Als Robert bei der Garage in der Sin Lane anlangte, um seinen Wagen abzugeben, streifte Stanley eben vor der Bürotür den Overall ab. Er warf ihm nur einen Blick zu und fragte: »Wieder Fehlanzeige?«
»Keine Pferdewette, Stanley«, sagte Robert, »diesmal ist es die menschliche Natur.«
»Wenn man erst einmal anfängt, über die Schlechtigkeit der Menschen zu klagen, dann hat man für nichts anderes mehr Zeit. Haben Sie versucht, jemandem gute Ratschläge zu geben?«
»Nein, ich habe versucht, jemanden zu finden, der ein wenig Farbe von einer Wand beseitigt.«
»Ach, Arbeit!« Stanleys Tonfall deutete an, dass allein die Annahme, dass heutzutage jemand seine Arbeit tat, von einem geradezu wahnwitzigen Optimismus zeugte.
»Ich wollte jemanden finden, der eine Schmiererei von den Mauern des Franchise entfernt, aber ganz plötzlich sind alle ungeheuer beschäftigt.«
Stanley stoppte seine Verrenkungen im Overall. »Eine Schmiererei«, sagte er. »Wie sieht die aus?« Bill, der das Gespräch mitbekommen hatte, zwängte sich durch die enge Bürotür, um zuzuhören.
Robert erzählte es ihnen. »In bester weißer Farbe, hat mir der Streifenpolizist versichert.«
Bill stieß einen Pfiff aus. Stanley schwieg; seinen Overall hatte er bis zur Hüfte abgestreift, und er hing ihm in Ziehharmonikafalten um die Beine.
»Bei wem haben Sie’s versucht?«, wollte Bill wissen.
Robert zählte sie auf. »Keiner von ihnen kann heute Abend noch etwas ausrichten, und all ihre Leute haben, wie es scheint, gleich morgen früh sehr wichtige Arbeiten zu erledigen.«
»Das darf doch nicht wahr sein. Meinen Sie etwa, die haben Angst, dass man ihnen die Hucke vollhaut?«
»Nein, da muss ich sie in Schutz nehmen – das ist es nicht. Ich glaube, auch wenn sie mir das niemals ins Gesicht sagen würden, sind sie im Grunde davon überzeugt, dass die Frauen im Franchise es nicht besser verdienen.« Für einen Augenblick herrschte Schweigen.
»Als ich beim Corps of Signals war«, sagte Stanley und begann in aller Ruhe, seinen Overall wieder hochzuziehen und in das obere Teil zu schlüpfen, »da habe ich ja eine kostenlose Rundreise durch Italien machen dürfen. Beinahe ein Jahr war ich unterwegs. Und ich habe die Malaria überstanden und die Itaker und die Partisanen und die Truppentransporte der Yankees und die meisten der anderen kleinen Unannehmlichkeiten. Aber damals habe ich einen Hass entwickelt. Schmierereien auf Wänden sind mir ein Gräuel geworden.«
»Womit kriegen wir das ab?«, fragte Bill.
»Wozu hat man die modernste und bestausgestattete Garage Milfords – da werden wir doch wohl was haben, um einen Spritzer Farbe wegzubekommen!«, erwiderte Stanley und zog den Reißverschluss zu.
»Wollen Sie es wirklich versuchen?«, fragte Robert überrascht und erfreut.
Bill grinste übers ganze Gesicht. »Der Corps of Signals, der Corps of Royal Electrical and Mechanical Engineers und zwei Besen«, sagte Stanley. »Was wollen Sie mehr?«
»Ihr seid großartig«, sagte Robert, »alle beide. Ich habe nur den einen Wunsch für heute Nacht – noch vor dem Frühstück die Schmiererei von der Wand zu bekommen. Ich komme mit und helfe.«
»Aber nicht in Ihrem Londoner Maßanzug, das kommt nicht infrage«, sagte Stanley. »Und wir haben keine passende Kleidung in Ihrer –«
»Gut, dann ziehe ich mir etwas Altes an und komme nach.«
»Hören Sie«, sagte Stanley geduldig, »bei so einer kleinen Sache brauchen wir keine Hilfe. Und wenn, dann würden wir Harry mitnehmen.« Harry war der Lehrjunge.
