Warum ist Dissoziation Folge von Trauma? • Was
geschieht bei Dissoziation? • Erscheinungsformen
der Dissoziation • Schweregrade der strukturellen
Dissoziation • Trauma und Bindung • Was passiert im
Gehirn? • Dissoziation verstehen
Das heutige Verständnis des Begriffs Dissoziation gründet sich auf die Ausführungen des französischen Philosophen und Psychiaters Pierre Janet. Er hat bereits Ende des 19. Jahrhunderts die Bedeutung von Traumata für die Entstehung seelischer Probleme erkannt und Dissoziation als organisierte Aufspaltung der Persönlichkeit aufgrund einer Traumatisierung beschrieben.
Der niederländische Professor Onno van der Hart führte 2004 den Begriff der Strukturellen Dissoziation ein. Er stellt die Hypothese auf, dass es bei allen frühen und schwerwiegenden traumatischen Ereignissen, v. a. bei solchen, die über einen längeren Zeitraum stattfanden, zur Dissoziation kommt.1
Wir haben Trauma als lebensbedrohliches Geschehen kennengelernt, das Betroffene vollkommen überfordert und dem sie hilflos ausgeliefert sind. Bei vollem Bewusstsein ist das Erleben kaum zu ertragen. Da weder Flucht noch Sichwehren möglich sind, bleiben als weitere Lösungen: sterben, wahnsinnig werden oder dissoziieren. Dissoziation oder Aufspaltung bedeutet Flucht „nach innen“. Als Bewältigungsmechanismus, das Unerträgliche zu überleben, stellt sie eine kreative Überlebensleistung dar.
Petra: „Und dann stand er wieder an meinem Bett. Ich konnte nicht weg! Ich hatte keine Chance, aber ich musste weg! Also blieb mir nur die Flucht nach innen. … Und dann beobachtete ich den Körper, der da auf dem Bett lag. Dieser Körper gehörte nicht mehr zu mir und alles was geschah, geschah nicht mir, sondern dem Körper. Der war eine leere Hülle, ich war längst weg.“
Diese Beschreibung habe ich von vielen gehört, die Missbrauch oder Misshandlung erlebt haben. Manche empfinden sich in diesem Zustand als neben sich stehend oder über dem Körper schwebend. Der Körper scheint verlassen, schmerzunempfindlich oder völlig gefühllos zu sein. Körpererleben und Gefühle sind abgespalten, auch die Wahrnehmung von Raum und Zeit ist verändert.
Nach Frank Putnam erfüllt die Dissoziation vier Aufgaben:
1. Flucht aus den Beschränkungen der Realität,
2. die Ausgrenzung traumatischer Erinnerungen und Affekte in einen Bereich außerhalb des normalen Bewusstseins,
3. die Veränderung oder Loslösung des Selbstgefühls (sodass jemand anders oder ein depersonalisiertes Selbst das Trauma erlebt) und
4. die Neutralisierung des Schmerzempfindens.2
Ich bin inzwischen überzeugt, dass Dissoziation als Möglichkeit, nach innen zu fliehen, ein von Gott selbst vorbereiteter Mechanismus ist. Er wusste, dass Menschen oft schlechte Entscheidungen treffen, sich gegenseitig Schlimmes antun. Durch Dissoziation ist in extremen Umständen Entkommen und Überleben möglich. Das Innerste, der innere Kern des Menschen, bleibt geschützt.
Im Folgenden beleuchte ich das Thema Dissoziation von verschiedenen Seiten. In der Literatur werden unterschiedliche Erklärungsmodelle und Bezeichnungen verwendet. Auch ich gebrauche verschiedene Begriffe, die oft das Gleiche meinen, z. B. „Bereiche“ oder „Persönlichkeitsanteile“. Zum einen wird dadurch deutlich, dass es sich um Erklärungsmöglichkeiten handelt, nicht um unumstößliche Erkenntnisse, zum anderen ist es auch im Gespräch mit den Betroffenen hilfreich, mehrere Begrifflichkeiten zu kennen und so auch – je nach Gegenüber – zu nutzen. So ist es leichter anzunehmen, dass man in sich einen „traumatisierten Bereich“ hat als einen „anderen Persönlichkeitsanteil“. Außerdem finde ich den Ausdruck „Bereich“ angemessener, wenn der innere Zerbruch nicht so stark ausgeprägt ist.
Aufspaltung bedeutet, dass sich die Identität eines Menschen teilt. Während der eine Teil die Erinnerungen, Schmerzen und Gefühle der traumatischen Erfahrung trägt, löst sich der andere Teil von diesem Geschehen. Wenn das Geschehene nicht bewusst verarbeitet wird, vertieft sich im Lauf der Zeit die Spaltung, die in der traumatischen Situation entstanden ist. Im einfachsten Fall haben sich aufgrund des Traumas zwei getrennte Bereiche in einem Menschen gebildet: der traumatisierte Bereich und der Überlebensbereich.
Der traumatisierte Bereich bleibt in seiner Entwicklung und seinem Leid stecken. Der Überlebensbereich versucht, das Trauma und alles, was damit in Verbindung steht, auf Abstand zu halten, zu vergessen. Folge des Traumas ist also, dass in dieser Person von nun an zwei getrennte Bereiche mit verschiedenen Zielen und Bedürfnissen, unterschiedlichem Denken, Fühlen und Handeln existieren. Das „innere Durcheinander“ ist entstanden. Folgende Geschichte veranschaulicht diese Aufspaltung:
FOLGE DES TRAUMAS IST, DASS ES IN DIESER PERSON VON NUN AN ZWEI GETRENNTE BEREICHE GIBT MIT VERSCHIEDENEN ZIELEN UND BEDÜRFNISSEN, UNTERSCHIEDLICHEM DENKEN, FÜHLEN UND HANDELN.
Ein schlimmer Autounfall. Das Kind überlebt, die Eltern nicht. Das Kind wächst bei den Großeltern auf. Viele wundern sich, dass das Kind so unauffällig ist. Es spricht nicht über den Unfall oder den Verlust der Eltern. Es verhält sich wie andere Kinder auch. Die Umwelt begegnet dem Überlebensbereich des Kindes. Dieser versucht ganz normal weiterzuleben, als ob nichts geschehen wäre. Das Leben geht ja weiter. Also schiebt der Überlebensanteil all die unerträglichen Bilder, die Gefühle und Erinnerungen weit weg. Sein Bestreben ist: ‚Nie wieder daran erinnern! Es ist schon lange her. Gefühle sind gefährlich.‘ Normal weiterzuleben scheint nicht möglich, wenn man sich dem tiefen Schmerz dieses Verlustes stellen würde. Tief innen verborgen ist der traumatisierte Anteil. Hier ist ein Meer von Tränen und Traurigkeit. Verzweiflung darüber, die liebsten Menschen verloren zu haben. Schuldgefühle, weil man nicht auch gestorben ist, weil man nicht hat helfen können. Gedanken kreisen, wie: ‚Ich werde nie mehr wirklich glücklich sein! Ich habe eigentlich kein Recht zu leben!‘3
Grundsätzlich kann Dissoziation als Gegenteil von Integration aufgefasst werden. Etwas, was eigentlich zusammengehört, ist nun getrennt. Dissoziation kann dabei ganz unterschiedliche Formen, Ausprägungen und Schweregrade annehmen. Man unterscheidet fünf dissoziative Hauptsymptome:
Amnesie
Depersonalisation
Derealisation
Identitätsunsicherheit
Identitätswechsel
Amnesie ist eine dissoziative Störung, bei der die Erinnerung abgespalten wird. Ist die Selbstwahrnehmung betroffen, spricht man von Depersonalisation, man erlebt sich selbst oder bestimmte Körperbereiche als fremd und nicht zu sich gehörig. Derealisation nennt man eine Dissoziation, bei der die Fremdwahrnehmung verändert ist, die Umwelt kommt der Person plötzlich eigenartig, unreal, verändert und fremd vor. Körperbezogene Dissoziationen können sich als Gefühlsstörungen, Empfindungslosigkeit oder Bewegungsstörungen ausdrücken, wobei keine fassbaren körperlichen Ursachen zu finden sind.
