Kapitel 19

 

 

ES WAR dunkel, als Jesse und Dane mich aufweckten, indem sie alle Lichter in meinem Schlafzimmer einschalteten. Nur eines meiner Augen ließ sich öffnen, und zu Anfang sah ich vier von ihnen. Aber ich wusste, es war dunkel draußen.

„Habe ich eine ganze Nacht und einen ganzen Tag lang geschlafen?“

„Nein, Arschloch. Wir haben ein paar Stunden gebraucht, um dich zu finden“, sagte mein Bruder viel zu laut. Ich legte mir einen Arm über den Kopf, um das Licht und den Krach auszuschließen, aber dagegen half es nicht und auch nicht gegen das Wummern in meinem Schädel.

„Du hast mich gefunden. Und jetzt verschwinde aus meinem Haus.“

„Wenn du nicht schon windelweich geprügelt worden wärst, dann würde ich das jetzt selbst mit dir machen.“

Wann, so fragte ich mich, würde mein Bruder endlich aufhören, zu schreien?

„Ja, sobald ich aufstehen kann, werde ich mich auf die Suche nach dir machen.“

„Haltet verdammt noch mal beide die Klappe.“ Dane war auch wütend, aber wenigstens schrie er nicht.

„Brauchst du einen Arzt?“, fragte er.

„Nein. Und nun, echt, verschwindet aus meinem Haus, bitte. Und wie seid ihr überhaupt reingekommen?“

„Oh nein, du Mistkerl“, stieß Jesse, noch immer viel zu laut, hervor. Ich lasse mir nicht von der halben Menschenmenge im Cunninghams ein Ohr abkauen, darüber, dass du eine verdammte Schwuchtel bist, und muss über das verfluchte Telefon mit anhören, wie mein Bruder zusammengeschlagen wird, ohne eine Erklärung zu bekommen.“

Ich versuchte, mich aufzurichten und bereute das augenblicklich. Aber ich blieb oben und stützte mich auf meine Ellbogen. „Du hast es über das Telefon gehört?“

„Du hast mich angerufen“, schnappte er. „Ich habe andauernd deinen Namen gerufen.“

„Das erklärt Einiges. Ich brauche Kaffee.“

„Warst du betrunken?“, schrie Jesse.

„Scheiße nein. Ich habe nicht mal ein Bier bekommen, ehe ich rausgeschmissen wurde.“

Ich schwang meine Beine vom Bett, aber ich strauchelte als ich aufstand und Dane streckte seinen Arm aus und stützte mich. Seine Hand fühlte sich warm und tröstlich an.

„Danke.“ Ich konnte es nicht über mich bringen, ihn anzusehen.

Sie folgten mir in die Küche, wo ich das Licht einschaltete, zur Arbeitsplatte taumelte und einen der Hängeschränke öffnete. Ich dachte, ich würde mich ganz gut machen, bis ich die Kaffeedose fallen ließ.

„Ich mache ihn“, sagte Dane. „Du setzt dich.“

Er lotste mich zum Tisch, zog einen Stuhl hervor und setzte mich hin. Dann fing er an, Kaffee aufzusetzen.

„Ich kann das machen. Ich habe Schmerzen und wurde vor dem halben Tal geoutet, aber ich bin nicht betrunken.“

„Also ist es wahr. Du bist eine gottverdammte Schwuchtel.“

Ich sah meinem Bruder ins Gesicht und starrte ihn so lange an, bis ich klar sehen konnte. Eine Sekunde lang war er wieder dreizehn Jahre alt und hielt mich, als ich auf der Beerdigung unserer Eltern weinte. Dann war er in seiner Ranger-Uniform und hielt mich am Flughafen im Arm an dem Tag, als er für immer nach Hause kam. Er war derjenige, der Tränen in den Augen hatte, als er laut ausrief, wie sehr ich gewachsen sei. Aber dann blinzelte ich und jetzt funkelte er mich an, als würde ihm von meinem Anblick übel werden.

