Weiteren Kummer bereitete es Tante Lin, dass Robert am nächsten Morgen schon um Viertel vor acht frühstücken wollte, sodass er zeitig ins Büro gehen konnte. Es war ein weiteres Zeichen jenes Verfalls der Sitten, den die Franchise-Affäre mit sich gebracht hatte. Zeitig zu frühstücken, sodass man einen Zug erreichen, sich auf den Weg zu einem entlegenen Jagdtreffen machen oder an der Beerdigung eines Klienten teilnehmen konnte, das war eine Sache. Aber zeitig zu frühstücken, nur damit man zur selben Zeit wie der Laufbursche im Büro sein konnte, das war ein völlig abwegiger Gedanke und schickte sich nicht für einen Blair.

Robert lächelte vor sich hin, als er auf der stillen, sonnigen High Street an den geschlossenen Läden entlangging. Er hatte die frühen Morgenstunden immer gemocht; es war die Zeit, in der Milford am schönsten war; seine Rosa- und Sepia- und Cremetöne wirkten im Sonnenlicht so zart wie eine lavierte Zeichnung. Der Frühling wich allmählich dem Sommer, und die Pflastersteine strahlten die Sonnenwärme in die kühle Luft ab; die gestutzten Linden standen in voller Blüte. Das hieß, die Nächte für die einsamen Frauen im Franchise wurden kürzer, dachte er mit einem Gefühl der Freude. Doch vielleicht – mit etwas Glück – wären die beiden ja auch schon voll und ganz

An die noch verschlossene Tür der Kanzlei gelehnt, stand ein großer, hagerer, grauhaariger Mann, der ausschließlich aus Knochen zu bestehen schien.

»Guten Morgen«, sagte Robert. »Wollten Sie mich sprechen?«

»Nein«, sagte der graue Mann. »Sie wollten mich sprechen.«

»Ich?«

»Zumindest stand es so in Ihrem Telegramm. Sie sind doch Mr Blair?«

»Aber das kann doch nicht sein, dass Sie jetzt schon hier sind!«, rief Robert.

»Na, so weit ist es ja nicht«, sagte der Mann lakonisch.

»Kommen Sie herein«, sagte Robert, der versuchte, es Mr Ramsden in der Knappheit seines Ausdrucks gleichzutun.

Im Büro fragte er, während er seinen Schreibtisch aufschloss: »Haben Sie schon gefrühstückt?«

»Ja, ich hatte Eier und Speck im Weißen Hirschen.«

»Ich bin überaus erleichtert, dass Sie persönlich kommen konnten.«

»Ich hatte gerade einen Fall abgeschlossen. Und Kevin Macdermott hat schon viel für mich getan.«

Ja, wie boshaft er sich auch gab und wie hektisch sein Leben auch war, hatte Kevin doch die Zeit und die Energie, denen zu helfen, die seiner Hilfe würdig waren. Darin unterschied er sich himmelweit vom Bischof von Larborough, der die Unwürdigen bevorzugte.

Ramsden nahm die Blätter, ließ sich auf dem Besuchersessel nieder – er faltete sich hinein, wäre vielleicht der bessere Ausdruck – und entzog sich Roberts Gegenwart, genau wie Kevin das am St. Paul’s Churchyard getan hatte. Robert, der sich seine eigene Arbeit vornahm, beneidete sie um dieses Konzentrationsvermögen.

»Nun, Mr Blair?«, sagte er bald darauf, und Robert erzählte ihm den Rest der Geschichte – wie das Mädchen das Haus und seine Bewohnerinnen identifiziert hatte; wie Robert selbst in diese Affäre geraten war; von der Entscheidung der Polizei, auf der Basis des vorliegenden Beweismaterials nichts zu unternehmen; von Leslie Wynns Groll, der zum Artikel in der Ack-Emma führte; von seiner Entdeckung, dass das Mädchen Busausflüge gemacht hatte und dass ein Doppeldecker in den fraglichen Wochen die Route nach Milford befahren hatte, und davon, dass er auf Mr X gestoßen war.