Sara: „Manchmal nehme ich meine Umgebung gar nicht mehr wahr. Ich funktioniere nur noch! Neulich habe ich mich beim Gemüseschneiden in den Finger geschnitten. Erst am Blut habe ich gemerkt, dass ich verletzt bin. Gespürt habe ich nichts.“
Franz Ruppert vergleicht das Geschehen mit einem Betäubungsvorgang. So wie bei einer Anästhesie die Fortleitung des Schmerzes unterbrochen wird, wird aufgrund des Traumas die Weiterleitung in bestimmten Abschnitten des Nervensystems geblockt und somit der Zugang in das Bewusstsein verwehrt.4 Oder es treten Körpersymptome auf, deren Ursache und Sinn aufgrund der Dissoziation zwischen Körper und Bewusstsein nicht verstanden werden können: „Signale vom Gehirn zu den Stimmbändern können unterbrochen sein, ein Mensch kann daher über etwas Wichtiges nicht sprechen. Auf den Schultern kann eine schwere Last liegen, ohne dass man versteht, warum.“5
Desorientiertheit beim Aufwachen oder Tagträume sind Formen der Dissoziation. Bei den komplexen dissoziativen Störungen sind auch Identität und Selbstempfinden beteiligt. Im Kopf können Kinderstimmen oder innere Dialoge wahrgenommen werden. Sprache, Gedanken, Gefühle und Verhalten werden zeitweise als nicht zu einem gehörig erlebt. Schließlich gibt es auch vollständig abgespaltene Selbstzustände. Dann haben die Betroffenen sogenannte Zeitverluste, sie erinnern sich nicht an bestimmte Zeitabschnitte, in denen ein anderer Persönlichkeitsanteil im Vordergrund war und das Außenleben bestimmt hat. Sie finden in ihrem Besitz Gegenstände, z. B. Kleider, an deren Erwerb sie keine Erinnerung haben, die oft gar nicht ihrem eigentlichen Geschmack entsprechen, oder Tagebucheinträge und Bilder, von denen sie überzeugt sind, sie nicht geschrieben oder gemalt zu haben.
Eine bestimmte Form der Dissoziation kennt jeder von uns:
Zur Heimfahrt von der Arbeitsstelle gehört eine halbe Stunde Autobahn. Sie kennen die Strecke in- und auswendig, Sie fahren sie jeden Tag. Nach einiger Zeit fällt Ihr Blick auf das Schild, das die nächste Ausfahrt ankündigt. „Was, so weit bin ich schon gefahren? Das gibt es doch gar nicht! Ich habe gar nicht bemerkt, dass ich an den vorigen zwei Ausfahrten vorbeigekommen bin!“
Obwohl Sie scheinbar sicher bis zu dieser Stelle gelangt sind, waren Sie eine Zeit lang nicht richtig anwesend. Sie können sich an die letzten beiden Ausfahrten nicht erinnern, und doch muss ja jemand das Auto gesteuert haben! Dieses Wegdriften nennt man Autobahn-Amnesie, es ist eine typische Alltagsdissoziation, eine Tagträumerei.
Finden bereits in der frühen Kindheit schwere Traumata statt, kommt es zur Spaltung in der Struktur des Menschen. Van der Hart und Kollegen sprechen von struktureller Dissoziation: „Wir gehen von der Grundannahme aus, dass bei allen traumabezogenen Störungen die strukturelle Dissoziation eine gewisse Rolle spielt, wobei die akute Belastungsstörung und die einfache PTBS mit den einfachsten Formen von Dissoziation und die Dissoziative Identitätsstörung mit deren komplexester Form verbunden sind.“6
Die strukturelle Dissoziation betrifft ganze Ebenen oder innere Bereiche einer Person. Diese sind ab dem Zeitpunkt der Aufspaltung voneinander getrennt, können nicht mehr ausreichend integriert werden und entwickeln sich unabhängig voneinander weiter. Zu jedem dieser Bereiche gehören die für ihn typischen Ideen, Gedanken und Gefühle. Der Wechsel zwischen den Bereichen geschieht, als ob ein Schalter umgelegt würde – so wie man beim Fernsehen auf ein anderes Programm umschaltet.
DER WECHSEL ZWISCHEN DEN BEREICHEN GESCHIEHT, ALS OB EIN SCHALTER UMGELEGT WÜRDE.
Hilda ist Ehefrau, Mutter von vier Kindern, Bildhauerin und Mitglied einer christlichen Gemeinde. Die meiste Zeit ist sie mit dem Familienalltag beschäftigt. Sie ist sehr fürsorglich, ein richtiger Familienmensch, liebt ihren Mann und erzieht ihre Kinder streng, aber liebevoll – dies ist Hildas Alltagsbereich. Ein weiterer Bereich von Hilda ist künstlerisch hochbegabt. Hilda erschafft Skulpturen, ist sehr kreativ, geht ganz in ihrem Schaffen auf. In der Gemeinde ist wiederum ein anderer Bereich im Vordergrund. Als aktive Christin ist Hilda Mitarbeiterin beim Frauenfrühstück, gestaltet Andachten und spielt Gitarre. Immer, wenn es heftig gewittert, erscheint ein weiterer „Hilda-Bereich“, der ängstlich, angespannt und misstrauisch ist. Sie versteckt sich, will mit anderen Menschen nichts zu tun haben, auch nicht mit ihrem Mann oder den Kindern. Jeder dieser Bereiche ist unterschiedlich. Hilda ist entweder so oder so. Die Künstlerin hat kein Interesse an den Kindern. Wenn Hildas Jüngster ihr während ihrer künstlerischen Tätigkeit einen Blumenstrauß bringt, schickt sie ihn wieder hinaus, sie will in Ruhe arbeiten. Wenn Hilda in der Andacht von Gottes Schutz spricht, kann sie sich gar nicht vorstellen, dass man Angst vor einem Gewitter haben könnte. Wenn eines der Kinder beim Gewitter Schutz bei ihr sucht, sitzt Hilda selbst voll Panik unter der Bettdecke …
Man kann sich gut vorstellen, dass die Familie und die Kinder immer wieder irritiert sind. Warum verhält sich die Mutter so unterschiedlich? Auch für Hilda selbst ist das Leben verwirrend und schwer. Wiederholt wird sie von Gefühlen und Gedanken überfallen, die sie selbst nicht versteht, von inneren Bildern, bei denen sie keinen Zusammenhang mit ihrem Leben finden kann. Hilda hat in ihrer Kindheit sehr schwere traumatische Erfahrungen gemacht, sodass sich eine starke Aufspaltung entwickelt hat. Das wird allerdings erst im Lauf der Therapie offensichtlich.
Die Aufteilung der Persönlichkeitsanteile
Beginnen wir mit dem einfachsten Fall. Nach einem kindlichen Trauma gibt es einen Überlebensbereich und einen traumatisierten Bereich. Nach Myers und van der Hart wird der Überlebensbereich, der den Alltag regelt und nach außen anscheinend normal weiterlebt, ANP, „anscheinend normaler Persönlichkeitsanteil“ genannt. Alles, was zum traumatisierten Bereich gehört, wird als „emotionaler Persönlichkeitsanteil“, EP, bezeichnet.7 In den nachfolgenden Texten werde ich die Abkürzungen EP und ANP gebrauchen.
DER EP ODER EMOTIONALE PERSÖNLICHKEITSANTEIL ENTSTEHT IM TRAUMA UND BLEIBT ENG MIT DIESEM VERBUNDEN. DER ANP ODER ANSCHEINEND NORMALE PERSÖNLICHKEITSANTEIL IST DER ÜBERLEBENSANTEIL, DER DEN ALLTAG MEISTERT.
DER EMOTIONALE PERSÖNLICHKEITSANTEIL
EPs sind im Trauma entstanden und bleiben im Inneren als abgespaltene Zustände bestehen. Sie dienten dem Überleben, aufgrund der engen Verbundenheit mit dem Trauma ist Stress ihr typisches Kennzeichen. Jeder EP ähnelt in seinem Erscheinungsbild der damaligen Situation. So kann der EP starke Fluchttendenz, äußere Erstarrung oder extremes Angriffsverhalten zeigen. Die folgende Liste gibt einen Überblick über typische EP-Erscheinungsformen. In der Fachliteratur werden die englischen Bezeichnungen verwendet, zur Erklärung habe ich die deutsche Übersetzung in Klammern ergänzt.
