Kapitel 24

 

 

EIN PAAR Tage danach suchte mich meine Tante im großen Pferdestall auf. Vor lauter Schreck ließ ich das Sattelzeug fallen, das ich gerade überprüfte.

„Was ist los? Ist Onkel Karl verletzt?“

Sie lachte. „Nichts dergleichen. Ich habe entschieden, das heute dein großer Tag ist, um wieder in der Gesellschaft in Erscheinung zu treten.“

Mir gefiel überhaupt nicht, wie sich das anhörte. „Was meinst du damit?“

„Ich muss zum Einkaufen nach Livingston und du kommst mit mir, um zu helfen.“

„Seit wann brauchst du Hilfe beim Einkaufen?“

„Ich fülle die Vorräte für den Winter auf und brauche Muskeln, die den Einkaufswagen schieben.“

„Das denkst du dir doch aus.“

„Nö“, sagte sie mit einem schalkhaften Funkeln in den Augen. „Und jetzt geh rauf zum großen Haus und wasch dich. Wir fahren in die Stadt.“

„Tante Kate …“

„Du kannst dich nicht für immer auf dieser Ranch verstecken. Und ich bin immer noch genauso in der Lage, die Leute in ihre Schranken zu verweisen, wie ich es war, als du aufgehört hattest, zu sprechen.“ Ein breites Lächeln erschien auf ihrem Gesicht und ließ ihre Falten verschwinden.

„Ich muss dieses Sattelzeug wirklich auf Vordermann bringen, Tante Kate.“

„Und ich brauche wirklich deine Hilfe in der Stadt. Jetzt geh und mach dich sauber.“

„Oh nein, es ist Killer Kate!“, zog ich sie auf, so wie ich das getan hatte, als sie mich antrieb, nachdem ich wieder angefangen hatte, zu sprechen. Damals war sie so glücklich, dass sie es zuließ, dass ich sie so nannte.

„Weißt du, ich habe Jesse den Hintern versohlt, nach dem einen Mal, als er das zu mir gesagt hat.“

„Machst du Witze?“

„Nö. Und er hat es niemals vergessen. War das letzte Mal, dass er frech zu mir war. Jetzt komm in die Puschen.“ Als ich an ihr vorbei und zur Stalltür hinausging, gab sie mir einen Klaps auf den Hintern.

 

 

ALS SICH der Truck Livingston näherte, fing ich an, das Ganze für eine miese Idee zu halten, ganz besonders, als wir am Lebensmittelladen vorbeifuhren.

„Da sind ein paar Dinge, die dein Onkel aus dem Eisenwarenladen braucht. Dachte, du kannst mir dabei helfen, sie zu besorgen“, erklärte sie mir.

„Sicher.“

Der Lebensmittelladen, dachte ich bei mir, war um diese Tageszeit voller Frauen und die würden ihre Missbilligung wahrscheinlich auf gehässige Blicke beschränken. Damit konnte ich umgehen. Aber der Eisenwarenladen würde voll mit Kerlen sein, besonders mit alten Kerlen. Mir stieg die Magensäure hoch.

Tante Kate tätschelte meinen Oberschenkel. „Es wir alles gut werden, Josh, ganz egal, was passiert, ich verspreche es dir. Ich habe darüber auf der PFLAG Website gelesen. Wir werden überrascht darüber sein, wer uns unterstützt und wer nicht, aber wir werden Unterstützung finden. Glaub das nur.“

Ich hielt meinen Mund. Das Einzige, was ich glaubte, war, dass ich zu ihrem neuen Projekt geworden war, und darüber war ich nicht besonders froh.

Wir gingen in den Eisenwarenladen und stellten uns am Eingang unserer ersten Prüfung. Bob Granger stand hinter dem Tresen und sprach mit Mr. Campbell. Bob war ein pensionierter Rancher und als solcher ein Oldtimer des Tales. Aber er hatte immer noch die hagere Statur des Rodeo-Wettkämpfers, der er einst gewesen war.

