Dann parkt Paul plötzlich den Wagen vor einem kleinen weißen Haus mit einem leuchtend roten Gartenzaun, hinter dem es in allen Farben blüht. Einen Campingplatz kann ich weit und breit nicht entdecken.

»Steig aus! Bald sind wir da, aber jetzt machen wir erst mal ein Päuschen bei einer alten Freundin von mir«, sagt Paul und reißt die Hintertür auf, um mich rauszulassen.

Langsam werde ich ungeduldig. Warum erzählt mir Paul eigentlich nicht, was er vorhat? Wir wollten doch Oma helfen und jetzt sind wir hier in einem Kaff mitten in der Pampa? Wo ist der Campingplatz?

Als wir vor dem Haus stehen, kommt ein riesengroßer schwarzer Hund aus dem Garten gerannt, fletscht die Zähne und bellt uns an. Hinter ihm taucht eine kleine hutzelige Frau auf, die ein rotes, wallendes Kleid anhat, das ihr viel zu groß ist. Sie schwenkt die Arme über dem Kopf und ruft: »Napoleon, jetzt ist’s genug!« Dann sieht sie uns und strahlt. Ja, sie strahlt wie die Sonne und fällt Paul um den Hals. Der wirbelt sie hoch, wie man es mit kleinen Kindern macht, und schwenkt sie einmal durch die Luft.

›Hoffentlich lässt er sie nicht los‹, denke ich und bin froh, dass er sie wieder auf dem Boden absetzt.

»Eveline!«, ruft er. »Du hast dich kein bisschen verändert.«

»Du Lügner!«, sagt sie strahlend.

Dann kommt Eveline auf mich zu, streckt mir ihre Hand entgegen, und ich sehe in zwei lustige dunkel­braune Augen und ein freundliches Gesicht, das umrahmt ist von grauen Haaren, die sich aus einem lockeren Knoten gelöst haben. Irgendwie kommt sie mir bekannt vor, aber ich weiß nicht, woher.

»Wen hast du denn da mitgebracht?«, fragt sie.

»Das ist Nick, mein Freund!«, sagt Paul, und ich bin stolz, dass er das so sagt.

Wir schütteln uns die Hand, und ich beschließe, mich augenblicklich hier wohlzufühlen. Der schwarze Riesenhund weicht mir nicht mehr von der Seite und versucht, mir mit seiner langen Zunge die Hände abzuschlecken.

Das Haus von Eveline gleicht einem Museum. Es ist so vollgestopft mit Krempel, dass man stundenlang nur gucken und staunen könnte. Die Möbel passen alle nicht wirklich zueinander. Da gibt es alte Holzschränke, bunt angestrichene Stühle, ein ziemlich wild bemaltes feuerrotes Bild, auf das jemand die Farbe fingerdick aufgetragen hat, einen Kronleuchter, der in seiner ganzen Pracht funkelnd von der Decke baumelt, und weiße Regale mit unzähligen Dingen, unter anderem vielen Versteinerungen. Das ist echt cool!

Eveline merkt, dass ich mich vor allem für die Versteinerungen interessiere, und zeigt mir eine Steinplatte, auf der ich das Knochengerüst eines ungefähr hasengroßen Tieres entdecke.

»Das ist etwas ganz Besonderes, ein Propalaeotherium parvulum, ein Urpferd«, erklärt sie. »Es hat vor circa 49 Millionen Jahren gelebt.«

Ich gucke es mir genau an. Das ist der Hammer! Ein hasengroßes Pferd aus der Urzeit!

In der Zimmerecke brennt ein Feuerchen im Ofen und es ist schön warm. Aber noch etwas fällt mir auf. Eveline besitzt mindestens so viele Bücher wie Paul. Bücher über Pflanzen und Tiere, dicke Bildbände über Bäume, Naturführer und so.

»Eveline ist Biologin«, erklärt Paul, »sie kennt sich mit Tieren gut aus!«

Eveline verschwindet einen Moment in der Küche und Paul und ich setzen uns nebeneinander auf ein geblümtes Sofa. Napoleon, so heißt der Riesenhund nämlich, kommt herbei, legt seinen Riesenschädel auf meinen Schoß und lässt sich streicheln. Plötzlich fällt mir auch ein, wo ich Eveline schon mal gesehen habe. In Pauls Wohnzimmer hängt ein Foto an der Wand, auf dem man vier junge Leute vor einem Heuwagen stehen sieht. Die Männer haben nackige Oberkörper und die Haare der zwei Frauen wehen im Wind. Eine davon sieht aus wie Eveline in jung.

