Der nächste Sonntag ist nicht so wie die anderen Sonntage.

»Wir werden heute alle zusammen Oma besuchen«, verkündet Mama beim Frühstück. Sie war schon ein paarmal da, aber wir durften nicht mit, weil Oma noch nicht bei sich war. So hat das Mama ausgedrückt. Jetzt scheint es ihr besser zu gehen. Deshalb fahren wir alle zusammen mit der Straßenbahn. Die ganze Familie.

Ich habe noch nie jemanden im Krankenhaus besucht. Und ich war auch nur ein einziges Mal da, als ich mir mit einem Küchenmesser den Finger fast abgeschnitten hätte, und bei meiner Geburt natürlich, aber daran erinnert man sich ja nicht mehr, das gilt nicht.

Damals habe ich Oma beim Kochen geholfen und wollte Möhren klein schnippeln, und dabei bin ich mit dem blöden Messer ausgerutscht und habe mir in den Daumen geschnitten. Das hat ziemlich dolle geblutet und Oma hat mir ein Pflaster geholt. Da war aber schon der ganze Tisch voller Blut und ich bin zu Mama runtergerannt, habe gebrüllt und im Treppenhaus eine Spur aus lauter roten Tröpfchen hinterlassen.

Eine echte Blutspur, wie in einem Krimi.

Mama hat laut geschrien und zu Oma hochgerufen: »Wie ist denn das passiert?«, und gleichzeitig hat sie mir ein Küchentuch um den Finger gewickelt. Oma kam die Treppe runtergewackelt und hat geweint und dauernd »Oh Gott, oh Gott!« gemurmelt. Dann hat Mama Paul angerufen. Und der hat uns mit seinem Auto ins Krankenhaus gebracht. Auf dem Weg hat er zwei rote Ampeln überfahren und wieder habe ich mich gefühlt wie in einem Film mit einer wilden Verfolgungsjagd. Es war toll.

Als wir im Krankenhaus waren, hat es da ganz komisch gerochen und alles war weiß und hat furchtbar geblendet. Ich erinnere mich genau daran.

Ich hab ein Bild für Oma gemalt, für die weißen Wände. Mama meinte, sie würde sich sicher darüber freuen. Ich hab einfach ein Auto gemalt, das kann ich am besten. Einen Alfa Romeo Giulietta. Ziemlich cooles Teil.

Mama hat für Oma eine große rosa Schachtel Pralinen gekauft.

Ich bin gespannt, wie es Oma geht und was sie erzählt.

Oma kann doch so schön erzählen. Ich vermisse die Nachmittage auf dem Wackelsofa bei ihr und ihre Geschichten. Am liebsten erzählt sie von früher. Da gibt es zum Beispiel die Geschichte, wie sie als kleines Mädchen Gänse hüten musste. Zwei Stück. Denen hatte sie die Namen Peter und Silie gegeben, und wenn sie laut PeterSilie rief, dann kamen sie angewatschelt, und Oma brachte sie zu einer Stelle am Waldrand, wo Gänsefingerkraut wuchs. Das fraßen sie nämlich ganz besonders gerne. Und manchmal durften die Gänse auch im Bach schwimmen. Oma liebte die beiden sehr. Sie kraulte sie am Hals und konnte sie sogar auf den Arm nehmen und die Gänse rannten ihr immer hinterher.

»Wenn Schlachttag war, dann hab ich mir ein Bündel gepackt, mit frischem Brot und einem Stück Fleischwurst. Und dann bin ich mit Peter und Silie zu den drei alten Eichen am Waldrand gelaufen und wir haben gepicknickt. Wurst haben sie keine gekriegt, nur ein paar Brotkrümel«, hat Oma erzählt und dabei ihre vielen Runzeln tanzen lassen.

Einmal hat Oma mit den beiden sogar Hochzeit gefeiert. In der Beziehung ist sie auch heute noch ziemlich altmodisch und kann sich total darüber aufregen, wenn Leute zusammenleben, ohne verheiratet zu sein.

Also hat Oma Silie ein Stück weißen Tüllstoff umgebunden, den sie heimlich vom Brautschleier ihrer Mutter abgeschnitten hatte. Silie sah aus wie eine echte Gänsebraut. Oma hat sich die Bibel aus dem Nachttisch ihres Vaters stibitzt und am Waldrand die Gänse in einer feierlichen Zeremonie getraut.

»Auf der Wiese hab ich viele Butterblumen gepflückt für den Brautstrauß. Den hat der Bräutigam noch vor der Hochzeitszeremonie komplett aufgefuttert«, erzählte sie und lachte dabei laut.

Und dann kam meistens noch die Geschichte von Weihnachten.

Spätestens da hat Oma dann nicht mehr gelacht, sondern ist förmlich in sich zusammengefallen. Sie sah plötzlich traurig und ganz grau und klein aus in ihrer geblümten Kittelschürze auf ihrem Wackelsofa.

»Ja, Weihnachten, das traurigste Weihnachten meines Lebens!«, seufzte sie, bevor sie anfing zu erzählen: »An diesem Heiligabend gab es nämlich einen richtigen Festtagsbraten und nicht Würstchen wie sonst. Der stand mitten auf dem feierlich gedeckten Tisch auf einer großen Platte, dampfte und roch so köstlich. Und allen lief das Wasser im Munde zusammen.«

Aber dann erschrak Oma plötzlich. Der Braten erinnerte sie nämlich an etwas. Er hatte so eine seltsame Form. Eine gänseartige Form.

