Trauma – Ursachen
und Auswirkungen

Was ist ein Trauma? • Welche Ursachen gibt es?

• Traumatypen und andere Unterscheidungen

• Schädigende und schützende Faktoren

Was ist ein Trauma?

Trauma bedeutet Wunde, Verletzung, Schock.1

In diesem Buch geht es um Verletzungen psychischer Natur, die die Betroffenen in einen Schockzustand versetzen. Traumata sind überwältigende Ereignisse, die völlig überfordern. Meist handelt es sich um Situationen, aus denen es keinen Ausweg gibt. Die Betroffenen können weder weglaufen noch sich zur Wehr setzen, das Schlimme geschieht und sie können nichts dagegen tun. Sie erleben starke seelische Schmerzen, Todesnähe und Todesangst. Sie sind überzeugt, dass dieses Geschehen eigentlich nicht auszuhalten oder zu überstehen ist. Im Gehirn wird es als zersplitterte Erinnerung im sogenannten Traumagedächtnis abgelegt. Dies hat zur Folge, dass die Betroffenen sich später nicht mehr oder nur bruchstückhaft an das Geschehen erinnern.

Häufigkeit von Traumata und Folgen

Nach Aussagen von Michaela Huber erleben 50–90 % der deutschen Bevölkerung im Laufe ihres Lebens ein Trauma. Traumatisierungen im Kindesalter zählen zu den wichtigsten Risikofaktoren für eine spätere psychische Störung.2 In den letzten Jahren wurde den Folgen des Zweiten Weltkriegs in Deutschland zunehmend Aufmerksamkeit gewidmet. Viele Kinder mussten ohne Vater oder mit traumatisierten und daher emotional abwesenden Vätern und Müttern aufwachsen. Eine Studie Michael Ermanns ergab, dass Kriegskinder weit häufiger unter psychischen Störungen wie Ängsten, Depressionen und psychosomatischen Beschwerden leiden als der Bevölkerungsdurchschnitt, jeder Zehnte ist traumatisiert oder hat deutliche traumatische Beschwerden. Ermann erklärt, viele hätten den Krieg wie Wissen aus dem Geschichtsbuch zur Seite gelegt und die dazugehörigen Gefühle verdrängt. Die unverarbeiteten Traumata wurden an die eigenen Kinder, die sogenannten Kriegsenkel weitergegeben. Diese leiden heute unter Ängsten, Mangel- und Verlusterleben, fühlen sich heimatlos und entwurzelt, ohne diese Erfahrungen persönlich gemacht zu haben.3

Welche Ursachen gibt es?

Bei dem Begriff „Trauma“ denken die meisten Menschen an ein seltenes, schwerwiegendes, meist einmaliges Ereignis: einen schweren Unfall, einen Banküberfall, die Vergewaltigung auf der Straße, das Miterleben eines Amoklaufes … Diese Erlebnisse würde jeder als traumatisch bezeichnen.

Sehr viel häufiger sind allerdings die sogenannten Langzeit-Traumata. Viele Menschen wurden in ihrer Kindheit über Jahre vernachlässigt und mit harten Worten gedemütigt, erlebten brutale Misshandlungen oder sogar sexuelle Übergriffe. Emotionaler, körperlicher und sexueller Missbrauch in der eigenen Familie oder im nahen Umfeld wirkt als schwerwiegendes Trauma. Solche Ereignisse haben ein Leben über viele Jahre geprägt und manchmal zerstört. Sie geschahen in der Vergangenheit meist unbemerkt und bis in die Gegenwart ist weder den Betroffenen noch ihrem Umfeld bewusst, dass es sich bei diesen Erlebnissen um tiefe Traumata handelt.

