lauschte bloß. Den Wellen des Binnenmeeres, die seicht an den Kai schwappten. Dem Trubel der Feiernden in den späten Stunden. Den Arbeiterinnen und Arbeitern, die Frachtkähne beluden oder eingetroffene Waren an Land hievten.
Er wusste nicht, warum er es mochte, an Ufern zu sitzen. Ob an Flüssen, Seen oder Meeren. Auf dem Wasser selbst hielt er sich nicht gerne auf. Er wurde zu schnell seekrank. Aber an einem Ufer zu sitzen und hinaus aufs Wasser zu blicken, das beruhigte ihn. Es nahm allen Druck von ihm. Wenn er an einem Ufer saß, lagen Verpflichtungen hinter ihm und vor ihm bloß das Wasser, das sich in seiner Menge nicht einsperren ließ und das fließen konnte, wohin das Schicksal es verschlug.
Ufer halfen Talmo, zu sich selbst zu finden und sich zu orientieren. Und er hoffte inständig, dass auch die Sonnenlose Straße das eine oder andere Ufer bereithielt, an dem man einen Augenblick verweilen konnte.
Das Gefühl war eigenartig, dass Glin nun die grundlegende Planung ihrer Coups übernommen hatte. Der Junge war voller wilder Ideen. Und wenn Talmo ehrlich zu sich selbst war, würde es nicht lange dauern, bis Glin ihn in beinahe jeder Hinsicht übertrumpfen würde: was die mechanistischen Fachkenntnisse anging ebenso wie die Fähigkeiten als Dieb.
Aber das ist nun einmal das Los eines jeden guten Mentors, dachte Talmo. Dass die eigenen Schüler eines Tages besser werden als man es selbst je war.
Und dennoch bedeutete es Überwindung, in dieser Rolle aufzugehen und sich daran zu erfreuen, dass man seinen Zweck erfüllt und seinen Platz als Steinchen im Mosaik der Götter gefunden hatte.
2.
D u musst dich nicht anschleichen«, lächelte Talmo.
Yrrein setzte sich neben ihn und tat es ihm gleich, indem sie die Füße vom Steg baumeln ließ. »Ich habe mich nicht angeschlichen. Dann hättest du mich gar nicht gehört. Ich bin einfach nur leise.«
»Du bist sehr gut in dem, was du tust«, meinte Talmo.
»Deshalb fahre ich ja nun mit euch durch die Lande, oder? Weil ihr dringend jemanden Gutes wolltet.«
»Eigentlich bist du dabei, weil du es so wolltest – ich habe dich nicht gezwungen.«
»Du hast mich so neugierig gemacht, dass ich nicht anders konnte.«
»Ich habe dir eine Perspektive eröffnet, die in meinen Augen sehr viel interessanter klingt, als sich in den Arenen von Jaerhella mit Gladiatoren zu schlagen – so lange bis man einmal einen nicht ganz so brillanten Tag hat und es einen erwischt.«
»Hm«, machte Yrrein nur.
Talmo lächelte. »Es funktioniert nicht, so zu tun, als hätte ich dich hierhin genötigt. Rede dir so etwas bitte nicht ein! Du bist hier, weil du allein es so wolltest. Das ist der einzige Grund. Nicht weniger – aber auch nicht mehr.«
»Schon gut.«
»Aber du schiebst die Verantwortung für eine solche Entscheidung gerne von dir, oder?«
Jetzt fuhr ihr Kopf herum und sie blickte ihn böse an. »Tue ich nicht.«
»Aber du läufst vor irgendetwas weg, habe ich recht?«
Die junge Kriegerin sog scharf die Luft ein und Talmo wappnete sich innerlich davor, gleich angeschrien zu werden.
»Du läufst doch ebenfalls fort«, entgegnete sie schließlich.
»Wie kommst du darauf?«
»Melisma ist nicht dein richtiger Name. Du stammst irgendwo aus den Thronländern, und zwar nicht aus der Region Envaustille, sondern aus Goswinter oder Belynth. Wenn du dich beim Sprechen nicht konzentrierst oder auch bloß angetrunken bist, dann hört man den Akzent heraus. So spricht niemand, der in den Republiken groß geworden ist. Und in Goswinter und Belynth heißt niemand Melisma. Das klingt zu …« Sie zögerte.
»Südländisch?«, machte Talmo einen Versuch, ihren Satz zu beenden.
»Von mir aus. Ja, südländisch.«
Talmo musste grinsen. »Wie kommst du darauf, dass Melisma nicht mein richtiger Name ist?«
»Man hat dir bei deiner Geburt einen anderen Namen gegeben.«
»Vielleicht habe ich jemanden geheiratet?«
»Wo ist diese Person dann?«
Talmo schüttelte den Kopf. »Nein, habe ich nicht. Das war nur eine Finte. Tatsächlich habe ich mir den Namen Melisma selbst ausgesucht. Ich bin ein Dieb. Ich habe den Namen gehört und er gefiel mir. Also habe ich ihn mir genommen. Aber warum heißt das, dass das nicht mein richtiger Name ist?«
»Namen sucht man sich nicht selbst aus«, beharrte Yrrein.