Ich sah Dane nicht an. Würde es mir nicht gestatten. Ich nahm allen Mut zusammen, der mir geblieben war, sah Jesse direkt in die Augen und antwortete: „Das Wort ist homosexuell. Du willst mich deswegen schlagen, dann musst du noch ein paar Tage warten.“

Jesse schlug mit der Faust auf den Tisch. Ein lautes Knacken war zu hören, aber der Tisch hielt stand.

„Die ganze Zeit über“, stieß er hervor, „die ganze verdammte Zeit über dachte ich, du würdest Sarah heiraten und ich liebte sie und tat gar nichts.“

Ich studierte meine Hände, die ineinander verschlungen in meinem Schoß ruhten, während seine Lautstärke zunahm.

„Du verlogener, gottverfluchter Scheißkerl von einer Schwuchtel.“

Jedes furchtbare Wort schien wie von selbst in der Luft zu schweben, bis er das nächste ausspuckte. Dann schwirrten sie alle gemeinsam durch den Raum.

Er zerrte fest an meinem Arm und ich schaute ihn an. Ich sagte gar nichts. Wechselnde Gefühle spiegelten sich auf seinem Gesicht wieder, bis sich etwas wie Verachtung in seinem Blick festsetzte. Er stieß mich weg und ließ mich los.

„Du Scheißkerl. Du bist nicht länger mein Bruder.“ Erstapfte nach draußen und schlug die Tür hinter sich zu.

Dane stellte eine Tasse Kaffee auf den Tisch und schob mein Handy daneben. Dann folgte er Jesse und schloss leise die Tür hinter sich.

Ich starrte auf den neuen Riss in meinem Tisch und mein Blut auf dem Handy und trank den Kaffee aus.

 

 

ALS ICH wieder wach wurde, war es schon Nachmittag. Da niemand gekommen war, um mich zu suchen, nahm ich an, dass Jesse sichergestellt hatte, dass all meine häuslichen Pflichten erledigt worden waren.

Um drei Uhr klingelte mein Handy. Es war Sarah. Ich ließ den Anruf auf die Sprachbox gehen. Um vier und um sechs rief sie wieder an. Ich ging immer noch nicht ran.

Niemand erschien auf meiner Türschwelle. Ich schaltete den Fernseher ein, aber nichts war laut genug, um die Übelkeit erregende Leere in mir zu füllen.

 

 

ES WAR mitten in der Nacht, als meine Rippen mich weckten. In einem Ohrensessel einzuschlafen ist nicht besonders klug, wenn deine Rippen immer noch versuchen, ihren angestammten Platz wiederzufinden.

Ich fing an, das Ganze zu überdenken, spulte im Geiste die ganze Bar-Szene wieder und wieder ab, hundert Mal. Jetzt fielen mir cleverere Retourkutschen ein und ich landete ein paar mehr Treffer. Wieso war mir das nicht gelungen, als es darauf ankam? Nächstes Mal würde ich sie alle besiegen. Andererseits, wenn ich für den Rest meines Lebens in meinem Haus blieb, was eine sehr verlockende Vorstellung war, dann musste ich mir um ein nächstes Mal keine Sorgen machen.

Was ich nicht verstehen konnte, war, wieso Dane sich nicht rübergeschlichen hatte, um nach mir zu sehen.

Sein Geheimnis war immer noch gewahrt, da war ich mir sicher. Weder Hanson noch seine Mannschaft kannten Dane gut genug, um ihn an jenem Abend auf der Wiese erkannt zu haben. Und Jesse hatte es nicht herausgefunden, sonst wäre Dane bereits hier, weil Jesse ihn ebenfalls rausgeschmissen hätte.