Familiengeheimnis

Die Atmosphäre in einer dysfunktionalen Familie ist geprägt von Angst und Schweigen. Nichts darf nach außen dringen. Häufig ist die Familie sozial abgestiegen, aber auch scheinbar intakte, vielleicht gut angesehene Familien, sogar mitten in einer christlichen Gemeinde können betroffen sein. Wenn die Familie nach außen strenge Moral und hohe ideelle Werte präsentiert, es intern aber zu Versagen und zum Übertreten der eigenen Normen kommt, ist die Scham besonders groß. Niemand darf entdecken, dass es zwei Wirklichkeiten gibt. Das, was nicht sein darf, muss geheim gehalten und versteckt werden. Niemand darf darüber reden, die möglichen Folgen wären zu bedrohlich.

Emotionaler und körperlicher Missbrauch

Emotionaler Missbrauch ereignet sich typischerweise im Verborgenen. Die Kinder hören unzählige negative und beschämende Worte, erleben Ablehnung und Ausgrenzung, werden mit Liebesentzug, Zwang und Manipulation erzogen. Manchmal wird ein Kind zum Partnerersatz, um die Bedürfnisse eines Elternteils nach Nähe und Zuneigung zu erfüllen. Ein anderes Extrem ist die Rolle des Sündenbocks, an dem der Erwachsene die eigene Unzufriedenheit und Wut auslässt. Oft ist emotionaler Missbrauch mit körperlichem Missbrauch gepaart. Das Kind wird geschlagen, getreten, eingesperrt oder noch schwerer misshandelt.

Sexueller Missbrauch

Besonders zerstörerisch ist, wenn Kinder zusätzlich zu den emotionalen und körperlichen Misshandlungen sexuellen Missbrauch erleben. Innerhalb dysfunktionaler Familien ist dies keine Seltenheit. Dabei versteht man unter sexuellem Missbrauch nicht nur die Penetration, sondern jede Form des Grenzübertritts, bei der das Kind der Erfüllung sexueller Bedürfnisse des Erwachsenen dient. Gerade wenn diese Art von Gewalt von einer eigentlich geliebten und wichtigen Bezugsperson verübt wird, hat das sehr weitgreifende Auswirkungen.

Geistlicher Missbrauch

In vielen christlichen Familien können die Kinder sehr behütet und umsorgt aufwachsen. Wenn allerdings Eltern oder Gemeinden krank machende und falsche Gottesbilder vermitteln, damit persönliche Grenzen überschreiten oder Gott benutzen, um Druck auszuüben, kann das Leben in einem frommen Umfeld auch sehr negative Auswirkungen haben.

Weitere Kindheits-Traumata

Ereignisse, die für einen Erwachsenen kein großes Problem bedeuten, können ein Kind völlig überfordern und traumatisierend wirken. Ein häufiges Beispiel sind schwere Erkrankungen oder Krankenhausaufenthalte, bei denen das Kind Trennung von den Eltern erlebt und das Geschehen überhaupt nicht einordnen kann. Auch der Verlust der Familie oder eines Elternteils, z. B. als Folge von Krankheit, Tod oder Scheidung, ist für ein Kind traumatisch. Selbst der Tod der geliebten Katze oder die extreme Angst vor dem Nachbarshund kann solche Auswirkungen haben.

Ebenso hat Vernachlässigung, also langanhaltende Mangelversorgung, nachhaltige Folgen. „Vernachlässigung ist eine Form der Traumatisierung, bei der wichtige Bezugspersonen körperliche oder emotionale Zuwendung versagen und beruhigende und erholsame Erlebnisse nicht ermöglichen, die sind aber für eine positive Entwicklung eines Kindes unverzichtbar.“4 Ein Großteil der Pflege-, Adoptiv- und Heimkinder hat in der Herkunftsfamilie bereits Vernachlässigung und Misshandlung erlebt, auch die Herausnahme aus und Trennung von dieser Familie sind belastende Erfahrungen. So kann man davon ausgehen, dass bei vielen dieser Kinder eine Traumatisierung vorliegt. Nicht vergessen werden dürfen vorgeburtliche Traumata, z. B. durch Probleme oder schwere Erkrankungen der Mutter, besonders auch durch Abtreibungsversuche. Da das Kind bereits im Mutterleib erste Lernerfahrungen macht,5 können diese Erlebnisse deutliche Auswirkungen auf das Kind haben.

