50IV
Umkehrung

Daß eine Sache, wenn man sie nur entschlossen genug von ihren Umhüllungen befreit und ihr bis auf den Kern oder Grund geht, schließlich als diese Sache selbst, leibhaftig, nackt und bloß, eben in ihrer Wahrheit, als die einzige Wahrheit dieser Sache, vor einem liegt, scheint die einzige Verbindung von Wahrheit und Nacktheit zu sein, die sich herstellen läßt. Aber rhetorische Verblüffung läßt sich nur erreichen, wenn man noch eine Zusatzannahme macht – etwa eine solche, die die Metapher sexualisiert. Etwa in der Art, wie es der armenische Satiriker Jerwand Otjan mit dem Aphorismus getan hat: Warum wird die Wahrheit so oft vergewaltigt? Weil sie immer nackt ist. Hier wird die alte Metapher zum Ansatz einer neuen gemacht: als schlichtweg bekannt vorausgesetzt, daß die Wahrheit eine nackte weibliche Allegorie ist, was sie doch nur der Zufälligkeit ihres grammatischen Geschlechts in den Sprachen unserer Tradition verdankt, da es sonst keinen guten Grund dafür gibt, und dies nun als sexueller Stimulus genommen, um das entgegengesetzte Schicksal der Wahrheit zu erklären, durch das sie gerade aufhört, Wahrheit zu sein.

Rhetorische Verblüffung kann der versierte Redner im Parlament noch durch ein anderes paradoxes Kunststück erreichen. Ich kenne nur einen Fall. Am 23. Mai 1973 verzeichnet das Protokoll des Deutschen Bundestages den erregten Ausruf des damaligen Wirtschaftsministers Friderichs zur Opposition: Und das ist die nackte Unwahrheit! Zugunsten eines verblüffenden Effekts ist der wesentliche Zusammenhang zwischen der Metapher der Nacktheit und der Wahrheit aufgelöst. Gemeint ist, daß eine Vorhaltung der Opposition nichts anderes als Unwahrheit sei, kein Restquentchen von Wahrheit an ihr. Nicht einmal unvorstellbar, daß diese Verbindung längst hergestellt worden wäre, wie etwa in der Rede vom ›blanken Haß‹, wenn ihr nicht die konsolidierte Gegenmacht der Verbindung von Wahrheit und Nacktheit entgegengestanden hätte.