Oder machte es Jesse nichts aus, dass Dane schwul war, aber dass ich es war, war ekelerregend? Jesse hatte immer zu Dane aufgeschaut und sie standen sich so nahe wie Brüder, manchmal sogar näher. Trotzdem, wie konnte Jesse mich so einfach über Bord werfen und mit Dane nicht dasselbe machen?

Und wie konnte Dane das zulassen? Wieso trat er nicht für mich ein?

Die Gedanken kreisten umeinander, brachten mich dazu, mich wie Dreck zu fühlen und hielten mich wach, obwohl ich versuchte, sie abzuschießen, wie die gelben Ziel-Enten bei Jesses und Danes Spiel mit dem Gewehr auf dem Jahrmarkt in Billings.

Mist, aber das ließ mich an die ersten Male zurückdenken, als Dane mich berührt hatte, und wie er mich danach berührt hatte, bis sich alles in meinem Kopf drehte und mein Schwanz anfing, von ganz allein eine Unterhaltung zu beginnen und keiner von beiden aufhören wollte. Ich fing ungefähr in dem Moment an zu weinen, als mir der Gedanke kam, dass jetzt ganz sicher alles vorbei war.

Ich stand auf, machte Kaffee und wanderte durch meine Hütte, während ich ihn trank und versuchte, mich selbst zum Schweigen zu bringen. Ich glaube, ich war fünf Meilen gelaufen, als die Sonne aufging und ich hatte immer noch keine besseren Gedanken. Mir ging es nur noch beschissener.

 

 

ICH QUÄLTE mich schließlich ziemlich früh nach draußen und kümmerte mich um Hector, Hurricane und Sugarpie; ließ sie alle raus auf die Koppel.

Als ich aus dem Stall kam, kam Jesse in meine Richtung. Als er mich sah, drehte er sich um und ging zurück in sein Haus.

Ich hockte für den Rest des Tages in meinem. Ich sah mich nicht selbst im Spiegel an. Ich sah eigentlich überhaupt nicht viel an.

Aber schließlich kam mir eine Eingebung wegen Dane. Er wollte seine Homosexualität auch weiterhin verbergen, also musste er mich meiden. Jeder, der mit mir in Verbindung gebracht wurde, würde als schwul oder als Sympathisant abgestempelt werden. Als ich überlegte, wieso ich nichts von meiner Tante oder meinem Onkel gehört hatte, war mein einziger Gedanke, dass sie sich meiner schämten, mir das aber nicht sagen wollten. Ich war ja schließlich nicht ihr Sohn. Vielleicht war ich nicht mal mehr ihr Neffe. Ich würde ein weiterer dieser armen schwulen Bastarde sein, die ihre Familien verloren, wenn ihr Geheimnis publik wurde.

Ich ließ es nicht zu, dass ich mir allzu viele Gedanken darüber machte, ob meine Eltern sich ebenfalls meiner geschämt hätten. Ich hatte mir immer vorgestellt, dass meine Mom, die stets mehr Aufhebens um mich gemacht hatte als um Jesse, das getan hatte, weil sie die Wahrheit wusste, selbst als ich noch klein war. Ich hatte das über Moms gelesen. Ich dachte, das war möglicherweise ihre Art gewesen, mich aufzubauen, für das, was kommen würde. Ich konnte nicht damit umgehen, zu denken, sie würde mich auch hassen. Es fühlte sich an, als würde man mit den Fingernägeln über den Schorf einer Wunde kratzen, die noch nicht wirklich verheilt war. Zu guter Letzt hörte ich Sarahs Nachrichten ab. In der ersten war sie besorgt. Die zweite besagte, dass sie nicht mehr mit Jesse redete. Na toll. Noch ein Grund für meinen Bruder, mich zu hassen. Eine dritte Nachricht gab es nicht.

Ich nehme an, sie hatte aufgegeben.

Ich wartete ab, bis es dunkel war, um nach draußen zu gehen und die Pferde zu versorgen. Dann kam ich zurück, und setzte mich im Dunkeln in mein Wohnzimmer.