»Mehr über X herauszufinden, das ist Ihr Auftrag, Mr Ramsden. Albert, der Kellner im Salon, weiß, wie er aussieht, und hier haben wir eine Liste der Hotelgäste in dem entsprechenden Zeitraum. Es wäre unverschämtes Glück, wenn er wirklich im Midland gewohnt hätte, aber möglich ist es immerhin. Von da an sind Sie auf sich gestellt. Und sagen Sie Albert, dass Sie in meinem Auftrag kommen. Ich kenne ihn schon seit Langem.«

»Selbstverständlich. Wie werden Sie es anstellen, eine Fotografie von ihr zu bekommen?«

»Oh, ich habe da meine Möglichkeiten.«

Robert nahm an, dass Scotland Yard ein Bild bekommen hatte, als das Mädchen als vermisst gemeldet wurde, und dass seine alten Kollegen im Präsidium keine großen Skrupel haben würden, ihm einen Abzug zu überlassen; also fragte er nicht weiter nach.

»Es besteht ja auch noch eine gewisse Chance, dass der Schaffner eines dieser Doppeldeckerbusse sich an sie erinnert«, sagte er, während Ramsden sich schon zum Gehen anschickte. »Busdienst für Larborough und Umgebung. Die Garage ist in der Victoria Street.«

Um halb zehn trafen seine Mitarbeiter ein – einer der ersten darunter war Nevil; es war ein Wandel seiner Gewohnheiten, der Robert überraschte. Gewöhnlich war Nevil immer der Letzte und begann als Letzter mit der Arbeit. Er pflegte hereinspaziert zu kommen und sich in seinem eigenen kleinen Raum hinten seines Mantels zu entledigen; dann wandelte er zum Büro, um guten Morgen zu sagen, und danach ins hinten gelegene Wartezimmer, um Miss Tuff zu begrüßen, und spazierte schließlich in Roberts Zimmer zurück, um die Banderole einer jener esoterischen Publikationen aufzuschlitzen, die er per Post bekam, und seine Kommentare über die unweigerlich entsetzlichen Zustände zu liefern, die in

Miss Tuff kam mit ihrem Notizbuch und ihrem strahlend weißen Bubikragen herein, und damit hatte Roberts normaler Arbeitstag begonnen. Miss Tuff trug schon seit 20 Jahren Bubikragen über ihrem dunklen Kleid und hätte ohne sie schlecht gekleidet, ja halb nackt gewirkt. Jeden Morgen legte sie einen frischen an – derjenige vom Vortag war noch am selben Abend gewaschen worden und lag bereit, am Tag darauf wieder getragen zu werden. Die einzige Unterbrechung dieser Routine war der Sonntag. Einmal hatte Robert Miss Tuff an einem Sonntag getroffen und sie überhaupt nicht erkannt, denn sie trug ein Jabot an ihrem Kleid.

Robert arbeitete bis halb elf, doch dann machte es sich bemerkbar, dass er zu einer ungewöhnlich frühen Stunde gefrühstückt hatte, und ihm war nach etwas Nahrhafterem als einer Tasse Tee im Büro zumute. Er würde auf einen Kaffee und ein Sandwich ins Rose and Crown gehen. Den besten Kaffee Milfords gab es im Anne Boleyn, doch es war stets voller einkaufender Frauen – »Wie schön, dich zu sehen, mein Liebe! Wir haben dich so vermisst auf Ronnies Party! Und hast du schon gehört …« –, und diese Atmosphäre hätte er nicht für allen Kaffee Brasiliens ertragen wollen. Er würde hinüber zum Rose and