EP-Erscheinungsformen:
Flight (Flucht) – Nichts wie weg!
Fight (Kampf) – Ich wehre mich, komm mir nicht zu nahe!
Freeze (Schreckstarre – äußerlich erstarrt, innerlich voll Panik): Hilfe, was kann ich nur machen?
Submit (Unterwerfung) – Ich habe keine Chance, mach mit mir, was du willst!
Attachment cry (Bindungsschrei) – Hilf mir doch! Lass mich nicht allein!
Übermäßige Aufmerksamkeit – Aufpassen, Vorsicht, nichts übersehen!
Rückzug und Erholung – Lasst mich einfach in Ruhe, ich will niemanden sehen!
Immer wenn ein EP in den Vordergrund kommt, ändert sich das Erregungsniveau der betreffenden Person. Geht es in Richtung Angst, Panik oder Wut, finden wir ein Zuviel an Erregung. Bei völligem Erschlaffen, wie es bei Unterwerfung geschieht, erleben wir dagegen ein Zuwenig an Erregung.
Die Ursprungssituation prägt Gedanken, Gefühle, Körpergefühle oder Reaktionen jedes EPs. Dieser verändert sich im Lauf der Zeit kaum, bleibt in seinem ursprünglichen Zustand und ist wie „eingefroren in der Vergangenheit“. Dies betrifft sowohl sein Denken und Fühlen als auch sein Erleben und seine Handlungstendenzen. „Der EP scheint sich oft nur in geringem Maße, wenn überhaupt, der Gegenwart bewusst zu sein. Und er hat nicht immer Zugang zu den Fertigkeiten und dem Faktenwissen, die dem ANP zur Verfügung stehen.“8 EPs bleiben also im Trauma, in den alten Gedanken, Bildern, Gefühlen und körperlichen Reaktionen stecken.
Durch innere oder äußere Auslöser kann der EP aktiviert werden. Plötzlich erlebt der Alltagsbereich ANP, dass Gefühle, Gedanken oder Erinnerungsfetzen über ihn hereinbrechen und ihn überschwemmen. Sie gehören zum EP, der aufgrund des Auslösers in den Vordergrund drängt. Falls es zum Flashback kommt, kann es sogar sein, dass der ANP vom EP für kurze Zeit in den Hintergrund gedrängt wird. Meist kommt es nicht zur vollständigen Erinnerungslücke, sondern ein gewisses Maß an Bewusstsein bleibt erhalten. Ohne es zu verstehen, verspürt der ANP dann den starken inneren Drang, bestimmte Handlungen durchzuführen, z. B. sich ängstlich umzusehen, die Tür abzuschließen, sich zu verstecken oder wegzulaufen.
DER EP IST WIE EINGEFROREN IN DER VERGANGENHEIT.
ER WIRD DURCH AUSLÖSER AKTIVIERT, DANN ERLEBT DER ANP DIE MIT DIESEM EP VERBUNDENEN GEDANKEN, GEFÜHLE UND BILDER.
Ulrike – ein Rückblick: „Ich sitze mit meinen Kindern und meinem Mann beim Abendbrot in der Küche. Zwei unserer drei Kinder beginnen, mit mir zu diskutieren, mein Mann sitzt schweigend dabei. Ich versuche, meine Argumente zu formulieren und sie den Kindern zu vermitteln. Sie beharren auf ihrer Sicht. Innerlich spüre ich, wie etwas in mir aufsteht, etwas, was sich bedroht fühlt und Recht behalten möchte. Der Gedanke schießt in meinen Kopf: ‚Es wird ganz gewiss wie immer sein, ich werde nicht gehört und verstanden werden!‘ Die Diskussion verschärft sich – die Argumente werden vehementer und lauter. Meine innere Spannung hat enorm zugenommen, es hält mich nicht mehr auf dem Stuhl, schon stehe ich: ‚Es ist wie immer! Keiner versteht mich, keiner hilft mir, auch mein Mann nicht! Keiner, wie immer!‘ In mir ist alles in Aufruhr! Da ist etwas, was kämpfen will und zugleich ahnt, dass Kämpfen gefährlich ist. Am Ende werde ich wieder die Schuldige sein! Ich bin immer an allem schuld! Das ist doch immer so! Schon höre ich, wie dieser Satz zornerfüllt aus meinem Mund kommt, sehe, wie ich mich umdrehe und mit lautem Türknall den Raum verlasse. Völlig fertig, wutentbrannt und mit dem Gefühl, wie immer ungerecht behandelt, nicht gehört und nicht verstanden worden zu sein, sitze ich im Schlafzimmer. Mühsam versuche ich, mich selbst zu beruhigen. Nach einiger Zeit habe ich den Eindruck, dass sich die Gefühle wieder nach innen zurückziehen und ich wieder ‚normal‘ werde. Ganz souverän gehe ich in die Küche und räume das Geschirr weg.“
DER „ANSCHEINEND NORMALE PERSÖNLICHKEITSANTEIL“
Der ANP ist der Aspekt der Person, den wir normalerweise antreffen und kennenlernen. Meist macht er den größten Teil der Persönlichkeit aus – alles, außer dem, was im EP abgespalten ist. Je zerbrochener eine Person ist, desto größer wird der Bereich der EPs. Der ANP meistert den Alltag: Er ist fürsorglich, kümmert sich um andere, knüpft und lebt Beziehungen, ist lernfähig, arbeitet und funktioniert – oft sogar recht gut.
Dieser ANP will sich – meist unbewusst – nicht mit dem befassen, was in ihm ist. Denn vieles irritiert ihn und macht ihm Angst: „Was ist mit mir los? Ich will einfach normal sein! Ich will diese Gefühle und Gedanken nicht mehr haben, ich will von ihnen nicht mehr überfallen werden! Ich verstehe sowieso nicht, was das alles soll!“
Folgendes Bild schildert die Beziehung von ANP und EP sehr treffend:
Das Überlebens-Ich sitzt auf dem Trauma-Ich gleichsam wie auf einer heißen Herdplatte und versucht, immer mehr Abstand von der sengenden Hitze zu bekommen, die vom Trauma-Ich ausgeht. Sein Handeln kann daher logischerweise nicht unabhängig vom Trauma-Ich sein, sondern wird von diesem in all seinen Daseinsformen bestimmt und gesteuert.9
Auch wenn der ANP alles meidet, was mit dem EP zusammenhängt, wird er doch immer wieder von den Gedanken und Gefühlen des oder der EPs beeinflusst. Bestimmte Grundtendenzen im Verhalten sind allen ANPs gleich.
Typische ANP-Kennzeichen sind:
keine oder sehr lückenhafte Erinnerung an das Trauma,
scheinbare Gleichgültigkeit gegenüber dem, was passiert ist: „Es war nicht so schlimm! Ich bilde mir das alles sowieso nur ein! Das ist schon lange her, vorbei und vergessen!“,
Funktionieren im Lebensalltag steht im Vordergrund: „Kontrolle ist wichtig, damit nichts aus den Fugen gerät!“,
Gefühl der Betäubung: „Ich arbeite einfach weiter vor mich hin. Es hat mir nichts ausgemacht!“
Diese Verhaltensmuster sind geprägt von Verleugnung. „Ein Teil der Person soll frei werden, sein und bleiben von der Übererregung des Körpers, dem Empfinden von Todesangst, den abgrundtiefen Verlassenheits- und Einsamkeitsgefühlen, dem Gefühl des Überwältigtseins, dem Ohnmachtsempfinden, der vollkommenen Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit, den unerträglichen Schmerzen, der unendlichen Wut, der tiefen Beschämung oder den quälenden Ekel- oder Schuldgefühlen, die, je nach der besonderen Art der Traumasituation, in der Seele eines Menschen entstanden sind.“10
Verleugnung war und ist für den ANP wichtig, denn sie hat das Weiterleben ermöglicht! „Einigen Traumatisierten gelingt es, als ANP jahrelang relativ normal zu leben, während ihr EP schläft und verborgen bleibt. Die mentale Effizienz der Betreffenden scheint relativ hoch zu sein, abgesehen von ihrer Unfähigkeit, traumatisches Material zu integrieren. Solche ANPs sind gut in der Lage, den EP zu hemmen.“11 Dies kostet allerdings viel Kraft. Außerdem erleben sich Betroffene gerade in ihrer Gefühlswahrnehmung und -verarbeitung deutlich eingeschränkt.