»Sie haben noch nicht zu Abend gegessen und wir schon, und ich habe mir sagen lassen, dass Miss Bennet es gar nicht mag, wenn ihr gutes Abendessen verbrutzelt. Ich nehme an, es macht Ihnen nichts aus, wenn ein paar Flecken auf der Wand bleiben? Schließlich sind wir nur hilfsbereite Mechaniker und keine Anstreicher.«
Die Läden waren geschlossen, als er die High Street zu seinem Haus, der Nummer 10, hinunterging, und er betrachtete die Umgebung wie ein Fremder auf einem Sonntagabendspaziergang. Während dieses Tages in Larborough war er so weit fort von Milford gewesen, dass es ihm vorkam, als wären Jahre vergangen. Die angenehme Ruhe der Nummer 10 – die sich so gänzlich von der Grabesstille des Franchise unterschied – hieß ihn willkommen und beruhigte ihn.
Ein leichter Duft von Bratäpfeln drang aus der Küche. Durch die halb offene Wohnzimmertür sah er die Schatten des Kaminfeuers an der Wand flackern. Wärme, Sicherheit und Geborgenheit schwollen in einer sanften Woge an, und er versank in ihr.
Er verspürte ein Schuldgefühl, weil der Frieden, der hier auf ihn wartete, ganz für ihn allein war, und er griff zum Telefonhörer, um mit Marion zu sprechen.
»Ach, Sie sind es – wie schön!«, sagte sie, nachdem er endlich die Vermittlung davon hatte überzeugen können, dass seine Absichten ehrbar waren, und die unerwartete Wärme ihrer Stimme – in Gedanken war er noch immer bei der weißen Farbe – traf ihn mitten ins Herz und raubte ihm einen Augenblick lang den Atem. »Ich bin so froh. Ich hatte schon überlegt, wie wir Sie erreichen könnten; aber ich hätte mir denken können, dass Ihnen schon etwas einfällt. Ich nehme an, Sie brauchen nur zu sagen, dass Sie Robert Blair sind, und die Post stellt Ihnen ihre Einrichtungen zur Verfügung.«
Das sah ihr ähnlich, dachte er. Die aufrichtige Dankbarkeit des »ich hätte mir denken können, dass Ihnen schon etwas einfällt« und dann der leise Spott des folgenden Satzes.
»Ich nehme an, Sie haben unseren Wandschmuck gesehen?«
Das habe er, sagte Robert, doch von nun an werde ihn niemand mehr sehen, denn bis Sonnenaufgang werde er verschwunden sein.
»Morgen früh!«
»Die beiden Männer, denen meine Garage gehört, haben sich bereit erklärt, die Inschrift noch heute Nacht zu entfernen.«
»Aber – wenn sieben Mägde sieben Jahr –?«
»Ich weiß es nicht. Doch wenn Stanley und Bill sich das in den Kopf gesetzt haben, dann wird es auch gemacht. Sie sind in einer Schule erzogen worden, die keine Niederlagen duldet.«
»Was ist das für eine Schule?«
»Die britische Armee. Und ich habe noch eine gute Nachricht für Sie: Ich habe festgestellt, dass X tatsächlich existiert. Sie hat einmal mit ihm Tee getrunken. Hat sich an ihn herangemacht, im Salon des Midland Hotel.«
»Sich an ihn herangemacht? Aber sie ist doch noch ein Kind, und dabei so … Na, schließlich hat sie ja auch diese Geschichte erzählt. Wer so etwas tut, dem ist alles zuzutrauen. Wie haben Sie das herausbekommen?«
Er erzählte es ihr.
»Sie im Franchise haben einen schlimmen Tag gehabt, nicht wahr?«, fragte er, als er mit seiner Geschichte zu Ende war.