Mr. Campbell war ein alter Freund meines Onkels. Er schaute uns nur einmal an und drehte uns dann den Rücken zu. Mr. Granger runzelte seinetwegen die Stirn und sah dann zu mir hoch.

„Hallo Josh“, sagte er, so freundlich wie immer. Ich nickte.

„Es hat mir wirklich leid getan, das mit deinem Pferd zu hören, Sohn“, sagte er. „Bin froh, dass du nicht verletzt wurdest.“

„Danke, Mr. Granger. Hurricane geht es jetzt jeden Tag besser.“

„Das freut mich“, sagte er aufrichtig.

„Hallo Art“, sagte meine Tante zu Mr. Campbell.

Er sagte kein Wort. Drehte sich nicht zu uns um. Meine Tante runzelte die Stirn.

„Hallo, Kate“, antwortete Mr. Granger.

„Bob.“ Sie lächelte „Schätze, wir Brooks sind im Begriff, zu lernen, wer unsere wahren Freunde sind.“

Mr. Granger beäugte Campbell streng, so, als würde er ihm eine zweite Chance geben. Aber Cambell ignorierte ihn ebenfalls und fummelte an seinen Einkäufen herum.

„Es tut mir wirklich leid, Kate“, sagte Mr. Granger. Möglicherweise dachte er, verantwortlich für den Laden zu sein, bedeutete auch, sich für unhöfliche Kunden entschuldigen zu müssen. „Man sollte doch meinen, dass Leute, die dich dein ganzes Leben lang kennen, mit allem locker umgehen können“, fügte er hinzu.

„Manche Leute können einfach nichts dafür, nehme ich an“, erwiderte meine Tante.

Das war`s dann für Mr. Campbell. Er schnappte sich seine Sachen und stürmte aus dem Laden. Ich nehme an, dieses Mal hatten wir gewonnen.

Meine Tante überreichte mir ihre Einkaufsliste und schob einen Einkaufswagen in meine Richtung. „Würdest du mal zusehen, ob du diese Dinge für deinen Onkel findest, Josh?“

Im Gang für Autozubehör traf ich auf Carson Mason und bereitete mich mental auf einen Angriff vor. Er und ich waren die ganze Schulzeit über im selben Jahrgang gewesen und freundschaftlich miteinander umgegangen, aber er war Mr. Cambells Neffe.

„Carson.“

„Josh“, nickte er mir zu. „Ich kann einfach nicht glauben, dass niemand etwas gegen Hanson unternehmen kann. Er hätte dich erschießen können. Das ist,verflucht noch mal, nicht zu fassen.“

Ich stieß den Atem aus, den ich angehalten hatte. „Danke, Carson.“

„Er bekommt aber trotzdem sein Fett weg. Mach dir darum mal keine Gedanken. Er hat seinen Trainervertrag mit der Ferienranch verloren.“

„Echt?“

„Jep. Mein Schwager arbeitet jetzt dort. Er hat es mir erzählt. Sagte, er schätzt, dass sie bald bei dir anrufen werden.“

„Das wäre schön. Danke für die Neuigkeiten, Carson.“

„Kein Problem. Und falls du mal ausgehen willst, ich hänge jetzt immer in der Lonesome Whistle Bar ab. Geh nicht mal mehr in die Nähe vom Cunninghams. Ruf mich an. Wir können uns da treffen.“

„Das mache ich Carson.“

Im Lebensmittelladen ging es so weiter. Die Leute in meinem Alter, denen ich dort begegnete, nickten mir zu. Die meisten Freunde meiner Tante sagten Hallo, zumindest zu ihr. Ich nehme an, das ließ uns unachtsam werden. Dann begegneten wir Velma Baker in dem Gang mit den Konservendosen. “Velma!“, rief meine Tante ihrer Lieblingscousine zu. Velma war ungefähr zehn Jahre älter als meine Tante, groß und dünn, mit langen, weißen Haaren, die sich auf ihrem Kopf auftürmten, sodass sie noch größer und dünner aussah, fast schon ausgemergelt.

