POSTLUDIUM
Mit einem Kuss auf die Stirn
1.
E r hat uns die ganze Zeit hinters Licht geführt «, schrie Glin schließlich voller Wut und Zorn hinaus, als sie eine Rast einlegten. Sie waren bereits eine Weile auf der Straße von Merazzo aus in südliche Richtung geritten. Und als sie nicht mehr im Hauptstrom all jener trieben, die aus der Lagunenstadt flohen, sondern wieder etwas für sich reisen konnten, gönnten sie sich eine Pause. »Die ganze, verdammte Zeit. Wie ich diesen elenden Herzog dafür hasse!«
Bitterböse starrte er über die Lagune hinüber zu der Tänzerin über dem Wasser  – Mosmerano, die Verzogene .
Yrrein griff vorsichtig nach seiner Hand. »Borgessa hat nicht speziell uns hintergangen. Im Spiel der Mächtigen sind wir allenfalls Figuren auf dem Brett«, meinte sie. »Lass es gut sein – oder würdest du auch die Götter heimsuchen wollen, wenn sie jemanden mit einem Blitz erschlagen?«
Er zog seine Hand weg. »Irico Borgessa war kein Gott. Wir waren in seinem Palast, haben ihm in sein verlogenes Gesicht geblickt, wir haben einen übermächtigen Magier besiegt und wurden vom Spinnturm durch die Nacht getragen. Wir haben all diese märchenhaften Dinge getan und wir können sie wieder tun. Verdammt, wenn wir nur dreist genug sind, können wir die ganze verdammte Ruhende Welt stehlen.« Er sank erschöpft auf seine Knie. »Verdammt – er hatte es einfach nicht verdient.«
Der warme Spätsommerwind ließ das Gras wispern und die Blätter der großen Pappel rascheln, an der die Pferde festgemacht waren. Das wunderschöne Panorama verhöhnte sie. Die Nachmittagssonne stand über der Silhouette von Mosmerano, das still und strahlend mitten in der glitzernden Lagune lag.
»Borgessa hätte seinen Krieg auch ohne uns bekommen«, meinte Yrrein schließlich.
»Ich weiß«, sagte Glin. »Er hat das alles von langer Hand geplant. Er hat über das Jahr seine Streitkräfte unter Vorwänden zusammengezogen. Inspektionen, Sicherheit des Unabhängigkeitsfestes … pah! Selbst Aurinius hat ihm die ganze Zeit über in die Finger gespielt, obwohl er dachte, er selbst wäre der Strippenzieher hier. Natürlich, nachdem Borgessa wusste, was er mit dem Spinnturm anstellen musste, wäre es früher oder später ohnehin zum Krieg gekommen. Eigentlich können wir froh sein, dass sich der Turm nicht steuern ließ, sonst hätte der Erzherzog auch noch eine brutale Kriegsmaschine der Skyldar in die Finger bekommen.« Er seufzte ergeben. »Aber stattdessen haben Aurinius und wir ihm in die Hände gespielt und ihm alle Vorwände gegeben, die er brauchte, um einen Krieg zu rechtfertigen. Nichts erzeugt mehr Hass als eine ganze Nation, die der Meinung ist, verwundet oder zu kurz gekommen zu sein.«
»Und obwohl wir keine Schuld daran tragen, quält es dich auf dieselbe Weise, als hätten ausgerechnet wir das alles zu verantworten.«
Er sah sie an. »Es hätte niemals das Leben unserer Freunde kosten dürfen. Verdammt, sie waren unsere Familie . Schau uns doch an: Wir sind mit einem ganzen fahrenden Theater nach Mosmerano gekommen und jetzt gehen wir verletzt und zugrunde gerichtet wieder fort. Wir sollten zu siebt sein, aber …«
Seine Stimme brach.
Sie legte ihm die Hand auf die Schulter und schenkte Glin ein warmes Lächeln.
Neben ihm kniete sich Sira ins Gras und streckte die Hand aus. Schönheit war mit ihr mitgereist. Die Grille wanderte ihren Arm entlang und hüpfte von ihren Fingern schließlich in eine von Glins Hemdfalten.
»Der Herzog hat bezahlt«, sagte Sira leise. »Und trotzdem will ich mich immer noch an ihm rächen. Ist das nicht bescheuert?«
Glin musste sich umständlich drehen, um wenigstens den unverletzten Arm um sie zu legen. Und das Mädchen weinte so hemmungslos wie bereits mehrfach in den vergangenen Tagen. Ihr schienen die Tränen einfach nicht ausgehen zu wollen. Schönheit zirpte tröstend und krabbelte zurück zu Sira.