»Ja, ich fühle mich von Kopf bis Fuß besudelt. Schlimmer noch als das Publikum und die beschmierte Mauer war die Post. Der Postbote übergab sie der Polizei, und die brachte sie ins Haus. Es kommt nicht oft vor, dass man die Polizei der Verbreitung obszöner Schriften bezichtigen kann.«
»Ich hatte mir schon gedacht, dass es reichlich schlimm gewesen sein muss. Das war nicht anders zu erwarten.«
»Tja, wir bekommen so wenig Post, dass wir beschlossen haben, in Zukunft alles ungeöffnet zu verbrennen, wenn wir nicht die Handschrift erkennen. Benutzen Sie also keine Maschine, wenn Sie uns schreiben.«
»Kennen Sie denn meine Handschrift?«
»Aber ja, Sie haben uns doch eine Nachricht geschrieben, wissen Sie das nicht mehr? Die, die Nevil an jenem Nachmittag überbrachte. Hübsche Handschrift.«
»Haben Sie Nevil heute gesehen?«
»Nein. Aber einer der Briefe stammte von ihm. Das heißt, ein Brief war es eigentlich nicht.«
»Irgendwelche Papiere?«
»Nein, ein Gedicht.«
»Oh. Haben Sie es verstanden?«
»Nein, aber es klang sehr schön.«
»Das tun Fahrradklingeln auch.«
Ihm war, als lachte sie kurz. »Es ist schön, ein Gedicht über meine Augenbrauen zu bekommen«, sagte sie. »Aber noch schöner ist es, wenn man meine Wand sauber macht. Ich möchte Ihnen dafür danken. Ihnen und – wie heißen die beiden – Bill und Stanley. Wenn Sie uns einen sehr großen Gefallen tun wollen, könnten Sie uns dann vielleicht morgen etwas zu essen bringen oder schicken?«
»Zu essen!«, rief er, entsetzt, dass er daran nicht vorher gedacht hatte. Das kam davon, dass man ein Leben führte, in dem Tante Lin einem alles fix und fertig vorsetzte, es einem beinahe noch in den Mund stopfte – man dachte einfach nicht an so etwas. »Ja natürlich. Ich hatte vergessen, dass Sie ja nicht einkaufen können.«
»Nicht nur das. Der Lebensmittelwagen, der sonst montags kommt, war heute nicht da. Oder vielleicht«, fügte sie rasch hinzu, »war er hier und konnte sich nur nicht bemerkbar machen. Jedenfalls wären wir sehr dankbar, wenn Sie uns ein paar Sachen besorgen könnten. Haben Sie etwas zu schreiben?«
Sie gab ihm eine Liste von Dingen durch und fragte dann: »Wir haben die heutige Ack-Emma nicht gelesen. Stand etwas über uns drin?«
»Nur ein paar Briefe auf der Leserbriefseite.«
»Alle gegen uns, nehme ich an.«
»So ist es, leider. Morgen früh, wenn ich die Lebensmittel bringe, bringe ich ein Exemplar mit, und dann können Sie es sich selbst ansehen.«
»Ich fürchte, wir nehmen Ihre Zeit sehr in Anspruch.«
»Für mich ist das längst eine persönliche Angelegenheit geworden«, sagte er.
»Persönlich?«, fragte sie unschlüssig.
»Mein größter Wunsch ist es, zu beweisen, dass Betty Kane lügt.«
»Oh, ah ja, ich verstehe.« Sie klang halb erleichtert, halb – konnte das sein? – enttäuscht. »Nun, wir freuen uns, dass Sie morgen kommen.«
Doch sie sollte ihn schon lange vorher zu Gesicht bekommen.
Er ging früh zu Bett, konnte aber nicht einschlafen. Im Geiste probte er ein Telefonat, das er mit Kevin Macdermott führen wollte. Er ließ sich verschiedene Möglichkeiten durch den Kopf gehen, wie man die Suche nach X bewerkstelligen könnte; er fragte sich, ob Marion wohl schlief in jenem stillen alten Haus oder ob sie wach lag und auf Geräusche achtete.