Es war noch sehr früh für ein zweites Frühstück, und der Salon des Rose and Crown mit seinem Chintz und seinem alten Eichenholz war menschenleer bis auf Ben Carley, der am Fenstertisch saß und die Ack-Emma las. Robert hatte nie viel für Carley übriggehabt – und dieser, wie er vermutete, genauso wenig für ihn –, doch der gemeinsame Beruf verband sie – eins der stärksten Bande, das die menschliche Natur kennt. In einem kleinen Ort wie Milford machte sie das beinahe zu Busenfreunden. So kam es, dass Robert sich ganz selbstverständlich an Carleys Tisch setzte; er hatte dabei auch nicht vergessen, dass er Carley noch Dank schuldete für seine leider missachtete Warnung vor der Gewalttätigkeit des Landvolks.

Carley ließ die Ack-Emma sinken und betrachtete ihn mit jenen allzu lebhaften dunklen Augen, die so fehl am

»Bei der Ack-Emma schon. Der Watchman beginnt seine eigene Kampagne am Freitag.«

»Der Watchman! Seit wann stößt der denn ins gleiche Horn wie die Ack-Emma

»Das wäre ja nicht das erste Mal«, sagte Robert.

»Nein, wahrscheinlich nicht«, stimmte Carley ihm nachdenklich zu. »Zwei Seiten derselben Münze, wenn man es recht betrachtet. Na, sei’s drum. Deswegen brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Die Gesamtauflage des Watchman liegt bei 20000. Höchstens.«

»Das mag sein. Aber praktisch jeder dieser 20000 hat einen Vetter zweiten Grades im öffentlichen Dienst dieses Landes.«

»Na und? Hat man je davon gehört, dass der öffentliche Dienst für eine Sache auch nur einen Finger krumm gemacht hätte, die nicht in seinem Zuständigkeitsbereich liegt?«

»Nein, aber sie geben den Schwarzen Peter weiter, und früher oder später kommt er dann an – ähm – auf –«

»Auf fruchtbaren Boden«, sagte Carley, mit Absicht die Bilder vermischend.

»Genau. Früher oder später meint irgendein Wichtigtuer, ein gefühlsdusliger Kerl oder ein Egoist, der nicht genug zu tun hat, da müsse aber etwas geschehen, und lässt seine Beziehungen spielen. Und im öffentlichen Dienst ist das wie bei diesen Schaukästen mit

Carley schwieg eine Weile. »Es ist schon ein Jammer. Gerade als die Ack-Emma an Fahrt verlor. Noch zwei Tage, und sie hätten es endgültig fallen lassen. Sie sind ohnehin schon zwei Tage überfällig. Ich habe noch nie erlebt, dass sie ein Thema länger durchgezogen haben als über drei Nummern. Die Resonanz muss gewaltig gewesen sein, dass sie der Sache so viel Raum geschenkt haben.«

»Wie wahr«, pflichtete Robert ihm düster bei.

»Natürlich war das ein gefundenes Fressen für sie. Entführte Mädchen, die ausgepeitscht werden, hat man nicht alle Tage. Es war eine unbezahlbare Abwechslung für die Speisekarte. Wenn man, wie die Ack-Emma, nur drei oder vier Gerichte anbietet, ist es gar nicht so leicht, dem Kunden einen ordentlichen Gaumenkitzel zu bereiten. Ein Leckerbissen wie die Franchise-Affäre muss ihre Auflage um Tausende in die Höhe getrieben haben – allein in der Gegend um Larborough.«

»Die Auflage wird auch wieder zurückgehen; das ist nur eine Flutwelle. Aber ich muss mich dann um das kümmern, was am Strand zurückbleibt.«

»Und es ist ein sehr übel riechender Strand, wenn ich das sagen darf«, bemerkte Carley. »Kennen Sie diese dicke, lila geschminkte Blondine mit dem strammen BH, die das Sportgeschäft neben dem Anne Boleyn betreibt? Die finden Sie in Ihrem Strandgut.«