»Das ist das Problem mit der Rache«, wandte Falk ein. Er saß mit dem Rücken an eine Pappel gelehnt hinter ihnen und entlastete das verletzte Bein vom Gewicht seines schweren Körpers. »Rache macht nicht satt. Sie macht nichts ungeschehen. Sie bringt niemanden zurück.«
»Wirklich sehr tröstend«, giftete Yrrein.
»Trauer ist Trauer«, sagte der Priester. »Sie ist bei jedem anders. Vielleicht wird sie eines Tages leiser und sticht nicht mehr so sehr. Aber sie gehört nun einmal zu uns. Und man kann nichts tun, um sie wegzuwischen: Töten, jemanden bezahlen lassen, Schmerzen zufügen … das lindert am Ende nichts. Das Einzige, was man tun kann: den Blick weiter nach vorn richten und das Andenken jener ehren, die man verloren hat.«
Das war der Anstoß, den Glin gebraucht hatte. »Aber was tun wir denn jetzt, Falk?«
Sira sah ihn mit tränenverschmiertem Gesicht an. »Wir werden kein neues Theater bauen.«
Glin schüttelte den Kopf. »Nein, sicher nicht. Das Mechanische Theater war Talmos persönlicher Traum. Träume kann man nicht abkupfern.«
Yrrein drückte Siras Hand. »Wir machen das, was wir am besten können: Wir stehlen, was die Welt hergibt.«
Und Glin musste aufpassen, dass ihm bei Yrreins Worten nicht ebenfalls wieder die Tränen kamen.
Wir können hier doch nicht am Ufer der Lagune stehen und zu viert wie die Irren um die Wette heulen.
Und bald hatte Sira sich gefangen, setzte sich ins Gras und wischte sich das Gesicht mit einem Taschentuch ab.
»Ihr seid mir ja vielleicht hervorragende Diebe«, tönte eine Stimme hinter Falk. Sie drehten sich um und sahen Fenja Vannagren mit ihrer wilden Haarpracht und der Narbe hinter der Pappel hervortreten. Sie trug einen Reiserucksack und praktische Kleidung. »Also, wenn Schleichen und Verstecken die Paradedisziplinen guter Diebe sind, dann seid ihr im Augenblick in ziemlich elender Verfassung, wenn ich so ehrlich sein darf. Es war nicht schwer, euch zu finden.«
»Na, das ist eine Überraschung«, grüßte Glin sie. »Was tust du denn hier?«
»Ihr schuldet mir noch ein Honorar. Schon vergessen?«
»Du hast dich mit einem prall gefüllten Rucksack voller Smaragde aus dem Staub gemacht, als es besonders brenzlig wurde. Schon vergessen?«
Fenja zog ein Gesicht. »Ich habe eine bessere Verwendung für die Smaragde gefunden. War ein ziemliches Spektakel.«
»In der Tat«, nickte Glin. »Das war ganz schön kaltblütig.«
»Von wegen.« Fenja schnaubte. »Was Borgessa getan hat, war kaltblütig. Er hat ein Spektakel heraufbeschworen und ist in einem Spektakel untergegangen. Er hat alles verdient, was ihm widerfahren ist.«
Glin schwieg.
Falk war es, der den Gesprächsfaden wieder aufnahm. »Ich denke, am Ende lassen wir die Götter darüber urteilen, wer genau was verdient hatte. Sie werden es am besten wissen.«
»Von mir aus.«
»Wie du dir sicher denken kannst, Fenja, können wir dir kein Honorar zahlen – weil wir kein Geld mehr haben.«
Jetzt war es die Magierin, die knapp nickte. »Ja, so etwas in der Art hatte ich mir bereits gedacht.«
Sie setzte den Rucksack ab und kramte einen Beutel daraus hervor. Dann wob sie eine gekonnte Geste mit ihren Fingern und ließ ihn zu Glin hinüberschweben und vor seinen Füßen ins Gras fallen. Glin hob den Beutel auf. Es klimperten Münzen darin – und er war schwer.
»Danke«, meinte Glin, der überrascht war.
»Ich habe zu danken.« Fenja verbeugte sich wie eine Tänzerin nach einer Aufführung.
»Wofür?«
»Du hast mich aus dem Stahlpalast geholt. Und …« Sie zögerte. »Und du hast an mich geglaubt.«
Zwischen ihnen trat eine kurze Stille ein.
