Morgens wache ich auf und denke an das Wochenende, das vor mir liegt. Wochenenden sind blöd! Das liegt zum einen daran, dass meist nichts los ist, und zum anderen am leidigen Tütenschleppen.
Nach dem Frühstück gehen wir los. Der Aldi liegt zwei Straßen weiter im Industriegebiet neben einem Baumarkt.
Ich kenne mich schon genau aus bei Aldi. Was wo in welchen Regalen liegt.
Mama kauft meistens die gleichen Sachen ein, sodass wir zum Glück nicht so lange brauchen, um drei riesengroße Tüten zu füllen und nach Hause zu schleppen. Ich zwei, Mama eine.
Mama singt, denn sie hat gute Laune, weil sie sich am Kiosk, der auf dem Weg liegt, ein Rubbellos gekauft und fast 20 Euro gewonnen hat.
Ich hab eine Tafel Schokolade und Brausepulver bekommen.
Den Rest des Tages verbringe ich damit, Hausaufgaben zu machen und für die Mathearbeit nächste Woche zu lernen. Nachmittags darf ich noch einen Tierfilm über Erdmännchen sehen.
Ich mag Tiere sehr, eigentlich alle, außer Zecken, die ich mir manchmal in Pauls Garten einfange.
Mama bekommt jedes Mal fast einen Herzanfall, wenn sie eine Zecke sieht, und zum Glück kann Paul die Dinger entfernen, ohne dass der Kopf in der Haut stecken bleibt.
Als ich Sonntagmorgen aufwache, überlege ich, ob ich Tom besuchen kann, aber dann fällt mir ein, dass er mit seinen Eltern einen Ausflug zu einer Greifenwarte macht. Manchmal bin ich ein bisschen neidisch auf ihn. Das wäre auch was für mich!
Tom ist sozusagen fast mein Freund. Fast sage ich deshalb, weil ich Tom eigentlich nur in der Schule sehe. Wir sitzen nebeneinander. Einen richtigen Freund müsste man auch mal nachmittags treffen, finde ich.
Tom hat jeden Tag was vor. Montags Klavier, dienstags Judo, mittwochs Nachhilfe, donnerstags Fußball und am Freitag wieder Nachhilfe. Er ist nämlich nicht so gut in der Schule, beinahe noch schlechter als ich.
An den Wochenenden macht er mit seinen Eltern in der Regel Ausflüge. Ins Fantasialand, in den Zoo, wandern oder so. Wir machen nur selten Ausflüge. Ein paarmal waren wir im Fantasialand, das war schön. Meist ist Papa aber zu kaputt am Wochenende. Da muss er sich ausruhen von der Arbeit.
Also besuche ich Paul in seinem Garten. Er sitzt auf der Bank und kaut auf einem Ästchen rum.
»Paul? Was machst du eigentlich, wenn du Langeweile hast?«, frage ich ihn.
»Hab ich nie«, sagt er und lacht.
»Ich schon, immer am Wochenende. Da ist doch echt nichts los, absolut nichts. Ich wünschte, dass mal was ganz Überraschendes passiert.«
Dann rupft Paul Unkraut und ich komme mir auch bei ihm überflüssig vor und schlendere wieder nach Hause.
Und wie durch ein Wunder hat sich mein Wunsch erfüllt, allerdings doch anders, als ich mir das vorgestellt hatte.
Zu Hause ist alles andere als nichts los …
Mama rennt mit dem Telefon in der Hand wie wild durch die Wohnung und schreit: »Sie müssen SOFORT kommen, SOFORT, verstanden!«
Papa steht wie angewurzelt im Türrahmen des Wohnzimmers und starrt mit großen Augen Löcher in die Luft. Mich registriert keiner.
Ich begreife erst nicht, was los ist. Aber dann sehe ich es.