Anke: „Ich fühlte mich immer als Beobachter, so, als wäre ich gar nicht in mir. Irgendwie habe ich immer nur funktioniert und das Leben ging an mir vorbei, als wenn ich gar nicht leben würde. Eine spezielle Situation machte mir das sehr deutlich: Vor ein paar Jahren musste ich mit unseren damals drei kleinen Kindern in die Stadt. Ich kam an einer großen Schaufensterscheibe vorbei. Darin spiegelte sich eine Mutter mit drei kleinen Kindern. Ich dachte: ‚Schau mal, das bist du. Erwachsen und Mutter von drei kleinen Kindern.‘ Das hat mich irgendwie erschreckt. Es ist, als ob man getrennt von sich leben würde.“
Typisch für den ANP ist die deutlich erhöhte Stressanfälligkeit. Ursache ist der durch das Trauma entstandene giftige Stress, der innerlich weiter wirksam ist. Er schwächt, macht krank und schädigt Psyche und Körper.12 Erneuter Stress, viele Jahre später, kann das bisher scheinbar funktionierende System zum Kippen bringen. Dann erst treten die typischen Symptome einer PTBS in Erscheinung. Die betreffende Person ist von den äußeren Anforderungen überfordert und kann die innere Situation mit all dem, was sich in ihr nach oben drängt, nicht mehr kompensieren.
MEIST KOMMT ES ERST VIELE JAHRE NACH DEM EIGENTLICHEN TRAUMA – AUSGELÖST DURCH EINE AKTUELLE STRESSREICHE LEBENSSITUATION – ZUM TYPISCHEN ERSCHEINUNGSBILD DER PTBS.
Ulrike – ein Rückblick: „Eigentlich bin ich allein durch meine aktuelle Lebenssituation überfordert. Mein Mann ist beruflich sehr eingespannt und immer wieder im Ausland unterwegs, oftmals bin ich ‚alleinerziehende‘ Mutter von drei kleinen Kindern. Auch in der Ehe läuft es nicht rund, unser mittleres Kind macht Probleme und in der Gemeinde gibt es einen Konflikt. Noch vor Kurzem erst war ich wieder einmal im Krankenhaus. Eigentlich schleppe ich mich nur noch durch meinen Alltagswahnsinn. Trotzdem, das Treppenhaus muss gesaugt werden. Mittendrin überfällt mich auf einmal ein schreckliches Erinnerungsbild. Es ist tief aus der inneren Versenkung auftaucht. So lange war es verborgen, und jetzt bin ich ihm einfach ausgeliefert. Ich habe das Gefühl, innerlich total wund zu sein, vor Schmerz kaum noch atmen zu können, bin von tausend Gefühlen übermannt. Die Tränen laufen ungehemmt und sind nicht zu stoppen. Ich glaube, ich verliere die Kontrolle über mich selbst, schaffe es gerade noch bis in die Küche. Dort lehne ich mich an den Schrank, um irgendwie Halt zu finden. Ich stehe da, ganz erstarrt – ich weiß nicht, wie lange, sehe mich von außen und verstehe gar nichts mehr. Irgendwann werde ich fähig, eine Freundin anzurufen. Zitternd halte ich den Telefonhörer und versuche zu berichten, was mir bewusst geworden ist. Ich bin total durcheinander und habe größte Not. Jetzt weiß ich wieder etwas aus meinem Leben, was so lange fort war. Ihre beruhigende Stimme tut mir gut. Es wird gewiss wieder besser werden, aber im Moment ist es schrecklich! Der Alltag wird durch diese zusätzlichen Belastungen immer schwieriger und ich immer kränklicher. Ich versuche zu funktionieren. Doch in mir ist so viel los, es geht hin und her. Wie soll ich dieses neue Wissen einordnen? ‚Ist es wirklich wahr, woran ich mich erinnere? Nein, ich übertreibe! Das glaubt dir sowieso keiner! Aber ich spüre doch, wie schlimm es war! Was ist das, was in mir stattfindet?‘ In mir gibt es regelrechte Diskussionen. Aber für den vielen Schmerz und die massiven Gefühle in mir habe ich keine Worte!“
Dissoziation kann ganz verschiedene Ausprägungen und Schweregrade haben, je nachdem, was und wie viel Schlimmes geschehen ist, wie gut und hilfreich oder unangemessen und abweisend das familiäre und weitere Umfeld eines Kindes reagiert hat und welche natürliche Resilienz die betreffende Person besitzt.
Der einmalige Übergriff einer fremden Person hat weniger schwerwiegende Auswirkungen als Übergriffe innerhalb der eigenen Familie. Ein Kind, das zumindest zu einem Elternteil eine gute Bindung aufbauen kann, hat mehr Möglichkeiten, Schlimmes zu verarbeiten, als ein Kind, das in einer dysfunktionalen Familie aufwächst, wo es in seinen Nöten und Bedürfnissen überhaupt nicht gesehen wird. Ein sehr sensibles Kind leidet viel mehr unter Spannungen, Druck und Ablehnung als ein Kind, das mit „dickem Fell“ geboren ist. Seine Stressreaktion ist ausgeprägter, also muss es sich mehr schützen, um die schlimme Situation zu überstehen. Damit werden auch die Auswirkungen auf das Leben umfassender und tiefgehender sein. Die folgenden Grafiken geben einen Überblick über die verschiedenen Ausprägungsformen der strukturellen Dissoziation.
Primäre strukturelle Dissoziation
Bei dieser leichtesten Form sind aufgrund des Traumas ein ANP und ein EP entstanden. Dies ist typisch für die einfache posttraumatische Belastungsstörung (PTBS).
Sekundäre strukturelle Dissoziation
Bei der schwerwiegenderen komplexen posttraumatischen Belastungsstörung haben über lange Zeit immer wieder verschiedene traumatische Erlebnisse stattgefunden. Ein ANP und mehrere EPs haben sich entwickelt. Typisch ist der spürbare Wechsel der Gefühle, oft von einem Moment zum anderen.
Tertiäre strukturelle Dissoziation
Die dissoziative Identitätsstörung ist die schwerste Ausprägung einer Aufspaltung. Hier findet man mehrere ANPs, viele EPs und auch Mischzustände von ANP und EP. Die tertiäre Dissoziation ist durch einen Identitätswechsel gekennzeichnet. Verschiedene innere Persönlichkeitsanteile übernehmen abwechselnd die Außenkontrolle über die Person.13
Bindung und Trauma hängen eng zusammen. Ganz entscheidend für die Schwere einer strukturellen Dissoziation ist, in welchem Alter das Trauma stattgefunden oder begonnen hat. Machen wir dazu einen kurzen Ausflug in die Entwicklungspsychologie.
Ein Baby lebt in verschiedenen Gefühlszuständen. Ist es hungrig, fühlt es sich schlecht, ist es dagegen satt, breitet sich Zufriedenheit aus. Ist die Windel nass, geht es dem Baby wiederum nicht gut, ebenso wenig, wenn es im Bauch drückt oder das Baby sich einsam fühlt … Das Baby selbst kann sich aus keinem dieser Gefühlszustände befreien, es ist angewiesen auf Hilfe von außen. Je besser die Bindung an eine wichtige Bezugsperson ist, desto mehr wächst Vertrauen. Das Baby erlebt: „Mama kommt, wenn ich sie brauche! Meine Eltern trösten mich, wenn es sich in mir ganz schrecklich anfühlt! Papa hilft mir, er hält mich in seinem Arm, das fühlt sich gut an. Mama nimmt mich hoch, sie kuschelt mit mir, sie gibt mir zu trinken, bei ihr bin ich ganz zufrieden.“ Gefühle von Sicherheit und Geborgenheit entstehen. Sichere Bindung lässt das Baby erfahren, dass die unangenehmen Gefühlszustände nicht ewig andauern, es erlebt Zuwendung und Hilfe. Es lernt, sich körperlich und seelisch zu regulieren, der Zusammenhalt der verschiedenen Gefühls- und Erlebenszustände wird gefördert. Das Wahrnehmen eines Selbst entsteht, die eigene Identität wird aufgebaut. Durch die tragfähigen Bindungen und das Erleben von Sicherheit und Vertrauen können sich Zuversicht, Optimismus und gesundes Selbstvertrauen entwickeln.