»Es scheint, dass sie in London in derselben Pension wohnte wie die Sharpes. Und sie erzählt die hübsche Geschichte, wie Marion Sharpe einmal in einem Wutanfall einen Hund halb tot geschlagen habe. Ihre Kunden waren ganz begeistert von dieser Geschichte. Ebenso die Gäste im Anne Boleyn. Dort trinkt sie ihren Morgenkaffee.« Er warf Robert, dem die Zornesröte ins Gesicht gestiegen war, einen ironischen Blick zu. »Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, dass sie selbst Besitzerin eines Hundes ist, der niemals in seinem verwöhnten Leben erzogen wurde und der in Kürze an Verfettung eingehen wird, weil er wahllos Häppchen zugeworfen bekommt, wann immer der dicken Blonden warm ums Herz wird.«

Es gab Augenblicke, dachte Robert, in denen er Ben Carley beinahe um den Hals fallen konnte, Nadelstreifenanzug hin oder her.

»Na, wie dem auch sei, das geht vorüber«, sagte Carley mit der Anpassungsfähigkeit einer Rasse, die seit Langem gewöhnt ist, keinen Widerstand zu leisten und zu warten, bis der Sturm vorüber ist.

Robert blickte überrascht. Die Überraschung einer Ahnenreihe von 40 Generationen aufrechten Widerstands sprach aus diesem Blick. »Ich verstehe nicht, was wir davon haben sollen, wenn es vorübergeht«, sagte er. »Das hilft meinen Mandanten nicht im Geringsten.«

»Aber was können Sie denn machen?«

»Kämpfen natürlich.«

»Wogegen wollen Sie denn kämpfen? Wenn Sie eine Verleumdungsklage meinen, damit kommen Sie nicht durch.«

Carley blickte amüsiert drein. »Nur so«, war sein Kommentar zu diesem ehrgeizigen Vorhaben.

»Es wird nicht einfach sein, und wahrscheinlich kostet es sie ihr ganzes Vermögen, aber es gibt keine Alternative dazu.«

»Sie könnten fortgehen von hier. Das Haus verkaufen und sich irgendwo anders niederlassen. In einem Jahr wird sich niemand außerhalb der Gegend von Milford mehr an diese Affäre erinnern.«

»Das würden sie niemals tun, und ich würde es ihnen niemals raten, selbst wenn sie dazu bereit wären. Es geht nicht, dass man eine Blechdose an den Schwanz gebunden bekommt und sein Leben weiterführt, als sei sie nicht da. Außerdem ist es völlig undenkbar, dass dieses Mädchen mit seiner Geschichte davonkommt. Das ist eine Frage des Prinzips.«

»Sehen Sie sich vor, dass Sie keinen zu hohen Preis für Ihre verdammten Prinzipien zahlen. Trotzdem, ich wünsche Ihnen jedenfalls Glück. Spielen Sie mit dem Gedanken, einen Privatdetektiv anzuheuern? Wenn ja, kann ich Ihnen einen sehr guten –«

Robert sagte, er habe schon einen, und dieser sei bereits an der Arbeit.

Aus Carleys beredten Zügen sprach amüsierte Anerkennung für diese rasche Aktion der sonst so konservativen Blair, Hayward und Bennet.

»Da muss der Yard sich ja in Acht nehmen, dass Sie

Es war ein Ausdruck der Bewunderung, nicht der Empörung, und Robert drehte sich um, um zu sehen, was seine Bewunderung weckte.

Auf der anderen Straßenseite stand der klapprige alte Wagen der Sharpes, das falsch lackierte Vorderrad war deutlich zu erkennen. Und an ihrem üblichen Platz auf dem Rücksitz und mit ihrem üblichen Ausdruck leichten Protests gegen diese Form der Fortbewegung thronte Mrs Sharpe. Der Wagen war vor dem Lebensmittelladen abgestellt, und vermutlich war Marion hineingegangen, um einzukaufen.