Häufig führt das Aufwachsen mit einem traumatisierten Elternteil beim Kind zur erneuten Traumatisierung, da Mutter oder Vater in einem solchen Fall unbewusst im eigenen Schmerz gefangen und nicht fähig ist, sich auf das Kind einzulassen. Das Kind kann die unberechenbaren Reaktionen dieses Elternteils nicht einschätzen: einmal erdrückend in seiner Liebe, einmal unnahbar und unerreichbar, dann wieder überreizt oder in seiner Wut tief verletzend. Auf diese Weise werden Traumata über Generationen weitergegeben. „Trauma-Erfahrungen erzeugen Bindungsstörungen und Bindungsstörungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, selbst eine Trauma-Erfahrung zu erleiden oder anderen Menschen Traumatisierungen zuzufügen.“6

Kriegserlebnisse, bedrohliche Naturkatastrophen und andere existenzielle Notsituationen sind offensichtlich furchtbare Erfahrungen. Erst in den letzten Jahren wird immer deutlicher, wie viele Menschen Traumata durchlebt haben und heute an den Folgen leiden.

Traumatypen und
andere Unterscheidungen

Traumata vom Typ I werden auch Akuttraumata genannt. Sie beziehen sich auf Ereignisse, die plötzlich und unerwartet auftreten und akute Lebensgefährdung bedeuten. Dabei spielt es keine Rolle, ob man selbst betroffen ist oder das Ganze aus nächster Nähe miterlebt.

Traumata vom Typ II gehen auf langanhaltende, wiederholte Erlebnisse zurück, die mit Todesangst, Ohnmacht und Hilflosigkeit, Demütigung und Scham verbunden sind.7

Des Weiteren unterscheidet man Traumata, die durch Menschen verursacht und ausgeübt werden, von solchen, die sich durch schicksalhaftes Geschehen, wie bei Naturkatastrophen oder einem Zugunglück, ereignen.

Traumaforscher berichten auch von geschlechtsspezifischen Unterschieden: Auf der Opferseite erleben Mädchen häufiger sexuellen Missbrauch, während Jungen eher körperliche Gewalt zugefügt wird. Bei der späteren Aufarbeitung berichten Frauen oft über innerfamiliäre Traumata wie Vernachlässigung, Gewalt und Missbrauch, Männer über außerfamiliäre Gewalterfahrungen wie Rivalitätskämpfe oder Kriegserlebnisse. Auf der Täterebene äußert sich die Gewaltneigung traumatisierter Männer mehr in Aggression gegenüber anderen, wogegen traumatisierte Frauen die Aggression eher gegen sich selbst richten, was zu Selbstverdammung, selbstschädigendem Verhalten und Selbstverletzungen führt. Sind traumatisierte Frauen Mütter, reagieren sie meist mit Gleichgültigkeit, wenn sich Partner oder andere Menschen ihren eigenen Kindern gegenüber missbräuchlich verhalten.

Schädigende und schützende Faktoren

Nicht alle Menschen, die ein Trauma erleben, reagieren auf die gleiche Weise. Untersuchungen zeigen, dass circa zwei Drittel der Betroffenen ein Akuttrauma „gesund“ überstehen. Ein schwerer Verkehrsunfall zieht nur bei 10 % seelische Folgeschäden nach sich, während nach einer Vergewaltigung ungefähr die Hälfte der Opfer an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet.8 Die Entwicklung und Ausprägung von Folgestörungen hängt sehr stark von Art, Schwere, Dauer und Zeitpunkt der Traumatisierung ab. „Ereignisse sind nicht an sich und für sich traumatisch, sondern sie können auf bestimmte Menschen traumatisierend wirken. Deshalb wird nicht jeder, der ein extrem belastendes Ereignis miterlebt, dadurch tatsächlich traumatisiert … Wie stark ein Mensch traumatisiert wird, hängt ab von den allgemeinen Faktoren der Verletzlichkeit und von den objektiven Merkmalen des Ereignisses.“9