In jedem Kind bildet sich aufgrund der Beziehungserfahrungen mit den Eltern ein „internes Arbeitsmodell für Beziehungen“, das im späteren Leben auf andere Personen übertragen wird.14 Macht ein Baby in seinen primären Beziehungen keine konstanten, verlässlichen Erfahrungen, wird immer wieder enttäuscht und zunehmend verunsichert, kann es keine emotionale Sicherheit aufbauen. Beziehungsprobleme im weiteren Leben sind vorprogrammiert.
So kann man davon ausgehen, dass alle Traumata des Kindesalters, bei denen Gewalt und emotionaler Missbrauch eine Rolle spielen, vor allem, wenn nahe Bindungspersonen beteiligt sind, immer zu Bindungsstörungen führen. Diese sind gekennzeichnet durch die gleichzeitige Angst vor Bindung und Angst, diese Bindung zu verlieren.
Bei wiederholter Traumatisierung des Kindes im frühen Alter wird außerdem der psychobiologische Entwicklungsprozess gestört, was wiederum bewirkt, dass die verschiedenen emotionalen Zustände nicht ausreichend integriert werden können. Diese Problematik bildet den Boden für die Entwicklung dissoziativer Persönlichkeitsanteile.15 Gute Bindungen helfen also, Schwieriges zu verarbeiten und zu integrieren, schlechte Bindungen haben die gegenteilige Wirkung, es kommt leichter zur Dissoziation.
GUTE BINDUNGEN HABEN SCHÜTZENDE FUNKTION, SCHWIERIGE LEBENSEREIGNISSE KÖNNEN LEICHTER INTEGRIERT UND VERARBEITET WERDEN. SCHLECHTE BINDUNG FÖRDERT DIE DISSOZIATION.
Ein Kind, das in einer dysfunktionalen Familie aufwächst, wird deshalb bei zusätzlichen traumatischen Erfahrungen leichter zur Aufspaltung neigen. Ist die Bindungsperson selbst Täter, bleibt dem Kind nichts anderes als zu dissoziieren.
„Das Dilemma des traumatisierten Kindes besteht darin, dass Bindung lebensnotwendig und gleichzeitig lebensgefährlich ist.“16
Dissoziation kann so schon sehr früh in der Kindheit zum „normalen Leben“ eines betroffenen Kindes dazugehören. Es kennt es nicht anders und wächst damit auf.
Weitergabe von Traumata über Generationen
Sehr häufig sind Bindungsprobleme bei Eltern zu finden, die selbst eine traumatische Vergangenheit durchlebt haben. Der traumatisierte Elternteil ist so in seiner eigenen Geschichte und Problematik gefangen, dass er gar nicht fähig ist, auf die Bedürfnisse des Kindes einzugehen. So kann z. B. das Weinen des kleinen Babys betroffene Eltern in Bereichen triggern, in denen sie selbst bedürftig waren und verletzt wurden. Daraufhin werden sie von Gefühlen wie Traurigkeit, Wut oder sogar Hass überflutet und reagieren dementsprechend. Das Kind versteht nicht, was geschieht, erlebt diesen Elternteil als unberechenbar und bedrohlich. Einmal kümmert sich die traumatisierte Mutter ganz liebevoll um ihr Kind, dann wiederum ist sie scheinbar nicht erreichbar. Einmal benimmt sie sich wie der strengste Kontrolleur, dann albert sie mit dem Kind herum, als ob sie selbst noch ein Kind wäre. Das Kind kann sich auf dieses Elternteil nicht verlassen. Gesunder Bindungsaufbau ist schwer möglich. Vielleicht übernimmt das Kind sogar Verantwortung für die anscheinend nicht richtig funktionsfähige Mutter. Natürlich kann auch der Vater betroffen sein oder sogar beide Eltern. Auf diese Weise werden Kinder durch das Zusammenleben mit traumatisierten Eltern selbst traumatisiert. Das unverarbeitete Trauma pflanzt sich von Generation zu Generation fort.
Grundlegendes Verständnis der Vorgänge im Gehirn hilft, Dissoziation und ihre Folgen besser einzuordnen. Bereiche des Zwischenhirns sowie die Gehirnrinde spielen unter diesen Gesichtspunkten eine besondere Rolle.
Die Gehirnstrukturen
Die neuen Erkenntnisse der Neurobiologie und Neurophysiologie basieren auf modernen bildgebenden Verfahren, z. B. PET-Scans (Positronen-Emissions-Tomografie-Bilder), Kernspin-Tomografie oder MRT (Magnet-Resonanz-Tomografie). Diese ermöglichen es, Gehirnareale bei ihrer Arbeit zu beobachten und die jeweilige Aktivität aufzuzeichnen, sodass daraus Rückschlüsse auf die speziellen Aufgaben und Funktionen gezogen werden können.17
Verarbeitungsweg der Informationen
Alle Informationen, die aus Auge, Ohr, Nase, Haut, also den Sinnesorganen kommen, werden im Zwischenhirn weiterverarbeitet. Über einen Bereich, der Thalamus genannt wird, gelangt das Material zum Mandelkern, der Amygdala. Sie ist die zentrale Verarbeitungsstation für alles, was von außen hereinkommt. Hier werden die Informationen emotional bewertet, als wichtig oder weniger wichtig eingestuft. Die Amygdala wird auch als innere Alarmanlage bezeichnet, die sofort reagiert, wenn Gefahr droht. In Sekundenschnelle sind wir zur Abwehr bereit, noch bevor wir richtig wissen, was überhaupt vor sich geht. Alles, was sie und somit uns emotional anrührt, positiv wie negativ, wird zum Langzeitgedächtnis weitergeleitet und dort einsortiert. Die emotionale Bewertung spielt auch beim Lernen eine entscheidende Rolle. Interessiert uns ein Thema überhaupt nicht – die Amygdala zeigt keine Gefühlsbewertung – fließen die Informationen einfach durch uns hindurch. So ist die emotionale Bewertung der Amygdala ausschlaggebend, was und wie viel zur Speicherung ausgewählt wird. Über den Hippocampus geht der Weg in die Großhirnrinde, wo sich im sogenannten präfrontalen Cortex das Langzeitgedächtnis befindet. Von hier sind die Erinnerungen bewusst abrufbar.
Diane und Dr. Tom Hawkins haben den Vorgang der Verarbeitung von normalen und traumatischen Erfahrungen sehr anschaulich in eine kleine Geschichte verpackt, die ich auch Ihnen – mit der Hoffnung auf Amygdalas positive Bewertung! – nicht vorenthalten möchte.
Die Geschichte von Amy und Hippo
Hippo Hippocampus, der Geschichtsschreiber
Wir befinden uns im Kontroll- und Schaltzentrum Gehirn, in der Abteilung, in der alles gesammelt und weiterverarbeitet wird, was wir sehen, hören, riechen, fühlen, wahrnehmen. Ein besonders wichtiger Mitarbeiter ist Hippo Hippocampus, unser persönlicher Geschichtsschreiber. Er steht in seinem Büro, einer großen Bibliothek, und ist ununterbrochen beschäftigt, Informationen zu sortieren, entsprechend einzuordnen und aufzuzeichnen. In seinem Büro gibt es viele verschiedene Bücher mit unterschiedlichen Titeln wie „Meine Familie“, „Nachbarn“, „Gemeinde“, „Gespräche mit Kollege X“ … Alle hereinkommenden Informationen werden den entsprechenden Büchern zugeordnet. Das bereits Bekannte wird ergänzt, das Neue ganz genau festgehalten. Für neue Daten werden neue Bücher angelegt. Dies ist Hippos Lebensaufgabe, die er mit Leidenschaft und Hingabe erfüllt. Bei dieser wichtigen und umfassenden Arbeit wird Hippo von seiner Sekretärin unterstützt. Ihr Name ist Amy Amygdala. Sie sitzt im Vorzimmer zu Hippos Büro.