„Ich freue mich, dich zu sehen“, sagte meine Tante. Sie waren sich schon seit Kindertagen sehr nahe. „Ich habe mir schon Sorgen gemacht, weil ich in den letzten paar Wochen nichts von dir gehört habe. Warst du verreist?“

„War ich nicht“, erwiderte sie scharf. Dann hob sie ihre Stimme, wurde so laut, dass sie vermutlich der halbe Laden hören konnte. „Ich kann nicht mit dir reden, Kate, solange dieser Sodomit auf eurer Ranch lebt, und das weißt du ganz genau. Warum haben Karl und du ihn nicht rausgeschmissen?“

„Velma, wovon sprichst du?“

„Niemand sonst wird dir das sagen, Kate, aber ich gehöre zur Familie und es ist meine Pflicht. Diese Schwuchtel wird auf direktem Weg zur Hölle fahren, und du und Karl werdet das auch, wenn ihr ihn nicht dazu zwingt, sich zu ändern oder euer Zuhause zu verlassen.“

Sie schaute mich direkt an und Gehässigkeit sickerte aus ihr heraus wie Eiter.

„Meine Tante und mein Onkel haben nichts damit zu tun.“ Wie konnte diese Frau es wagen, meine Tante anzugreifen.

„Es ist die Schuld deiner Eltern“, erwiderte Velma, so sicher, wie man nur sein konnte. „Aber du kannst dich ändern -“

„Meine Eltern lässt du ebenfalls da raus.“

Inzwischen bebte ich vor kaum unterdrückter Wut. „Komm, Tante Kate. Lass uns gehen.“

Aber meine Tante hatte ihre eigene Stimme wiedergefunden.

„Velma“, sagte sie sehr klar und deutlich, „es tut mir wirklich leid, dass wir nicht mehr miteinander reden werden. Ich werde dafür beten, dass du deine Meinung über diese Angelegenheit änderst.“

„Für mich beten …“ stotterte die Frau und suchte nach ihren nächsten Worten. Ich nehme an, ihr religiöses Drehbuch enthielt keine Erwiderung darauf.

„Komm mit, Josh“, sagte Tante Kate. „Wir haben Dinge zu erledigen.“

Tante Kate gab dem Einkaufswagen einen Schubs und war schon halb den Gang hinunter, bevor ich sie einholen konnte.

Anschließend gingen wir zur Kasse und sprachen kein Wort bis wir den Truck erreichten.

„Ich fahre“, sagte ich und nahm ihr die Schlüssel aus der Hand. „Ich denke, du könntest vielleicht ein bisschen zu aufgebracht sein.“

„Du hast keine Vorstellung“, sagte sie, als sie einstieg. Sie drehte sich zum Rücksitz um und redete weiter, während ich die Tüten mit den Lebensmitteln einlud. „Die Frau hat vielleicht Nerven. Sie befolgt das Evangelium nicht mal, wenn es um ihre eigene Familie geht. Hast du mitbekommen“, sagte sie und drehte sich erneut um, damit sie mich sehen konnte, nachdem ich auf den Fahrersitz geklettert war, „dass ihr ältester Sohn vier Jahre im Gefängnis gesessen hat und sie ihn nicht einmal besucht hat?“

„Er ist wahrscheinlich dankbar dafür.“

Daraufhin brach meine Tante in Gelächter aus, das nicht aufhörte, bis wir den Parkplatz des Lebensmittelladens verlassen und auf den Highway 89 gefahren waren.

“Oh Josh“, sagte sie, während sie nach Luft schnappte. „Wenn dein Sinn für Humor derart gut ist, dann kann ich aufhören, mir Sorgen zu machen. Du wirst das unbeschadet durchstehen.“

Ich war mir da immer noch nicht sicher. Aber ich war froh, dass sie lachte.