Er konnte nur ein paar Augenblicke lang dort gestanden haben, sonst wäre er Ben Carley früher aufgefallen, aber zwei Botenjungen waren bereits stehen geblieben und gafften. Auf ihre Fahrräder gelehnt, genossen sie dieses kostenlose Schauspiel. Und noch während Robert die Szene betrachtete, kamen Leute an die Türen der umliegenden Läden gelaufen, denn die Neuigkeit verbreitete sich in Windeseile.

»Was für eine unglaubliche Dummheit!«, rief Robert ärgerlich.

»Von wegen Dummheit«, sagte Carley, der den Blick gar nicht abwenden konnte. »Ich wünschte, das wären meine eigenen Klienten.«

Er suchte in seiner Tasche nach Münzen für den

»Oh, guten Morgen, Mr Blair«, entgegnete sie im schönsten Plauderton. »Haben Sie schon Ihren Morgenkaffee getrunken, oder möchten Sie uns ins Anne Boleyn begleiten?«

»Miss Sharpe!«, sagte er und wandte sich an Marion, die gerade ihre Einkäufe auf dem Sitz ablegte. »Sie müssen doch wissen, dass das eine sehr unvernünftige Sache ist.«

»Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, ob es unvernünftig ist oder nicht«, antwortete sie, »doch ich glaube, es ist etwas, was wir tun müssen. Vielleicht sind wir kindisch geworden, weil wir zu lange allein gelebt haben, aber wir konnten beide diese Brüskierung im Anne Boleyn nicht vergessen – jene Verurteilung ohne Verfahren. Wir leiden unter einer seelischen Magenverstimmung, Mr Blair. Und wenn man einen Kater hat, dann soll man ihn ersäufen. In unserem Falle in einer Tasse von Miss Trueloves ausgezeichnetem Kaffee.«

»Aber es ist so unnötig! So –«

»Wir denken uns, dass es vormittags um halb elf eine stattliche Zahl freier Tische im Anne Boleyn geben muss«, sagte Mrs Sharpe schroff.

»Keine Sorge, Mr Blair«, sagte Marion. »Wir wollen nur ein Zeichen setzen. Wenn wir erst einmal unsere

»Aber Sie tun nichts weiter, als Milford ein kostenloses –«

Doch Mrs Sharpe unterbrach ihn, bevor er das Wort aussprechen konnte. »Milford muss sich an das Schauspiel gewöhnen, das wir ihnen bieten«, sagte sie trocken, »denn wir sind zu dem Schluss gekommen, dass wir nicht gedenken, nur noch in unseren vier Wänden zu leben.«

»Aber –«

»Sie werden sich schnell daran gewöhnen, Monstren zu sehen, und dann werden sie nichts mehr dabei finden. Wenn man nur einmal im Jahr eine Giraffe sieht, bleibt sie eine Sensation; wenn man sie täglich sieht, wird sie zum Teil der Landschaft. Wir gedenken, Teil der Landschaft von Milford zu werden.«

»Gut, dann planen Sie also, Teil der Landschaft zu werden. Aber tun Sie mir jetzt einen Gefallen.« Schon wurden die Vorhänge der Fenster im ersten Stock beiseitegeschoben, und Gesichter erschienen. »Geben Sie Ihren Plan mit dem Anne Boleyn auf – geben Sie ihn wenigstens für heute auf –, und kommen Sie mit mir auf einen Kaffee ins Rose and Crown.«

»Mr Blair, es wäre uns ein Vergnügen, mit Ihnen im Rose and Crown Kaffee zu trinken, aber es würde ganz und gar nicht gegen meine seelische Magenverstimmung helfen, die mich, wie der Volksmund zu sagen pflegt, ›noch um die Ecke bringt‹.«

»Miss Sharpe, ich flehe Sie an. Sie wissen, Sie haben es

»Das ist Erpressung«, bemerkte Mrs Sharpe.