Amy Amygdala, Hippos Sekretärin
Alle ankommenden Informationen landen zuerst bei ihr. Aus dem Vorzimmer leitet Amy die Informationen über diverse Telefonleitungen an Hippo weiter. Amy ist eine sehr emotionale Person, was man recht deutlich an ihren unterschiedlichen Reaktionen erkennen kann: In der Familie wird ein Baby geboren. Welch wunderschönes Ereignis! Amy ist total begeistert, strahlt vor Freude und jubelt. Dann kommen die Daten über den täglichen Hundespaziergang der Nachbarin. Diese trägt heute zwar eine rote statt der üblichen grünen Jacke – aber wen interessiert das schon, jeden Tag das Gleiche! Amy gähnt vor Langeweile. Hippo kann Amys Reaktionen durch ein Fenster beobachten und somit sofort erkennen, wie wichtig oder belanglos die ankommenden Informationen sind.
Hippo beobachtet Amys Reaktionen
Wirkt Amy interessiert, schreibt Hippo ganz emsig. Reagiert Amy jedoch wenig, wird auch nur wenig aufgezeichnet. Bei großer Aufregung im Vorzimmer weiß Hippo: Diese Sache verdient höchste Aufmerksamkeit! So wird der Sturz beim Fahrradfahren in allen Details festgehalten und kann später ganz ausführlich wiedererzählt werden. Amy, die eifrige Sekretärin, ist allerdings nur bis zu einem gewissen Grad belastbar. Verursacht ein Geschehen extremen Stress, wie z. B. ein traumatisches Ereignis, ist Amy völlig überwältigt und kann nicht mehr reagieren. Die Telefonverbindungen brechen zusammen, eine Weiterleitung der Informationen ist nicht mehr möglich. Alle Informationen bleiben auf fliegenden Blättern, unsortiert, auf Amys Schreibtisch liegen. Nichts kommt bei Hippo an, der somit die traumatischen Geschehnisse nicht einsortieren kann. Sie können nicht in den entsprechenden Geschichtsbüchern aufgezeichnet werden. In der erinnerbaren Lebensgeschichte sind an diesen Stellen Lücken und große Fragezeichen. Hippo ist darüber sehr unglücklich, kann es aber nicht ändern. Die betroffene Person kann die Erinnerungen an die traumatischen Ereignisse nicht einfach abrufen, sie sind in Amys Vorzimmer stecken geblieben als großes Durcheinander, auf lauter einzelnen Zetteln, völlig unsortiert.
Chaos. Amy dreht durch, Hippo kann nichts mehr einordnen
Diese Frage wird häufig von den Betroffenen selbst gestellt, manchmal von Angehörigen, Seelsorgern, Beratern und Therapeuten. Genährt werden Zweifel auch aufgrund der Meldungen der „False Memory“-Bewegung, die Missbrauchserinnerungen anzweifelt. Ihre Anhänger betonen, wie fehlbar das Gedächtnis sei, und vermuten, dass bei vielen „angeblichen“ Missbrauchsopfern die sogenannten Erinnerungen erst durch Einfluss und vielleicht sogar Manipulation der Berater und Therapeuten entstanden seien. Der erinnerte Wahrheitsgehalt wird somit vehement bestritten.
Ulrike: „Ich habe immer schon geahnt, dass in meiner Herkunftsfamilie etwas geheim gehalten wurde, was keiner wissen durfte. Als Zwölfjährige habe ich bei einem Jugendamtstermin die Worte ‚Abtreibung‘ und ‚Inzest‘ aufgeschnappt, wusste aber nicht viel damit anzufangen. Meine Herkunftsfamilie hatte ich nicht kennengelernt, nur einzelne Geschwister, die ebenfalls nur wenige erinnerbare Informationen hatten. Jahre später kamen diese Worte ganz plötzlich wieder in mein Bewusstsein. Ich dachte: ‚Ich bin verrückt und bilde mir das alles ja nur ein. Es stimmt sicherlich nicht!‘ Wieder vergingen Jahre, da sah und erlebte ich während eines Seelsorgegespräches, wie man mich im Mutterleib abtreiben wollte. Irgendwie war mir plötzlich deutlich, dass ich ein ‚Bastard‘ bin, nicht von meinem Vater gezeugt war. Wieder dachte ich: ‚Ulrike, du bildest dir das alles nur ein. Das kann nicht sein.‘ Aber meine Gefühle waren so echt – ich hatte wirklich massive Todesangst. Meine Eltern, die ich inzwischen kennengelernt hatte, konnte ich dazu nicht befragen. Auffällig empfand ich, dass sie mich wiederholt fragten, ob ich mit ihnen versöhnt sei. Erst nach dem Tod meiner Mutter hat sich herausgestellt, dass alle meine Eindrücke und Erinnerungen wahr sind, auch der Inzest, der bis dahin Familiengeheimnis gewesen war.
Im Rückblick war die Zeit, als die Erinnerungen hochkamen, für mich sehr schwer. Ich wusste nicht, ob ich solche Dinge glauben sollte oder nicht. Wie sollte ich über so etwas mit einem anderen Menschen sprechen? Ich hatte Angst, als jemand abgestempelt zu werden, der zu viel Fantasie hat, oder komisch distanziert angeschaut zu werden. Manchmal reagieren die anderen auch gar nicht. Innerlich hatte ich großes Leid mit diesen Erinnerungen und suchte jemanden, der mir glaubt und hilft, mit dem Schrecklichen fertig zu werden.“
Wie sollen die Betroffenen sicher sein, dass die beängstigenden Erinnerungen sich genau so abgespielt haben? Eindeutige Beweise sind in den seltensten Fällen zu finden.
Eine Hilfe ist, sich die Unterschiede des narrativen und des traumatischen Gedächtnisses vor Augen zu führen:
Narrative Erinnerungen sind direkt aus dem Gedächtnis abrufbar und betreffen die Ereignisse, an die wir uns bewusst erinnern. Wir können erzählen, was und wie etwas vorgefallen ist. Sie sind durch Gespräche mit anderen Menschen, durch Bilder oder Filme, die wir sehen, beeinflussbar und somit veränderbar.18
Traumatische Erinnerungen dagegen sind nicht direkt abrufbar. Aufgrund des damaligen Stresses konnten sie nicht in einen größeren Zusammenhang gebracht werden. Sie blieben fragmentiert, wurden als Teilstücke, bestehend aus starken Gefühlszuständen, zusammen mit körperlichen Reaktionen und Bildern im Traumagedächtnis gespeichert (erinnern wir uns an die „losen Zettel in Amys Büro“). Von dort gibt es keine Verbindung zu den Teilen des Gehirns, in denen Verarbeitung und Verknüpfung von Informationen stattfindet. Dies ist auch der Grund, weshalb diese Traumabruchstücke über Jahre wie vergessen sein können und das, was hochkommt, sich anfühlt, als wäre es hier und jetzt. Solange sich Erinnerungen im Traumagedächtnis befinden, sind sie nicht veränderbar. Inhalte, die direkt aus dem traumatischen Gedächtnis kommen, spiegeln direkt das Erlebte wider. Auffallend ist, dass das erste Erzählen oft sehr stockend und stotternd geschieht. „Da der Hippocampus auch mit dem Thalamus, den beiden Großhirnrinden und dem Sprachzentrum verknüpft ist, zieht ein Trauma leicht die Unfähigkeit zum sprachlichen Ausdruck des Geschehens nach sich, es verschlägt einem sprichwörtlich die Sprache. Man macht eine Erfahrung, die unsagbar ist.“19
Nachdem wir Dissoziation als Überlebensmechanismus aus verschiedenen Richtungen betrachtet haben, geht es nun darum, zu verstehen, wie Dissoziation sich im Leben zeigt und auswirkt.