»Aber warum nicht?«
»Sie werden einem gegeben. Und sie sind entweder Segen oder Fluch – ganz, wie es den Göttern in ihr ewiges Mosaik des Schicksals passt.«
»Hm«, machte Talmo nachdenklich und sie schwiegen eine Weile, bis er sich schließlich überwand. »Der Name, den man mir zu meiner Geburt gegeben hat, lautet Talmo de’Groon.«
Yrrein sah ihn mit geweiteten Augen an. »Du bist ein Adeliger aus Belynth?«
Talmo nickte sanft. »Meinem Namen nach wäre ich das. Genau wie du, Yrrein de’Feay . Aber das Haus de’Groon ist vor Jahrzehnten untergegangen und seinen Namen zu tragen, ist für mich eher eine Bürde als ein Privileg. Man hat mich im Hause de’Groon immer wie adeligen Abfall behandelt, weil ich mich von Männern angezogen fühle und ich deshalb niemals einen Erben zeugen würde. Ich war wie ein Aussätziger. Wie eine Last. Wie ein Schicksalsschlag, den man tapfer zu tragen hatte, weil ich nun einmal mit dem Namen de’Groon geboren wurde und man mich nicht einfach ausradieren konnte wie eine fehlerhafte Zeichnung. Warum hätte ich den Namen also behalten sollen? Sollte er mir eine Strafe sein? Wenn ja: Wofür sollte ich bestraft werden?«
Yrrein erwiderte nichts.
»Ich habe dich nun ein Jahr lang bei uns beobachtet, junge Frau de’Feay. Und ich spüre es nicht nur, ich bin mir mehr als sicher: Irgendetwas im Hause de’Faey hat dich zutiefst verletzt. Ich weiß nicht, was es ist, und ich will dich auch nicht bedrängen, es mir zu sagen. Aber es gibt Lasten, die man tragen muss, – und solche, die man sich selbst auferlegt. Du müsstest den Namen de’Faey nicht führen, wenn du nicht willst.«
Erneut schwiegen sie eine Weile und hörten dem Plätschern der Wellen zu.
»Was ist dem Haus de’Groon zugestoßen?«, wollte Yrrein schließlich wissen.
»Ein Unfall. Etwas, woran ich tatsächlich nicht schuld war, wenn es das ist, was du andeuten wolltest.«
Sie sah weg.
»Ich habe bloß die Chance genutzt«, fuhr Talmo fort. »Niemand weiß, dass Talmo de’Groon jene nächtliche Feuersbrunst überlebt hat. Es gibt nur eine andere Person, der ich das je erzählt habe.«
»Glin?«, mutmaßte Yrrein.
»Nein.« Talmo schüttelte den Kopf. »Die einzige andere Person, die diese Geschichte kennt, heißt Yrrein de’Feay.«
Die junge Frau schluckte.
»Du kannst mit diesem Wissen tun und lassen, was du möchtest, Yrrein. Das Einzige, was ich dich wissen lassen möchte: Wir Herbstgänger sind Leute, die es gut mit dir meinen. Wir sind schräg und haben Macken und komische Marotten und sind manchmal alles andere als höflich. Aber wir vertrauen einander. Jedes Mitglied dieser skurrilen Familie hat einen Weg hinter sich, auf dem sie oder er hierhergefunden hat. Manche Wege haben mehr wehgetan als andere – aber schmerzhaft waren sie alle. Ob du mir je dein Herz ausschütten möchtest, ist nicht so wichtig, Yrrein. Wichtig ist nur, dass wir dich respektieren.«
Die junge Frau überlegte kurz.
»Es ist meine Entscheidung gewesen, mit euch mitzuziehen«, kam sie schließlich auf den Ausgangspunkt ihres Gesprächs zurück. »Ich bereue sie nicht.«
»Wir sind gewöhnungsbedürftig«, wandte Talmo ein. »Das ist mir schon bewusst.«
»Das macht nichts«, meinte Yrrein. »Es ist irgendwie bloß schwer … Danke zu sagen.«
»Keine Ursache. Noch viel schwerer, als sich zu bedanken, ist es übrigens, sich selbst zu vergeben.«
»Wie meinst du das?«
Talmo stand auf. »Ich weiß, was es bedeutet, sich schuldig zu fühlen. Und du siehst aus wie jemand, der sich schuldig fühlt. Ich kenne mich da aus. Das Dumme an Schuldgefühlen ist: Niemand kann dir vergeben, außer du selbst.« Und damit wandte er sich zum Gehen und ließ sie sitzen.