Oma rannte wie der Blitz raus auf den Hof und sah im Stall nach. Peter war verschwunden und Silie saß alleine in einer Ecke und bewegte sich nicht mehr. So, als hätte sie furchtbare Angst.

Und als dann alle am Tisch um den leckeren Braten versammelt waren, da fragte Oma mit fester Stimme: »Ist das mein Peter?«, und zeigte auf den dampfenden knusprigen Braten. Keiner antwortete ihr. Es war mucksmäuschenstill. Alle starrten betroffen auf ihre Knie.

Und dann begann Oma ganz leise zu weinen. Keiner traute sich, mit dem Essen zu beginnen, bis sich schließlich Omas Vater ein Stück Braten auf den Teller legte und ewig auf dem ersten Bissen herumkaute. Aber auch er aß seine Gänsekeule nicht auf und Peter landete fast komplett auf dem Misthaufen.

»Das waren wirklich die allerschlimmsten Weihnachten, die ich je erlebt habe!«, sagte Oma dann noch einmal und schniefte und guckte so traurig. Da war ich einfach froh, dass die Geschichte zu Ende war, denn jedes Mal musste ich gegen die Tränen kämpfen und kam mir total dämlich dabei vor. Wegen so was heulen zu müssen. Ich als Junge – geht gar nicht!

Im Krankenhaus laufen wir endlose Gänge entlang und ich erkenne den Geruch wieder. Und ich merke, dass mein Daumen plötzlich ganz doll juckt. Der erinnert sich.

»Zimmernummer 58«, sagt Mama und rennt voraus, als wäre sie schon oft hier gewesen. Typisch Mama, immer zu schnell. Papa, Joschi und ich kommen kaum nach. Endlich haben wir die Tür mit der richtigen Nummer gefunden.

Mama klopft und geht als Erste rein. Dann sehe ich Oma. Sie liegt in einem riesigen Bett, gut ausgeleuchtet von einer viel zu hellen Lampe, die über dem Bett hängt und die Haut von Oma ganz weiß leuchten lässt. Ja, Oma sieht aus, als hätte man sie mit Mehl eingerieben. So dünn und grau. Sie starrt an die Decke. An ihrem Arm baumeln verschiedene Schläuche. Und plötzlich sehe ich, dass die beiden Arme mit grauen Gurten am Bett festgeschnallt sind. Sie kann sie gar nicht bewegen.

»Die haben Oma gefesselt!«, schreie ich.

Mama legt ihre Hand auf meinen Kopf und sieht mich an. »Die haben Oma fixiert, weil sie sich sonst die Schläuche und Infusionen rausreißen würde. Sie versteht nicht, dass die wichtig sind, damit sie wieder gesund wird.« Dann setzt sie sich auf die Bettkante, tätschelt Omas Hand und sagt wie immer etwas zu laut: »Frida, wir sind da, wie geht es dir denn? Hast du Durst? Guck mal, wir haben dir auch was mitgebracht, deine Lieblingspralinen, die mit der leckeren Nussfüllung, willst du mal eine?« Sie redet in einem Schwall, sodass Oma gar keine Chance hat, einen Ton zu sagen. Und dann rupft Mama hektisch die Packung auf, nimmt eine Praline und schiebt sie Oma in den Mund.

Oma schmatzt und würgt, und sie scheint gar nicht zu wissen, was sie mit der Praline anfangen soll. Die geschmolzene Schokolade läuft mit der Spucke wieder aus ihrem Mund raus.

Mama kramt in ihrer Handtasche und holt ein Tempo raus, um Oma den Mund abzuwischen. Oma starrt weiter an die Decke.

Ich halte Oma das Bild über den Kopf, sodass sie es sehen kann.

»Guck mal, Oma, ich hab dir ein Bild gemalt. Ich hänge es dir auf und dann kannst du es dir anschauen. Das ist ein Alfa Romeo Giulietta. Eine richtig super Kiste!«

Einen Moment lang hab ich den Eindruck, dass Oma mein Bild anguckt. Aber dann wandern ihre Augen wieder zur Zimmerdecke.

Mama redet und redet.

Papa und Joschi stehen wortlos und starr an der Wand und wirken wie Schaufensterpuppen, die sich aus irgendwelchen Gründen hierher verirrt haben. Ich glaube, Papa weiß einfach nicht, was er mit Oma reden soll. Dabei ist er doch ihr Sohn. Joschi denkt sicher schon wieder ans Abendessen oder an seinen neuen Schwarm, Jessica aus seiner Klasse. In die sind alle verknallt. Joschi auch, und ich weiß das deshalb so genau, weil ich einen Brief gefunden habe, den Joschi an Jessica geschrieben hat:

Liebe Jessica. Willst Du mal mit mir ins Kino gehen oder eine Wurst essen? Dein Joschi stand da. Drunter hatte Joschi sogar ein kleines rotes Herz gemalt. Voll peinlich!

Nach einer Viertelstunde weiß sogar Mama nicht mehr, was sie sagen soll.

»Ja, ich denke, Oma muss sich noch ein bisschen ausruhen …«, murmelt sie und klappt die Pralinenschachtel wieder zu. »Blumen soll man ja keine mehr mitbringen ins Krankenhaus, wegen der Keime.«

Ich drücke Oma die Hand, die sie nicht bewegen kann. »Tschüss, Oma, bis dann, ich komm dich bald wieder besuchen!«, flüstere ich ihr ins Ohr.