Dissoziation als Bewältigungsmechanismus
Die Dissoziation beginnt mit einem ersten schwerwiegenden Trauma. Schließen sich später „unerträgliche“ Geschehnisse an, kommt es zu weiteren Abspaltungen. Vor allem Betroffene mit frühen Bindungstraumata haben nicht gelernt, ihre Gefühle zu regulieren und sich selbst wieder zu beruhigen. Die einzige ihnen bekannte Möglichkeit, sich zu schützen und mit schwierigen Situationen umzugehen, ist Dissoziation.20
Anna: „Wenn der Schmerz unerträglich ist und niemand hilft dir, kann man nur fliehen. Weglaufen konnte ich nicht, also bin ich innerlich weggegangen, immer weiter weg, bis ich nichts mehr fühlte. Der Schmerz verschwand und ein Teil von mir auch. Es war ein Schutz für mich, um nicht daran zu zerbrechen. Nichts mehr zu spüren, gab mir das Gefühl, noch die Kontrolle über mein Leben zu haben. Niemand sollte meine Hilflosigkeit sehen! Später war ich stolz darauf, keinen Schmerz mehr zu spüren. Ich hatte meinen eigenen Schmerz getötet, um am Leben zu bleiben. Eine andere Möglichkeit sah ich nicht, denn ich war allein und völlig überfordert.“
JE FRÜHER, HÄUFIGER UND SCHLIMMER EINE PERSON TRAUMATISIERT IST, DESTO DISSOZIATIVER, ALSO ZERBROCHENER IST SIE, WEIL SIE DIESEN BEWÄLTIGUNGSMECHANISMUS STÄNDIG GEBRAUCHT HAT.
Auch viele Jahre nach den traumatischen Erlebnissen spielt Dissoziation im Lebensalltag eine, wenn auch meist unbewusste, Rolle. Wenn man sich überfordert fühlt, wenn es zu viel wird, steigt man einfach aus.
Je früher, häufiger und schlimmer eine Person traumatisiert ist, desto dissoziativer, also zerbrochener ist sie, weil sie diesen Bewältigungsmechanismus ständig gebraucht hat. Auf diese Weise können in einer Person viele verschiedene Persönlichkeitsanteile entstanden sein.
Das kleine Mädchen, das auf die Füße geschlagen wird
Lisas gesamte Kindheit ist durch verschiedenste Formen von Missbrauch geprägt. Das Bild zeigt das kleine Mädchen (EP), das vom Vater mit einem Stock auf die Füße geschlagen wird. Diese Kleine kam immer nach außen, wenn sich dieser körperliche Missbrauch ereignete. Sie hat für Lisa dieses Trauma getragen. Wenn alles vorbei war, erschien wieder Lisa, die Alltagsperson (ANP).
Kam der Vater abends betrunken nach Hause, hatte die ganze Familie Angst vor ihm und seinem Geschrei. Er bedrohte alle. Die Situation wurde für Lisa zu gefährlich. Diesmal entstand ein starker Mann (EP). Der starke Mann kam auch in späteren Jahren immer dann nach vorne, wenn Lisa erlebte, dass sie sich wehren musste.
In den therapeutischen Gesprächen zeigte sich, dass Lisa große Angst vor diesem inneren starken und wütenden Teil in sich selbst hatte. Um der Gefahr vorzubeugen, dass er in seiner Wut außer Kontrolle geraten könnte, war er bereits vor Jahren in ihrer Innenwelt angekettet worden.
Der starke Mann in Ketten
Bei der Aufspaltung bedient sich das Kind der Erfahrungen und Vorstellungen seiner Kinderwelt. Wahrscheinlich war Lisa der Überzeugung, dass ein starker Mann nicht so hilflos wäre, sich vielleicht sogar wehren könnte. Auf diese Weise können im Inneren auch gegengeschlechtliche Anteile entstehen.
Im weiteren Verlauf unserer Therapiegespräche haben wir einiges über diesen starken Mann erfahren: warum er da ist, welche Aufgabe er hat und wie es ihm wirklich geht. Das nächste Bild zeigt, wie Jesus diesem Starken begegnet. Jesus hat keine Angst vor ihm, er weiß, dass dieser starke Mann gar nicht gefährlich, sondern sehr, sehr verletzt ist.
Die Dissoziation hat eine Eigendynamik entwickelt. Viele Persönlichkeitsanteile sind entstanden, die verschiedene Aufgaben haben.
In der einen Person gibt es:
die vernünftige Alltagsperson, die einen Beruf ausübt, im Verein Sport macht, der keine Arbeit zu viel ist,
das kleine Mädchen, das so gerne mit seinen Puppen spielt,
eine Mutige, die dafür da ist, in der Schule bei Referaten vorne zu stehen und heute bei der Arbeit als Lehrerin gute Dienste leistet,
das traurige innere Kind, das nur weint und weint und weint,
einen inneren Teenager, der überzeugt ist: „Ich habe das Recht, mir selbst zu holen, was ich brauche!“, und dies auch in die Tat umsetzt, egal wo er sich befindet,
den Rebell: der sich garantiert nichts gefallen lässt, immer kampfbereit ist,
und vielleicht noch mehr …
Ganz verschiedene Anteile sind entstanden: EPs, die sich als Opfer sehen und verhalten, aber auch EPs, die nach außen aggressiv und selbstverteidigend sind oder aggressiv gegen sich selbst agieren. Diese eher aggressiven EPs werden Täteranteile genannt.
Wieso entsteht ein Täteranteil?
Im menschlichen Gehirn befinden sich sogenannte Spiegelneurone. Aufgabe dieser Nervenzellen ist, das zu imitieren, was außen wahrgenommen wird. Beobachten Sie einmal eine Mutter, die sich intensiv mit ihrem Baby beschäftigt. Sie spricht mit ihm und lächelt es an. Auch das Baby lächelt. Streckt die Mutter spielerisch die Zunge heraus, macht das Baby dies nach. Dieser biologische Mechanismus ist für das Lernen notwendig und wichtig. Auch bei der Entstehung der Empathie, der Fähigkeit, sich in den anderen hineinzuversetzen, sind die Spiegelneurone beteiligt.
Spiegelneurone sind aber nicht nur in diesen positiven Situationen aktiv, sondern auch während der traumatischen Erlebnisse. Auch hier wird das kopiert, was außen wahrgenommen wird. Auf diese Art und Weise werden Denk- und Handlungsmuster des Täters übernommen und entwickeln im Inneren eine Eigendynamik. Bei ausgeprägter Dissoziation werden sie zu Persönlichkeitsanteilen. Diese EPs ähneln dem Täter, indem sie dessen Gedanken, Worte und Taten wiederholen. Sie vertreten die gleichen üblen Ansichten, verbreiten Angst und Schrecken, diesmal allerdings nicht von außen, sondern von innen.
Ulrike: „Früher hatte ich durch meine Pflegemutter viel Entwertung, Unbarmherzigkeit, Druck, emotionalen Missbrauch und auch körperliche Gewalt erlebt. Ihre Worte: ‚Du darfst nicht groß werden! Nur ich weiß, was gut für dich ist! Du darfst dich nicht zeigen! Du bist eine Schande! Aus dir wird nie etwas!‘, waren jahrelang immer wieder in mir laut geworden, zugleich erlebte ich in diesen Momenten unbarmherzigen Druck. Oft überfiel mich meine frühere Angst.
Während der Therapie entdeckte ich, warum diese Sätze immer noch so eine große Rolle spielten. In meinem Innenleben gab es ein Kellergewölbe. Darin existierten drei innere Anteile, die bei der näheren Betrachtung wie meine Pflegeeltern und ich selbst als ängstliches Kind wirkten. In mir gab es doch tatsächlich eine innere Pflegemutter, die weiterhin für die Unterdrückung und die beschämenden Worte sorgte!“
TÄTERANTEILE SIND PERSÖNLICHKEITSANTEILE, DIE ÄHNLICH WIE DER ODER DIE TÄTER AGIEREN UND SICH DABEI GEGEN DAS OPFER SELBST ODER GEGEN ANDERE RICHTEN.
Täteranteile sind also Persönlichkeitsanteile, die ähnlich wie der oder die Täter agieren und sich dabei gegen das Opfer selbst oder gegen andere Personen richten.
Wie entdeckt man Täteranteile?