Sein Schlafzimmer lag zur Straße hin, und gegen Mitternacht hörte er, wie ein Wagen vorfuhr und hielt, und kurz darauf hörte er durch das offene Fenster Bill vorsichtig rufen – es war kaum mehr als ein heiseres Flüstern. »Mr Blair! He, Mr Blair!«
Noch ehe zum zweiten Mal sein Name gerufen wurde, war er auch schon am Fenster.
»Gott sei Dank«, sagte Bill. »Ich dachte schon, das Licht gehört zu Miss Bennets Zimmer.«
»Nein, sie hat ein Zimmer zum Garten. Was ist los?«
»Es gibt Ärger beim Franchise. Ich muss die Polizei verständigen – die Telefonleitung ist durchgeschnitten. Aber ich dachte mir, Sie wollen Bescheid wissen, deshalb bin ich –«
»Was für einen Ärger?«
»Randalierer. Ich nehme Sie auf dem Rückweg mit, in ungefähr vier Minuten.«
»Ist Stanley bei ihnen geblieben?«, fragte Robert, als Bills massige Gestalt bereits wieder im Wagen verschwand.
»Ja, Stan bekommt gerade seinen Kopf verbunden. Bin gleich wieder da.« Und der Wagen schoss die dunkle, stille High Street hinauf.
Noch bevor Robert sich vollständig angezogen hatte, hörte er leise Motorgeräusche unter seinem Fenster und wusste, dass die Polizei bereits auf dem Weg war. Kein nächtliches Sirenengeheul, kein röhrender Auspuff; leise, wie der Sommerwind in den Blättern raschelt, wurde hier für Recht und Ordnung gesorgt. Als er die Haustür vorsichtig öffnete, damit Tante Lin nicht aufwachte – Christina konnten nur die Posaunen des Jüngsten Gerichts wecken –, hielt Bills Wagen eben am Bürgersteig.
»Und nun erzählen Sie«, sagte Robert, als sie unterwegs waren.
»Tja, wir haben unseren kleinen Auftrag im Licht der Scheinwerfer erledigt – nicht sehr fachmännisch, das nicht, aber es sieht doch viel besser aus als vorher – und dann die Lampen abgeschaltet und begonnen, unsere Sachen zu verstauen. Ganz gemächlich – es bestand kein Anlass zur Eile, und die Nacht war schön. Wir hatten uns gerade eine Zigarette angesteckt und wollten uns auf den Weg machen, als wir aus dem Haus das Klirren von zerbrochenen Fensterscheiben hörten. Auf unserer Seite war keiner hineingekommen, solange wir da waren, also wussten wir, dass es an einer der Seiten oder auf der Rückseite sein musste. Stanley griff in den Wagen und nahm seine Taschenlampe heraus – meine lag auf dem Sitz, weil wir sie eben gebraucht hatten – und sagte: ›Du gehst da rum, und ich gehe hier rum, und dann nehmen wir sie in die Zange.‹«
»Kann man denn außen herumgehen?«
»Na, es war ganz schön schwierig. Die Hecke reicht bis direkt an die Mauer heran. Normal angezogen hätte ich’s nicht machen wollen, aber im Overall schiebt man sich einfach durch und hofft das Beste. Bei Stan geht das leichter; der ist dünn. Aber ich kann mich nur gegen die Hecke stemmen, bis sie umfällt, sonst ist da kein Durchkommen für mich. Na, jedenfalls haben wir es geschafft, jeder auf seiner Seite, und dann noch mal durch die Hecken auf der Rückseite, und trafen uns in der Mitte – aber wir hatten keine Menschenseele gesehen. Doch dann hörten wir wieder Glas klirren, und da wussten wir, dass die damit noch lange nicht fertig waren. Stan sagte: ›Schieb mich hoch auf die Mauer, und dann ziehe ich dich nach.‹ Na, das würde er wohl so schnell nicht schaffen, mich da hochzuziehen, aber zum Glück reicht das Feld auf der Rückseite ziemlich hoch an die Mauer heran – ich glaube, da haben sie seinerzeit den Garten etwas tiefer gelegt –, deshalb war es nicht allzu schwer rüberzukommen. Stan fragte mich, ob ich außer meiner Taschenlampe noch etwas hätte, womit ich zuschlagen könne, und ich sagte ja, ich hätte noch einen Schraubenschlüssel. Und Stan meinte: ›Lass den blöden Schraubenschlüssel in der Tasche, und brauch lieber deine Fäuste, die sind größer.‹«