»Darauf lässt sich nichts mehr erwidern«, meinte Marion mit einem leichten Lächeln. »Es scheint, dass wir unseren Kaffee im Rose and Crown trinken.« Sie seufzte. »Und das, wo ich gerade in der Stimmung war, ein Zeichen zu setzen!«

»Na, die haben Nerven!«, war von oben zu vernehmen. Genau der Satz, den auch Carley gebraucht hatte, doch nichts von Carleys Bewunderung schwang darin mit; er war voller Entrüstung gesprochen worden.

»Sie können Ihren Wagen hier nicht stehen lassen. Ganz abgesehen von den Verkehrsregeln ist er ja sozusagen Beweisstück Nummer eins.«

»Oh, das hatten wir auch nicht vor«, sagte Marion. »Wir bringen ihn zur Garage, damit Stanley einige technische Dinge in seinem Inneren in Ordnung bringen kann, mit den Geräten, die er dort hat. Stanley äußert sich sehr verächtlich über unseren Wagen.«

»Das glaube ich gern. Gut, ich komme mit. Und nun geben Sie lieber Gas, bevor wir auch noch beschuldigt werden, einen Volksauflauf zu verursachen.«

»Armer Mr Blair«, sagte Marion und drückte den Startknopf. »Es muss fürchterlich sein, nicht mehr zu dieser Landschaft dazuzugehören, nachdem Sie so viele Jahre lang so völlig in ihr aufgingen.«

Sie sagte das ohne Bosheit – im Gegenteil, es schwang

Bill kam, um sie zu begrüßen, und wischte sich die Hände an einem ölverschmierten Lappen ab. »Morgen, Mrs Sharpe. Schön, dass Sie da sind. Morgen, Miss Sharpe. Das war saubere Arbeit, die Sie da an Stanleys Stirn geleistet haben. Die Wunde ist so gut zugeheilt, als ob sie genäht wäre. Sie hätten Krankenschwester werden sollen.«

»Nein danke. Ich habe keine Geduld mit den Marotten anderer Leute. Aber Chirurg hätte ich werden können. Auf dem Operationstisch kann man ja nicht allzu launisch sein.«

Stanley erschien aus dem Hintergrund, kümmerte sich nicht im Geringsten um die beiden Frauen, die ja nun als Hausgenossen galten, und übernahm den Wagen.

»Wann wollen Sie dieses Wrack zurückhaben?«

»Reicht eine Stunde?«

»Da würde ein Jahr nicht reichen; aber ich werde tun, was man in einer Stunde tun kann.« Sein Blick wanderte zu Robert weiter. »Haben Sie ’nen Tipp?«

»Ich habe gehört, Bali Boogie soll gut in Form sein.«

»Unsinn«, wandte die alte Mrs Sharpe ein. »Kein Abkömmling von Hippocras hat je bei einem Kopf-an-Kopf-Rennen durchgehalten. Allesamt Versager.«

Verblüfft starrten die drei Männer sie an.

»Nein, aber für Pferde. Mein Bruder hat Vollblüter gezüchtet.« Als sie sah, was für Gesichter die drei machten, gab sie ein trockenes Lachen von sich, das an das Gackern eines Huhnes erinnerte. »Haben Sie gedacht, ich nehme zu meinem Nachmittagsschläfchen die Bibel mit, Mr Blair? Oder vielleicht ein Buch über schwarze Magie? Nein, ganz und gar nicht. Ich nehme aus der Tageszeitung die Seite mit den Rennergebnissen. Und Stanley wäre gut beraten, nicht sein Geld zu verschwenden, indem er es auf Bali Boogie setzt. Wenn je ein Gaul einen so obszönen Namen verdiente, dann dieser.«

»Und wer stattdessen?«, fragte Stanley, sparsam mit seinen Worten wie immer.