Oma liegt auf unserem Sofa und röchelt. Sie ist ganz blass im Gesicht und sieht aus, als würde sie sich gleich auf unseren Flokati übergeben. Dazu rollt sie so komisch mit den Augen.
Mama legt das Telefon aus der Hand, setzt sich zu Oma aufs Sofa und tätschelt ihr im Gesicht rum. Ich glaube, das mag Oma nicht, denn sie röchelt bloß noch mehr, fuchtelt mit der Hand und versucht Mama wieder loszuwerden.
»Hol Oma doch mal was zu trinken«, schlage ich vor.
Mama findet meine Idee anscheinend gut, denn sie geht in die Küche und das Röcheln wird besser.
Dann klingelt es an der Tür und zwei Sanitäter kommen rein. Sie kümmern sich sofort um Oma, stellen ihr Fragen, auf die sie nicht antwortet, untersuchen sie und halten dann ein Gerät mit Sauerstoff an ihren Mund.
Mama redet die ganze Zeit dazwischen, fragt, was Oma hat und ob sie sie mitnehmen. Und tatsächlich holen sie eine Trage und legen Oma vorsichtig darauf.
»Was passiert jetzt mit Oma?«, frage ich Papa. Der kriegt kaum den Mund auf und nuschelt nur irgendwas Unverständliches. Er hat meine Frage gar nicht gehört.
»Ins Krankenhaus! Sie bringen Oma ins Krankenhaus«, sagt Mama und schiebt mich aus dem Weg, damit die Sanitäter mit der Oma besser durch den Flur kommen.
Oma sieht an die Decke, obwohl ich noch schnell versuche ihr Tschüss zu sagen.
»Oma, hab keine Angst, du wirst bestimmt wieder gesund!«, rufe ich ihr nach.
Dann laden die Sanitäter Oma in den Notarztwagen und fahren mit Blaulicht davon.
Ich sehe ihnen hinterher, bis sie am Ende der Straße abbiegen. Und dann höre ich, dass sie das Martinshorn eingeschaltet haben. Ich bleibe wie angewurzelt stehen, bis ich nichts mehr hören kann.
Nach einer Weile gehe ich wieder rein. Da ist es ganz ruhig.
Papa hüstelt. Joschi schmiert sich in der Küche ein Butterbrot und schüttet Ketchup drauf. Der hat immer Hunger.
Mama lässt sich mit einem lauten Seufzer aufs Sofa fallen und sagt: »Das musste ja mal so kommen. Sie ist auch nie zum Arzt gegangen.«
Na klar, Oma ist natürlich immer an allem schuld. Zumindest in den Augen von Mama. Da gibt es keine Zufälle oder Pech oder Schicksal …
Oma ist auch schuld, wenn Mama mal das Essen anbrennen lässt, weil sie immer so viele Geschichten erzählt und Mama ablenkt und nervt. Warum hätte Oma denn zum Arzt gehen sollen? Sie war doch nie krank.
»Unkraut vergeht nicht!«, hat sie immer gesagt.
»Es gibt kein Unkraut«, habe ich dann geantwortet. Das hat mir Paul erklärt. Jedes Pflänzchen hat einen Sinn.
»Ach Bub!«, sagte Oma dann. »Wie jämmerlich würde die Erde aussehen, wenn kein Unkraut darauf wachsen würde.«
Jedenfalls ist sie jetzt weg.
»Und, was gibt’s heute Abend zum Essen?«, mault Joschi, und es ist alles wieder so, als wäre nichts passiert.
Am nächsten Tag sitze ich in der Schule im Matheunterricht hinter Lukas Hartmann und denke an Oma. Mama hat versprochen, dass ich sie besuchen darf, aber erst, wenn es ihr etwas besser geht und man weiß, was sie hat.
Ich sehe auf meine Armbanduhr und rechne aus, wie viele Minuten es noch bis zum Pausengong sind. Immerhin mach ich so ja auch irgendwie Mathe, obwohl ich das, was Herr Kuhl da an die Tafel schreibt, mal wieder nicht verstehe.