»Und er, was wollte er brauchen?«
»Sein altes rugby tackle, sagte er. Stan war früher ein ziemlich guter Verteidiger. Na, jedenfalls sind wir im Dunkeln losgegangen, dahin, wo das Glas klirrte. Offenbar zogen sie rund ums Haus und schmissen ein Fenster nach dem anderen ein. Wir holten sie ein, als sie fast schon wieder auf der Vorderseite waren, und schalteten unsere Taschenlampen ein. Ich glaube, es waren sieben. Jedenfalls viel mehr, als wir erwartet hatten. Wir schalteten die Lampen sofort wieder aus, bevor sie merken konnten, dass wir nur zu zweit waren, und schnappten uns den Erstbesten. Stan rief: ›Sie nehmen den da, Sergeant‹, und ich dachte noch, er redet mich aus alter Gewohnheit mit meinem Dienstrang an, aber jetzt verstehe ich, dass er ihnen vormachen wollte, wir wären Polizisten. Ein paar müssen sich gleich aus dem Staub gemacht haben. Obwohl es eine ziemliche Keilerei gab, können das nie im Leben sieben Mann gewesen sein. Und dann plötzlich war alles still – wir hatten ein ganz schönes Geschrei gemacht –, und ich merkte, dass sie uns gerade entwischten. Stan rief von irgendwo am Boden: ›Schnapp dir einen, Bill, bevor sie über die Mauer sind!‹, und ich lief ihnen mit eingeschalteter Lampe nach. Der Letzte wurde eben über die Mauer gezogen, und ich griff mir seine Beine und hielt fest. Doch er strampelte dermaßen, und ich hatte ja noch die Lampe in der Hand, dass er mir aus der Hand glitt wie ein Aal und drüben war, bevor ich wieder neu zupacken konnte. Damit war ich aus dem Rennen, denn von innen ist die Mauer auf der Rückseite noch höher als die vordere. Also ging ich wieder zu Stan. Er saß immer noch auf der Erde. Jemand hatte ihm eins über den Schädel gezogen, mit einer Flasche, sagte er, und er sah ziemlich mitgenommen aus. Und dann erschien Miss Sharpe oben auf der Eingangstreppe und fragte, ob jemand verletzt sei. Sie konnte uns im Licht der Taschenlampe sehen. Also haben wir Stan ins Haus gebracht – die alte Dame war auch da, und das Haus war mittlerweile hell erleuchtet –, und ich ging zum Telefon. Aber Miss Sharpe sagte: ›Das brauchen Sie gar nicht erst zu versuchen. Die Leitung ist tot. Wir haben gleich, als die kamen, versucht, die Polizei zu rufen.‹ Also habe ich gesagt, dann fahre ich los und hole sie. Und Sie bringe ich besser auch mit, habe ich gesagt. Aber Miss Sharpe sagte Nein, Sie hätten einen sehr anstrengenden Tag hinter sich, und ich solle Sie nicht stören. Aber ich dachte mir, Sie sollten wissen, was da vorgeht.«
»Das war richtig, Bill, das sollte ich auch.«
Das Tor war weit offen, als sie ankamen, der Polizeiwagen stand vor der Tür, die meisten Fenster auf der Vorderseite waren erleuchtet, und wo die Scheiben zerbrochen waren, wehten die Vorhänge sanft im Nachtwind. In dem Salon, der den Sharpes offenbar als Wohnzimmer diente, wurde Stanley, der eine Wunde oberhalb der Augenbraue hatte, gerade von Marion verarztet, ein Sergeant der Polizei machte sich Notizen, und sein Gehilfe breitete die Beweisstücke aus. Wie es schien, handelte es sich um halbe Backsteine, Flaschen und beschriebene Papierfetzen.