»Es heißt ja, Pferdeverstand sei der Verstand, der die Pferde davon abhält, auf Menschen zu wetten. Aber wenn Sie wirklich so dumm sein und wetten wollen, dann sollten Sie Ihr Geld lieber auf Kominsky setzen.«

»Kominsky!«, rief Stanley. »Aber der steht eins zu 60

»Wenn Sie wollen, können Sie Ihr Geld natürlich auch zu einer günstigeren Quote verlieren«, kommentierte sie trocken. »Gehen wir, Mr. Blair?«

»Na gut«, sagte Stanley. »Also Kominsky, und Sie kriegen ein Zehntel von meinem Gewinn.«

Sie spazierten zurück zum Rose and Crown, und als sie aus der vergleichsweise intimen Sin Lane zurück auf die Hauptstraße kamen, überkam Robert jenes Gefühl der Schutzlosigkeit, das er früher immer gehabt hatte, wenn er bei einem schweren Luftangriff draußen war. Alle

Ein einsamer Kellner steckte gerade den Shilling ein, den Ben Carley auf dem Tisch zurückgelassen hatte, ansonsten war der Salon menschenleer. Sie setzten sich an einen runden schwarzen Eichentisch, auf dem eine Blumenschale mit Mauerblümchen stand, und Marion sagte: »Sie wissen, dass unsere Fenster wieder in Ordnung sind?«

»Ja. Wachtmeister Newsam kam gestern auf dem Nachhauseweg kurz vorbei, um es mir zu berichten. Das war gute Arbeit.«

»Haben Sie sie bestochen?«, wollte Mrs Sharpe wissen.

»Nein. Ich habe nur erwähnt, dass Randalierer die Fenster zerschlagen hätten. Wären Ihre Scheiben durch einen Sturm eingedrückt worden, so wären Sie wahrscheinlich noch immer den Elementen ausgeliefert. Sturmschäden gelten als höhere Gewalt und folglich als etwas, womit man sich abfinden muss. Aber Randalierer gehören zu den ›Sachen, die man nicht durchgehen lassen darf‹.

Es war ihm nicht bewusst geworden, dass sein Tonfall sich verändert hatte, doch Marion blickte ihn fragend an und sagte: »Hat sich etwas Neues ergeben?«

»Ich fürchte, ja. Ich wollte heute Nachmittag zu Ihnen kommen, um Ihnen davon zu berichten. Wie es scheint, will gerade jetzt, wo die Ack-Emma das Thema fallen lässt – in der heutigen Ausgabe ist nur ein einziger Brief, und der noch gemäßigt im Ton –, gerade jetzt, wo die Ack-Emma der Sache Betty Kane müde geworden ist, der Watchman sich der Angelegenheit annehmen.«

»Na prima!«, sagte Marion. »Der Watchman, der der ermatteten Ack-Emma die Fackel aus der Hand reißt, das ist doch ein Bild für die Götter.«

›Seit wann stößt der denn ins gleiche Horn wie die Ack-Emma‹, hatte Ben Carley es formuliert, doch ihre Einstellung war dieselbe.

»Haben Sie Spitzel in der Redaktion des Watchman, Mr Blair?«, fragte Mrs Sharpe.

»Nein. Nevil hat von der Sache Wind bekommen. Es soll ein Brief seines zukünftigen Schwiegervaters abgedruckt werden, des Bischofs von Larborough.«

»Ha!«, sagte Mrs Sharpe. »Toby Byrne.«

»Sie kennen ihn?«, fragte Robert und dachte, dass der Tonfall ihrer Worte durchaus scharf genug war, um die Politur vom Holz zu ätzen.