Da Kinder grundsätzlich verletzlicher sind, sich noch im Entwicklungsprozess befinden und nicht so viele Möglichkeiten haben, Traumata zu verarbeiten, wiegen Kindheits-Traumata schwerer. „Je früher in der Kindheit eine chronische Traumatisierung beginnt, desto wahrscheinlicher entsteht ein Trauma, weil die mentale Effizienz noch nicht ausgereift und die psychobiologische Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist.“10 Das Kind bräuchte bei der Bewältigung Hilfe von liebevollen, sich kümmernden Erwachsenen. Falls es diese nicht bekommt, die traumatischen Ereignisse sich wiederholen, vielleicht sogar über einen langen Zeitraum, sind die Folgen besonders ausgeprägt. „Wiederholtes Erleben von starkem Stress über längere Zeit, wie es beispielsweise bei Kindesmissbrauch häufig vorkommt, hat auf Traumatisierte offenbar die schädlichste Wirkung.11

Von Menschen ausgeübte Gewalt ist schwerer zu verkraften als schicksalhafte Ereignisse, vor allem, wenn körperliche und sexuelle Gewalt beteiligt sind. Besonders schlimm ist es, wenn nahestehende oder geliebte Personen Täter sind oder es mehrere Täter gibt. Spielt Sadismus eine Rolle, d. h. der Täter ergötzt sich an der Angst des Opfers, erlebt Befriedigung, indem er es demütigt, quält und ihm Schmerzen zufügt, führt dies zu extremer Verwirrung und Verängstigung. Häufig wird dem Opfer Mitschuld vermittelt. Auf diese Weise wird es manipuliert, weiterhin mitzumachen und Stillschweigen zu bewahren.

Wird das betroffene Kind in seinem Umfeld mit dieser Not allein gelassen, kann es sich niemandem anvertrauen und erfährt keine Hilfe, ist auch eine Verarbeitung der schlimmen Geschehnisse nicht möglich. Gute und sichere Bindungen dagegen helfen, traumatische Erfahrungen zu überwinden. Das Kind erlebt einen Ort der Sicherheit, kann seinen Gefühlen freien Lauf lassen, kann weinen und wütend sein oder Geborgenheit finden, wenn es Angst hat. Es kann erzählen und reden, wird getröstet und gehalten. Auf diese Weise können die schwierigen Erlebnisse verarbeitet werden.

Aber nicht nur Art und Schwere des Traumas oder Hilfsmöglichkeiten des Umfelds spielen eine Rolle, sondern auch individuelle Faktoren wie die sogenannte Resilienz. Darunter versteht man die persönliche innere Widerstandsfähigkeit, die bei jedem Menschen unterschiedlich ausgeprägt ist. Ein „Stehaufmännchen“, das immer wieder auf die Füße kommt, besitzt gute Resilienz. Weitere solche Eigenschaften oder Haltungen sind: sich nicht hängen lassen, ein dickes Fell haben, immer wieder Hoffnung und Zukunftsperspektive entwickeln, zielorientiert vorwärts gehen, gutes Durchhaltevermögen besitzen; auch Mut und eine positive Grundeinstellung gehören dazu. All dies hilft der Person, schlimme Geschehnisse relativ unbeschadet zu überstehen.

Schützende Faktoren wie gute Bindungen und die individuelle Resilienz können als Erklärung dienen, weshalb die eine Person, deren Kindheit voll schwerer Erlebnisse und Schwierigkeiten war, trotzdem ein Leben mit relativ wenigen Beeinträchtigungen führt, während eine andere Person schwerwiegende Folgestörungen entwickelt, obwohl ihre Kindheit nur mehrere „kleinere“ Traumata aufweist. Die gleichen Lebensbedingungen können bei verschiedenen Menschen unterschiedliche Reaktionen und Auswirkungen nach sich ziehen, je nachdem, wie viel innerer Stress ausgelöst wurde und inwieweit dieser bewältigt und wieder abgebaut werden konnte.