»Ach Bill, ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen es nicht tun«, sagte Marion, als sie aufblickte und Robert sah.
Robert bemerkte, mit welchem Geschick sie Stanleys Wunde versorgte – diese Frau, die es nicht fertigbrachte zu kochen. Er grüßte den Sergeanten und bückte sich dann, um die Beweisstücke zu begutachten. Es gab eine ganze Batterie von Wurfgeschossen, aber nur vier Zettel, und die Botschaften lauteten: »Verschwindet!«, »Verschwindet, oder wir helfen nach!«, »Fremdenpack!« und »Das ist erst der Anfang!«
»So, ich glaube, wir haben alle beisammen«, sagte der Sergeant. »Jetzt suchen wir noch den Garten nach Fußspuren und sonstigen Indizien ab.« Er warf einen fachmännischen Blick auf die Schuhsohlen, die Bill und Stanley ihm auf seine Bitte hin zeigten, und ging mit seinem Untergebenen hinaus in den Garten, gerade als Mrs Sharpe mit einer dampfenden Kanne und Tassen hereinkam.
»Ah, Mr Blair«, sagte sie. »Sie finden uns auch weiterhin außergewöhnlich fesselnd?«
Sie war vollständig angekleidet – anders als Marion, die in ihrem alten Morgenrock ganz und gar nicht mehr wie die Jungfrau von Orléans aussah – und, wie es schien, gänzlich unbeeindruckt von den Ereignissen. Er fragte sich, was wohl vorfallen müsste, bevor Mrs Sharpe in Verlegenheit käme.
Bill kam mit Holzscheiten aus der Küche und zündete das erloschene Kaminfeuer an. Mrs Sharpe verteilte das heiße Getränk – es war Kaffee, und Robert lehnte ab, denn er hatte in letzter Zeit genug Kaffee gesehen, um jedes Interesse daran zu verlieren –, und Stanleys Gesicht bekam allmählich wieder Farbe. Als der Polizist aus dem Garten zurückkam, ging es in dem Zimmer trotz der wehenden Vorhänge und der leeren Fensterrahmen zu wie bei einem Familientreffen. Robert bemerkte, dass offenbar weder Stanley noch Bill die Sharpes seltsam oder schwierig fanden – im Gegenteil, sie wirkten entspannt und schienen sich wie zu Hause zu fühlen. Vielleicht lag es daran, dass die Sharpes ihre Anwesenheit als selbstverständlich hinnahmen; sie akzeptierten diese Invasion von Fremden, als sei es ein ganz alltägliches Ereignis. Jedenfalls machte Bill sich im Hause nützlich, als lebe er schon seit Jahren hier; und Stanley hielt seine Tasse hin, um sich nachgießen zu lassen, ohne dass man ihn dazu aufgefordert hatte. Unwillkürlich dachte Robert daran, wie lieb und umständlich Tante Lin an ihrer Stelle gewesen wäre, und die beiden hätten sicherlich auf den Kanten der Stühle gesessen, weil sie an ihre schmutzigen Overalls gedacht hätten.
Vielleicht war es diese selbstverständliche Art, die Nevil so mochte.
»Beabsichtigen Sie denn hierzubleiben, Madam?«, fragte der Sergeant, als die beiden wieder hereinkamen.
»Aber gewiss«, antwortete Mrs Sharpe und goss ihnen Kaffee ein.