»Du, Paul, wie lange bleiben wir denn hier?«, starte ich einen weiteren Versuch, etwas Licht in seine Geheimnistuerei zu bringen.

»Wir machen nur kurz Pause und ich lasse mir von Eveline den Weg erklären. Dann fahren wir weiter bis zum Ziel.«

»Aha.«

»Später erkläre ich dir alles ganz genau, aber jetzt kann ich noch nichts verraten, sonst machst du bestimmt einen Rückzieher. Wir werden nämlich etwas ziemlich Abenteuerliches machen.«

»Was heißt denn das …?« Es grummelt in meinem Magen und ich fühle ein leichtes Unbehagen in mir aufsteigen. Ist das etwa Angst? Paul ist doch mein Freund, ich kann ihm vertrauen.

Aber bevor ich mir weiter ernsthafte Gedanken um meine Reise mit Paul machen kann, kommt Eveline mit einem Holzbrett zurück, auf dem leckere Butterbrote mit Käse und Radieschen liegen.

Und plötzlich merke ich, was für einen Riesenhunger ich schon wieder hab.

Nach dem Essen bittet mich Eveline, mit Napoleon ein bisschen rauszugehen. Er muss mal. Ich streife mit ihm durch ein Maisfeld, und es ist lustig, denn er haut manchmal ab und sucht mich dann. Ich versuche mich zu verstecken, aber seine Nase scheint wirklich gut zu funktionieren, denn er findet mich immer wieder. Die Sonne verschwindet langsam hinter dem Wald und mich fröstelt.

»Napoleon, sitz!«, befehle ich, denn ich will mir schnell meine Jacke aus dem Käfer holen. Unerwarteterweise setzt sich Napoleon sogar hin und wartet geduldig.

Die Beifahrertür ist offen, und ich zwänge mich ins Auto, um nach meiner Jacke auf dem Rücksitz zu angeln. Und plötzlich entdecke ich etwas Eigenartiges. Es liegt auf dem Boden und sieht genauso aus wie ein Dietrich zum Aufbrechen von Türen. Ein Einbruchswerkzeug … Was hat Paul bloß vor? Ein bisschen seltsam finde ich das alles schon.

Als ich zurück ins Wohnzimmer komme, sitzen Eveline und Paul beieinander und reden.

Eveline sieht mich an. »Paul hat mir grade die Sache mit deiner Oma erzählt. Das ist ja schrecklich. Aber ich glaube, ihr zwei macht genau das Richtige!«

Paul zwinkert mir zu und sagt: »Ich weiß jetzt den Weg und der Plan steht. Wir starten gleich und dann weihe ich dich in alles ein.«

›Endlich!‹, denke ich.

Eveline nimmt Paul lange in den Arm und drückt ihn. Ich glaube, die beiden mögen sich sehr. Mich strahlt sie an und hält mir ihre verschlossene Hand vors Gesicht. »Für dich!«, sagt sie. »Zur Erinnerung, damit du mich mit Paul mal wieder besuchen kommst.«

Dann öffnet sie die Hand und ich fange einen kleinen dunklen Stein auf. Keinen gewöhnlichen Stein, sondern einen Trilobiten, ein münzgroßes, versteinertes Urtier. Unglaublich! Ich falle ihr um den Hals. Dieser Trilobit wird garantiert die Sensation meiner Sammlung sein.

Dann steigen wir in den Käfer. Auf der Rückbank steht eine Hundetransportbox.

»Die ist von Eveline, das heißt eigentlich von Napoleon. Wir werden sie brauchen«, erklärt Paul.

Dann fahren wir los, und ich winke Eveline lange nach, bis sie nur noch ein winziger Punkt am Ende der Straße ist, der dann hinter einer Gruppe von Bäumen verschwindet.

Aber wozu brauchen wir beim Zelten eine Hundebox?