Schließlich nickte Glin ihr zu. »Es ist mir eine Ehre, dich zum Kreis meiner Freunde zählen zu dürfen, Fenja Vannagren.«
»Das gebe ich gern zurück.« Sie schenkte ihm ein gelöstes Lächeln. »Vielleicht kreuzen sich unsere Wege ja noch einmal.«
»Wenn Din Vestro es so möchte«, sagte Sira und schniefte trocken. Dann überraschte sie alle. »Warum schließt du dich uns nicht an? Eine Magierin macht sich doch gut, wenn man dabei ist, Pläne zu schmieden.«
Fenja schüttelte den Kopf. »Nein, ich denke nicht. Im Gegensatz zu euch bin ich nämlich keine besonders gute Diebin. Und ich arbeite auch nicht sehr gut mit anderen in einer Gruppe. Ich neige dazu, im entscheidenden Moment überraschend zu verschwinden.«
»Oder überraschend aufzutauchen.«
Aber Fenja winkte ab. »Im Verschwinden bin ich besser, glaub mir. Und bevor es sentimental wird: Macht es gut! Ich habe noch einen weiten Weg vor mir. Wer auch immer Borgessas Nachfolge antritt: Die Mosmerani werden Rache wollen. Thyriss muss Krieg fürchten. Also muss ich wohl weiter in den Süden als beabsichtigt. Nach Jarrein vielleicht – oder möglicherweise nach Abaste oder sogar nach Jaerhella. Mal sehen.«
»Nicht so schnell«, schritt Glin ein.
»Wieso nicht?«
»Ich habe noch zwei Fragen.«
Die Magierin legte den Kopf schief. »Vielleicht beantworte ich die ja noch. Wenn die Antworten kurz sind.«
»Warum hält sich eine so begabte Magierin wie du so weit abseits der Waldungen auf? Ich dachte, dort gäbe es Nordlichter, die der Quell aller Magie sind.«
Fenja musste lachen. »Glin, du weißt viel weniger über Magie, als du glaubst. Bei Dekan de’Meeren hast du bloß sehr dürftige Grundlagen in Erfahrung gebracht. Nordlichter sind nicht der Quell der Magie, sie inspirieren bloß die Zeichen, die wir benötigen, um Magie zu wirken. Aber manche können großartige Magie wirken, ohne je selbst eines gesehen zu haben. Und andere wiederum verbringen ihr Leben unter diesen Himmelslichtern und können nicht mal eine Kerze mittels Magie auspusten.«
»Trotzdem müssten sich die Waldungen doch sehr viel besser zu Studium eignen als die Amantinischen Republiken. Also: Warum?«
Sie seufzte. »Wie schon gesagt: Ich bin keine besonders gute Diebin. Das wissen dort auch einige Leute. Und es ist besser, wenn ich mich ein paar Jahre nicht dort blicken lasse. Eher sogar ein paar Jahrzehnte.«
»Verstehe.«
»Was ist die zweite Frage?«
»Woher stammt das Geld?«
Daraufhin musste Fenja wieder grinsen. So breit, dass Glin kurz befürchtete, die Mundwinkel könnten ihre Ohren erreichen.
»Ich habe mich daran erinnert, dass diese Illistra Gaon euch noch Geld schuldig war«, sagte sie schließlich. »Übrigens das letzte Bisschen, was sie vor den Razzien des Ministers Orleone in Sicherheit bringen konnte.«
Glin deute ein Nicken an. »Danke. Du hast einen interessanten Sinn für Gerechtigkeit.«
»Tja …« Lachend warf die Magierin sich ihren Rucksack über die Schulter und stapfte durch das hohe Gras zur Uferstraße zurück.
Einmal drehte sie sich noch um. »Wenn wir nur dreist genug sind«, rief sie.
»Stehlen wir die gesamte Ruhende Welt«, kam es von den übriggebliebenen Herbstgängern zurück. Es war eigenartig, jemand anderes diesen Spruch sagen zu hören. Aber es tat auch gut.
Fenja führte ihre Finger an die Lippen und schließlich zum Haaransatz. »Mit einem Kuss auf die Stirn«, sagte sie, erhob die Hand und winkte ihnen zu Abschied.
»Und einem Gebet auf den Lippen«, antworteten die anderen leise.
Dann blickten sie der Magierin nach, wie sie die Straße hinunterzog. Eine ganze Weile standen die Herbstgänger still da und ließen sich den Wind von der Lagune her durch die Haare wehen. Bis Fenja schließlich verschwunden war.
»Nicht alle unsere Begegnungen in Mosmerano waren schlecht«, murmelte Yrrein. »Manche waren vielleicht ein wenig zickig – aber nicht schlecht.«
Glin bemerkte, wie sie unter ihrem rabenschwarzen Haar vorsichtig nach ihrem Ohr tastete. Doch dann beugte sie sich plötzlich und schneller zu Glin hinüber, als er begreifen konnte. Und ihre Lippen berührten die seinen.
Sanft und sacht.
Kühl wie ein Regen im Herbst.
Und irgendwie für immer.