»Nein«, sagte Robert. »Das dürfen Sie nicht, wirklich nicht. Ich werde Ihnen ein ruhiges Hotelzimmer in Larborough besorgen, wo Sie –«
»Ich habe noch nie etwas Absurderes gehört. Natürlich bleiben wir hier. Was machen die paar zerbrochenen Fensterscheiben schon aus?«
»Es bleibt vielleicht nicht bei zerbrochenen Fensterscheiben«, sagte der Sergeant. »Wir tragen die Verantwortung für Sie, solange Sie hier sind, und es ist eine Verantwortung, die wir paar Mann, die wir sind, eigentlich nicht tragen können. Das müssen Sie verstehen.«
»Ich bedaure es aufrichtig, dass wir Ihnen so zur Last fallen, Sergeant. Wir hätten unsere Fenster nicht mit Backsteinen einwerfen lassen, wenn wir es hätten vermeiden können, das versichere ich Ihnen. Aber hier ist unser Zuhause, und hier bleiben wir. Und mal ganz abgesehen von der ethischen Seite – was würde denn von dem Haus noch übrig sein, wohin wir zurückkommen könnten, wenn wir es leer stehen ließen? Ich nehme an, wenn Sie nicht genug Männer haben, um Menschen zu schützen, dann haben Sie erst recht keine Männer, ein leer stehendes Haus zu schützen?«
Der Sergeant wirkte ein wenig verlegen, wie Leute das so oft taten, wenn Mrs Sharpe das Wort an sie richtete. »Tja, so ist das, Madam«, gab er widerstrebend zu.
»Und damit erübrigt sich wohl die Frage, ob wir das Franchise verlassen sollen. Zucker, Sergeant?«
Robert griff dieses Thema wieder auf, nachdem die beiden Polizisten sich verabschiedet hatten und Bill sich einen Handfeger und eine Kehrschaufel aus der Küche geholt hatte und – in einem Zimmer nach dem anderen – die Scherben aufkehrte. Wiederum drängte er darauf, dass es klüger sei, in ein Hotel in Larborough zu ziehen, doch im Grunde stand er weder mit seinem Herzen noch mit seinem Verstand hinter diesem Vorschlag. Er selbst wäre nicht gegangen, wenn er an der Stelle der Sharpes gewesen wäre, und da konnte er nicht erwarten, dass sie es taten. Und außerdem musste er zugeben, dass Mrs Sharpes Ansichten darüber, was mit dem Haus geschehe, wenn man es leer stehen ließe, schon etwas für sich hatten.
»Was Sie brauchen, ist ein Untermieter«, sagte Stanley, dem es als ambulantem Patienten nicht gestattet war, die Scherben aufzukehren. »Ein Untermieter mit einer Pistole. Wie finden Sie das, wenn ich nachts hier schlafen würde. Ohne Verpflegung; nur als ein Nachtwächter, der hier schläft. Die schlafen doch sowieso immer, die Nachtwächter.«
Es war an ihren Gesichtern abzulesen, dass beide Sharpes zu schätzen wussten, dass er sich in dem, was die Ausmaße eines Kleinkriegs angenommen hatte, unmissverständlich auf ihre Seite schlug; doch sie ersparten ihm die peinlichen Dankesworte.
»Haben Sie denn keine Frau?«, fragte Marion.
»Jedenfalls keine eigene«, war Stanleys trockene Antwort.
»Ihre Frau – wenn Sie eine hätten – würde es vielleicht gutheißen, dass Sie hier übernachten«, warf Mrs Sharpe ein, »aber ich bezweifle, dass es Ihrem Geschäft bekommen wird, Mr … ähm … Mr Peters.«
»Meinem Geschäft?«
»Ich könnte mir vorstellen, dass sich Ihre Kunden, wenn sie herausbekämen, dass Sie Nachtwächter im Franchise geworden sind, eine andere Garage suchen würden.«
»Die nicht«, sagte Stanley zuversichtlich. »Das können die gar nicht. Lynch ist fünf Tage in der Woche betrunken, und Biggins weiß nicht mal, wie man eine Fahrradkette spannt. Außerdem lasse ich mir nicht von den Kunden vorschreiben, was ich in meiner Freizeit tue.«
Und als Bill zurückkehrte, war er ganz Stanleys Meinung. Bill war ein sehr verheirateter Mann, und es kam gar nicht in Betracht, dass er anderswo als zu Hause schlafen würde. Aber dass Stanley im Franchise übernachten solle, das schien beiden die naheliegende Lösung des Problems.