Da wimmelt eine Unmenge von Zahlen, Buchstaben und Strichen auf der Tafel rum, wild gemischt. Herr Kuhl nennt das Bruchrechnen. Das hört sich doch schon nach Krankheit an. Mathe kann einfach nicht gesund sein.
Als ich mittags nach Hause komme, hängt Mama gerade die Wäsche im Hof auf.
»Was hat Oma eigentlich?«, will ich wissen.
»Ach, das ist schwer zu erklären. Oma ist einfach alt und der Kreislauf zu schwach«, sagt Mama und versucht die verschiedenen Socken von uns zu Paaren zu sortieren. Sie nennt das Sockenmemory und ich helfe ihr dabei.
Sie sieht mich an und versucht zu lächeln. »Wird schon wieder werden mit Oma«, sagt sie. »Mach dir mal nicht zu viele Sorgen, mein Schatz.«
Nachmittags sehe ich, wie Paul im Garten ein Beet umgräbt. Ich rufe ihn und er hebt mich über den Zaun.
»Meine Oma ist im Krankenhaus«, erzähle ich ihm.
»Oje!«, sagt Paul. »Was hat sie denn?«
»Das ist schwer zu sagen. Sie hat geröchelt und keine Luft mehr gekriegt.«
»Wirst du sie besuchen?«
»Klar!«, sage ich, und mir geht durch den Kopf, dass mein Wunsch schon in Erfüllung gegangen ist.
Endlich ist was los. Es ist was passiert, zwar was richtig Blödes, aber es hat Folgen. Mein Leben wird sich ändern.
Vielleicht werde ich nie wieder Spätzle machen können, obwohl das so viel Spaß gemacht hat mit Oma. Das wäre schon blöd! Vielleicht hätte ich mich doch nicht so über die Wochenenden beschweren sollen?
Na ja, wenigstens könnte Papa jetzt endlich Omas wackeliges Sofa reparieren. Sie kann ja momentan nicht dagegen protestieren.
Abends sitzen wir nur zu viert am Tisch. Omas Platz ist leer. Mir fehlen ihre Klatschgeschichten.
Es gibt Spaghetti mit Tomatensoße. Joschi schmatzt laut, dem schmeckt es immer. Es reicht ihm, wenn was Rotes am Essen ist, das an Ketchup erinnert, dann ist er selig.
Papa schimpft wieder einmal über seinen Job. Was Papa genau arbeitet, weiß ich nicht, aber er ist in einem Büro und achtet darauf, dass alle Leute rechtzeitig ihre Steuern bezahlen.
Ich würde gerne mal sein Büro sehen, aber das hat bis jetzt nie geklappt.
Er hat die Arbeit noch nicht so lang und besonders viel Spaß scheint sie ihm nicht zu machen. Die meisten Kollegen mag er auch nicht.
Ich verstehe nicht, warum er damit zufrieden ist. Ich hab andere Pläne. Stuntman oder Pilot oder zumindest Feuerwehrmann. Action halt.
Mama arbeitet nicht mehr. Sie war mal Bedienung in einer Bar und hat bunte Cocktails gemixt. Jetzt ist sie zu Hause, um sich um uns und vor allem um Oma zu kümmern.
Ich glaube, das ist eine Ausrede, denn Oma braucht keinen Babysitter, und außer den Einkäufen muss Mama für sie nichts machen. Aber Oma hilft ihr ganz viel. Sie bügelt Papas unzählige karierte Hemden und stopft alle Löcher in den Socken.
Mama behauptet, sie wäre jetzt eh zu alt für den Barjob, dabei sieht sie, mal abgesehen von den Augenringen, die sie morgens immer hat, noch ganz hübsch aus. Sie hat blonde Locken, die ich besonders an ihr mag. Und schöne Augen, die ziemlich auffallen, weil sie beinahe dunkelgrün sind.