»Er ist mit meinem Neffen zur Schule gegangen – dem Sohn jenes Bruders, der das Gestüt hatte. So, so, Toby Byrne. Der ändert sich nie.«

»Ich habe ihn nie gesehen. Einmal brachte mein Neffe ihn für die Schulferien mit nach Hause, aber er wurde kein zweites Mal eingeladen.«

»Oh?«

»Er erfuhr erst bei dieser Gelegenheit, dass Stallburschen schon in aller Herrgottsfrühe aufstehen müssen, und war entsetzt darüber. Das sei ja Sklaverei, sagte er; und er nahm sich die Jungen vor und versuchte sie dazu zu bringen, für ihre Rechte auf die Barrikaden zu gehen. Wenn sie sich zusammentäten, sagte er, dann würde kein Pferd den Stall vor neun Uhr morgens verlassen. Die Jungs haben sich noch Jahre später über ihn lustig gemacht; aber er ist nie wieder eingeladen worden.«

»Tja, er ist unverbesserlich«, stimmte Robert zu. »Nach dieser Methode ist er seither unzählige Male vorgegangen, zu jedem Thema – von Kaffern bis zu Kinderhorten. Je weniger er über eine Sache weiß, desto deutlicher vertritt er seine Meinung darüber. Was diesen Brief angeht, so war Nevil der Ansicht, es sei nichts mehr dagegen zu machen, da der Bischof ihn bereits abgefasst habe und es für ihn undenkbar sei, etwas in den Papierkorb zu werfen. Aber ich habe es nicht fertiggebracht, einfach nur dazusitzen und nichts zu tun; also rief ich ihn nach dem Abendessen an und gab ihm so taktvoll, wie ich nur konnte, zu verstehen, dass er in einem höchst umstrittenen Fall Partei ergreife und gleichzeitig zwei möglicherweise unschuldigen Menschen großen Schaden zufüge. Doch ich hätte mir meinen Atem sparen können. Er erklärte mir, der Watchman

»Wie ist Toby Byrne denn zu Amt und Würden gekommen?«, wunderte sich Mrs Sharpe.

»Ich nehme an, Cowans Preiselbeersoße hat eine nicht unerhebliche Rolle bei seiner Beförderung gespielt.«

»Ah ja. Seine Frau. Ich vergaß. Zucker, Mr Blair?«

»Übrigens, hier sind zwei Nachschlüssel zum Tor des Franchise. Ich nehme an, einen darf ich behalten. Den anderen sollten Sie, meine ich, der Polizei geben, damit sie nach Belieben ihre Kontrollgänge machen kann. Ich muss Ihnen auch mitteilen, dass Sie inzwischen einen Privatdetektiv in Ihren Diensten haben.« Und er erzählte ihnen von Alec Ramsden, der um halb neun Uhr morgens vor der Haustür gestanden hatte.

»Nichts davon zu hören, dass jemand das Foto auf dem Titelblatt der Ack-Emma erkannt und sich bei Scotland Yard gemeldet hat?«, fragte Marion. »Darauf hatte ich große Hoffnungen gesetzt.«

»Bisher nicht. Aber es gibt noch Hoffnung.«

»Sie vergessen das Altpapier. Das ist die Art, wie so etwas fast immer geschieht. Jemand wickelt seine Tüte Pommes aus und sagt: ›Mensch, wo habe ich denn das Gesicht schon mal gesehen?‹ Oder jemand nimmt ein Bündel Zeitungen, um in einem Hotel Schubladen damit auszulegen. Irgendetwas in dieser Art. Verlieren Sie nicht die Hoffnung, Miss Sharpe. Mit Gottes und Alec Ramsdens Hilfe werden wir am Ende doch noch triumphieren.«

Sie blickte ihn ernst an. »Sie glauben das wirklich, nicht wahr?«, sagte sie, wie jemand, der etwas Exotisches betrachtet.

»Das tue ich.«

»Sie glauben an den Sieg des Guten?«

»Ja.«

»Warum?«

»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich, weil das Gegenteil unvorstellbar ist. Etwas Positiveres oder Löblicheres steckt nicht dahinter.«

»Ich hätte mehr Vertrauen zu einem Gott, der nicht gerade Toby Byrne zum Bischof auserkoren hätte«, sagte Mrs Sharpe. »Übrigens, wann erscheint Tobys Brief?«

»Am Freitagmorgen.«

»Ich kann es kaum erwarten«, sagte Mrs Sharpe.