Robert war ungeheuer erleichtert.
»Nun«, sagte Marion, »wenn Sie unser Nachtgast sein wollen, dann können Sie ja auch jetzt gleich hierbleiben. Ich bin sicher, Ihr Kopf fühlt sich wie ein wunder Kürbis an. Ich werde Ihnen ein Bett zurechtmachen. Hätten Sie gern ein Zimmer nach Süden?«
»Ja, bitte«, sagte Stanley ernst. »Und keinen Küchen- und Radiolärm.«
»Ich werde tun, was ich kann.«
Sie verabredeten noch, dass Bill bei Stanleys Vermieterin einen Zettel unter der Tür durchschieben sollte, auf dem er mitteilte, dass er wie üblich zum Mittagessen komme. »Die macht sich schon keine Sorgen um mich«, sagte Stanley und meinte seine Hauswirtin damit. »Ich bin schon öfter über Nacht weggeblieben.« Er sah den Blick, den Marion ihm zuwarf, und fügte hinzu: »Autos überführen … für die Kunden – da braucht man nachts nur die halbe Zeit.«
Die Vorhänge in den unteren Zimmern befestigten sie mit Reißnägeln, sodass die Räume ein wenig geschützt waren, falls es vor dem Morgen zu regnen begänne, und Robert versprach, ihnen so früh wie irgend möglich einen Glaser zu schicken – und beschloss insgeheim, dass er sich an eine Firma in Larborough wenden und es nicht noch einmal riskieren würde, sich eine Reihe von höflichen Abfuhren in Milford zu holen.
»Außerdem werde ich mich um einen Schlüssel für das Tor kümmern, sodass ich meinen eigenen Zweitschlüssel haben kann«, sagte er, als Marion mit ihnen hinauskam, um das Tor zu verbarrikadieren, »dann müssen Sie nicht mehr neben allem anderen auch noch den Pförtner spielen.«
Sie gab erst Bill, dann ihm die Hand. »Ich werde Ihnen niemals vergessen, was Sie drei für uns getan haben. Wenn ich an diese Nacht zurückdenke, dann nicht an die Rüpel dort« – sie wies mit dem Kopf zu dem fensterlosen Haus hinüber – »sondern an Sie drei.«
»Die Rüpel waren Leute von hier – ich nehme an, dass wissen Sie«, sagte Bill, als sie durch die stille Frühlingsnacht zurückfuhren.
»Ja«, stimmte Robert zu. »Ich weiß. Schon weil sie kein Auto hatten. Und ›Fremdenpack!‹ riecht nach der rückständigen Provinz, so wie ›Faschisten!‹ nach der fortschrittlichen Stadt riecht.«
Bill kommentierte das noch mit einigen Bemerkungen über den Fortschritt.
»Es war dumm von mir, dass ich mich gestern Abend habe überreden lassen. Der Polizist, der Wache hielt, war sich so sicher, dass ›die alle nach Hause gehen, wenn es erst einmal dunkel ist‹, dass ich es ihm geglaubt habe. Dabei hätte ich an die Hexenjäger denken müssen, vor denen man mich gewarnt hatte.«
Doch Bill hörte gar nicht zu. »Das ist schon ’ne komische Sache, wie unsicher man sich in einem Haus ohne Fenster fühlt«, sagte er. »Nehmen Sie ein Haus, bei dem die Rückwand glatt weggesprengt worden ist und in dem keine Tür mehr richtig schließt: Da kann man trotzdem noch gut in einem Zimmer zur Vorderfront hinaus leben, solange die Fenster noch drin sind. Aber ohne Fenster fühlt man sich selbst in einem Haus, das sonst ganz in Ordnung ist, unsicher.«
Das war nicht gerade eine Betrachtung, die für Robert ein großer Trost war.