Meist werden Täteranteile aufgrund der negativen und aggressiven Gedanken, Worte oder auch Handlungen offenbar, die ein Betroffener berichtet, im Gespräch formuliert oder die in der Begegnung deutlich werden. Vor allem bei Frauen sind Täteranteile oft Auslöser für Selbstverletzungen und -bestrafungen. Bei Männern kommt es häufig zur Aggression gegen andere.
Ein Beispiel aus der Praxis: Ich unterhalte mich gerade mit Bernd (ANP) über die Erinnerungen an seine Mutter. Es geht um die Frage, ob das Kind damals bei der Mutter Schutz finden konnte, ob die Mutter dem Kind zugehört und ihm geglaubt hat. Für Bernd ein schwieriges Thema, es macht ihm Angst. Er spricht sehr zögerlich und vorsichtig. Er spürt, wie dieses Gespräch ihm zunehmend unangenehmer wird. Plötzlich kommt es zum Wechsel. Bernd verändert seine Körperhaltung, setzt sich aufrecht hin, strafft die Schultern. Sein Gesicht wirkt zornig, der Blick ist scharf und angriffslustig, die Stimme laut und aggressiv. Die Angst ist von einem Moment zum anderen verschwunden. Klar und bestimmt formuliert er, dass über dieses Thema nicht weiter gesprochen werden darf.
Täteranteile treten vehement auf, wirken typischerweise stark in ihrer Argumentation, sind oft wütend und aggressiv und können durchaus Angst einflößen. Der Betroffene selbst hat in diesem Zustand typischerweise keine Angst!
Jeder Persönlichkeitsanteil hat eine Aufgabe
Wichtig für unser Verständnis und die weitere Arbeit mit Betroffenen ist, dass in der inneren Welt jeder Persönlichkeitsanteil eine ganz bestimmte Aufgabe erfüllt.
Betrachten wir noch einmal das Beispiel von Bernd. Der Täteranteil versuchte, das Gespräch über die Mutter zu beenden. Wenn so etwas geschieht, gibt es dafür einen Grund. Im weiteren Gespräch entdeckten wir, dass die Mutter in Bernds Familie noch die einzig „Gute“ war. Die Erkenntnis, dass auch sie nicht geholfen und Bernd eben nicht geschützt hatte, war momentan noch undenkbar. Die Aufgabe dieses Täteranteils war, jedes Vorliegen einer Schuld der Mutter zu verneinen. Auf diese Weise sollte er vor dem als unerträglich eingestuften Schmerz schützen.
Andere Aufgaben von Anteilen können sein: den Alltag zu meistern, verschiedene schlimme Situationen, die mit den Erinnerungen und den Gefühlen verbunden sind, zu tragen, aufzupassen, dass niemand zu nahe kommt, sich zu verstecken, das Erinnern zu verhindern, sich zu verteidigen … Im Endeffekt dreht sich alles um Schützen und Überleben. Das muss jederzeit gewährleistet sein! Alles was hilfreich scheint, wird genutzt. Auch heute haben wir in den oft unverständlichen Handlungsweisen der Anteile dieses Anliegen zu würdigen.
ALLE PERSÖNLICHKEITSANTEILE HABEN EINE AUFGABE.
MEIST GEHT ES UM THEMEN WIE SCHÜTZEN, VERTEIDIGEN, ÜBERLEBEN. DIES GILT AUCH FÜR TÄTERANTEILE!
Menschen, die dissoziieren, erleben in ihrem Inneren eine weitere Welt. Oft finden innere Gespräche und Diskussionen statt, verschiedene gegensätzliche Meinungen sind gleichzeitig vorhanden.
„Es ist gut, sich jemandem anzuvertrauen! – Nein, ist es nicht! – Gefährlich! – Doch, ich möchte endlich mit all dem nicht mehr allein sein! – Dir glaubt sowieso keiner! – Lieber verstecken und allein sein! – Ihr kann man vertrauen! – Niemandem kann man vertrauen! – Viel zu gefährlich! –Doch, ich glaub, ich versuch’s trotzdem! …“
Luise: „Ich konnte schon immer, seit ich denken kann, innere Dialoge, Drohungen oder Warnungen hören. Innere Stimmen waren für mich normal und vertraut. Ich dachte, das haben alle Menschen. Ich konnte oder musste zuhören, wenn sich zwei oder auch mehrere in mir unterhielten. Manchmal verbündeten sich mehrere gegen mich. Manchmal übte innerlich einer Druck gegen die anderen aus und dann gab es einen, der mir Geschichten erzählt hat.“
Viele verschiedene Aspekte und Widersprüchlichkeiten müssen beachtet werden, Entscheidungen zu treffen ist schwierig, da es so unterschiedliche Meinungen gibt. Über diese innere Welt, in der es manchmal richtig laut zugeht, reden die Betroffenen nicht. Sie haben sich daran gewöhnt oder befürchten, ihr Gegenüber würde sie für verrückt erklären und sie könnten in der geschlossenen Psychiatrie landen. Nach außen wirken Betroffene in ihren Ansichten und Reaktionen häufig schwer einschätzbar. Mal sind sie ganz kindlich und anhänglich, mal misstrauisch beobachtend, mal stark und unabhängig, dann wieder aggressiv und voller Verachtung.
Häufig entdeckt man bei handschriftlichen Notizen unterschiedliche Schriftbilder, die jeweils für einen bestimmten Persönlichkeitsanteil typisch sind: rund und kindlich, geübt und flüssig, groß und schwungvoll.
Ein Tagebuch, unterschiedliche Handschriften
Die Dissoziative Identitätsstörung
Am stärksten ausgeprägt ist die Dissoziation bei der Dissoziativen Identitätsstörung. Dabei bestimmen unterschiedliche Persönlichkeitsanteile wechselweise das äußere Verhalten. Die Betroffenen erleben von einem Moment auf den anderen massive Stimmungswechsel bis hin zu Zuständen, in denen sie wie gelähmt und zu nichts mehr fähig sind. Ihre Identität ist in viele Teile zerbrochen.
Das Wechseln von einem Persönlichkeitsteil in einen anderen nennt man Switch. Es erfolgt durch innere und äußere Trigger, oft Situationen, die als bedrohlich erlebt werden oder an gefährliche Situationen erinnern. Bei einem Switch können manchmal deutlich, manchmal weniger deutlich, Veränderungen des Gesichtsausdrucks, der Körperhaltung und Gestik, des Tonfalls oder der Sprache beobachtet werden.
Im Buch „Einführung in die Dissoziative Identitätsstörung“ beschreibt der Text eines neunjährigen Persönlichkeitsanteils sehr anschaulich, wie man sich das innere Durcheinander vorstellen kann. Morgens, wenn der Tag beginnt:
Stell dir ein großes Haus mit zwei kleinen Fenstern vor, wo man durchsehen kann, und eine Tür, wo nur einer, ob groß oder klein, durchpasst. Das Haus ist unser Körper. In dem Haus leben etwa 30 Menschen. Nun mach doch mal deine Augen zu und stell dir das Haus vor, wenn der Tag beginnt: das große Gedränge an den Fenstern, der Kampf an der Tür. Wer es schafft, durchzukommen, hat Glück und kann die Zeit bestimmen. Sagen wir mal, ich bin das, dann kann ich die Klamotten aussuchen. Dabei muss man die Ohren zuklappen, sonst platzt einem der Kopf. Viele schreien und meckern, alle wollen was anderes, besonders die Großen. Die Sachen müssen heile, sauber und warm sein oder so … Ohren zu, und dann habe ich mich angezogen. Da klopft schon ein anderer: Eine Große macht Druck, weil sie einen Termin hat. ‚Mach schnell‘, hallt es im Kopf, ‚ich muss los!‘ – ‚Nein!‘ – ‚Doch!‘ – Mir wird schwindelig. Kein Schreien, kein Strampeln hilft, ich schlafe wieder ein. Das Haus ist fast immer wach, nur immer wieder andere gucken aus dem Fenster und/oder kommen aus der Tür. Man ist nie alleine, man hat nie seine Ruhe. Und doch bin ich alleine. So richtig reden geht nur selten, da zwischen fast jeder Persönlichkeit eine unüberwindbare Mauer steht, und die ist viel zu hoch und zu durcheinander.21