Lebensbegleitung
im Alltag

(Ulrike Willmeroth)

Der ganz normale Alltagswahnsinn • Gesundheit

• Arbeit und individuelle Belastbarkeitsgrenze

• Betreuung, betreutes Wohnen • Hilfsorganisationen

und weiterführende Hilfsangebote •

Opferentschädigungsgesetz • Schlusswort

Wir Wegbegleiter brauchen ein Verständnis für die besonderen Lebensherausforderungen und Schwierigkeiten traumatisierter Menschen. In der Begleitung einzelner Betroffener habe ich Erfahrungen und Informationen zu Unterstützungsmöglichkeiten, Hilfsorganisationen, informative Internetseiten und hilfreiche Literatur gesammelt, die ich in diesem Kapitel weitergeben möchte.

Wie bereits in den letzten Kapiteln beschrieben wurde, haben chronisch traumatisierte Menschen in ihrer Kindheit und manchmal auch im weiteren Verlauf ihres Lebens manches Leid ertragen müssen. Längst nicht jedem Betroffenen sieht man das durchlebte Trauma auf den ersten Blick an. Manche Betroffene, deren Trauma nicht so schwerwiegend war, die hohe Resilienz aufweisen oder unterstützende Menschen an ihrer Seite hatten, sind sogar sehr patent. Sie sind häufig eigenständig, selbstbewusst, engagiert, können sogar Führungspositionen ausüben. Sie wirken nach außen, als ob sie keine Hilfe bräuchten; blickt man jedoch hinter die Kulissen, sind viele Bereiche ihres Lebens ungeordnet, bereiten ihnen Mühe oder liegen brach. Betroffene Christen wünschen sich, in ihre von Gott gegebene Bestimmung zu kommen, und fragen sich: Laufe ich Gefahr, mein von Gott gegebenes Talent zu vergraben? Eigentlich könnte ich mehr, aber …

Andere Betroffene kämpfen sich regelrecht durchs Leben, befinden sich am Existenzminimum, sind eventuell allein, krank und überfordert. Sie brauchen Hilfe bei der Bewältigung ihres Lebens. Ihnen gilt der Schwerpunkt dieses Kapitels.

Der ganz normale Alltagswahnsinn

Ganz alltägliche Begebenheiten und Herausforderungen können manche Betroffene völlig aus der Bahn werfen: der Gang zum Supermarkt, zur Post, zur Bank …, der männliche Kassierer, die Postbeamten und Bankmitarbeiter, das erdrückende Anstehen in Warteschlangen, eine Menschenmenge, das Ausfüllen von Formularen … Allein der Gedanke an das Nutzen öffentlicher Verkehrsmittel, das Mitfahren im fremden Auto, das Betreten eines Aufzuges und vieles andere mehr kann Panikgefühle auslösen. Angst vor geschlossenen Räumen, vor Enge, dem Gefühl des „Ausgeliefertseins“ schnürt regelrecht die Kehle zu und nimmt die Luft zum Atmen. Selbst der sonntägliche Gottesdienstbesuch ist eine Herausforderung oder sogar Überforderung: „Neben wem werde ich sitzen? Sind auch die mir vertrauten Leute da?“ Händeschütteln oder die geschwisterliche Umarmung bei der Begrüßung sind für manche aufgrund der körperlichen Nähe kaum auszuhalten. Vielfach reden Betroffene nicht über ihre Ängste und Probleme, sondern versuchen die Situationen tapfer durchzustehen oder zu vermeiden. Unterstützen wir diese Betroffenen in den verschiedenen Lebensbereichen, begleiten und coachen wir sie, können sie neue Stabilität, Ressourcen und Kompetenzen entwickeln.

Angst vor Autoritäten

Da häufig Angst vor Autoritäten besteht, führen anstehende Behördengänge, Gerichtstermine, Arztbesuche, Gespräche mit Vorgesetzten oder Mitarbeitern, mit Lehrern, selbst Unterredungen mit Verantwortlichen von Hilfseinrichtungen oder der Gemeinde manchmal zu großer innerer Not.

Rita: „Ich muss wieder zur Arbeitsagentur und dort die vielen Antragsformulare ausfüllen. Allein der Gedanke daran lässt mich kaum noch schlafen.“

Als Hartz-IV-Empfängerin muss Rita fristgemäß Anträge stellen, was sie sehr unter Druck setzt. Sie hat große Angst, etwas falsch zu machen, abgelehnt oder beschämt zu werden. Formulare und Bescheide sind für sie aufgrund der darin enthaltenen Amtssprache schwer verständlich. Oft fehlen ihr vor Ort die Worte, sie hat vor Stress vergessen, was sie fragen oder sagen wollte.

Luise: „Immer, wenn ich in das Büro des Sachbearbeiters trete, wird mir schlecht. Ich kann mich dann nicht mehr konzentrieren. Alles geht durcheinander. Ach, ich muss ganz dringend daran denken, dass ich mir den Besuch abstempeln lasse. Wenn ich das vergesse, dann kann es mir wieder passieren, dass plötzlich weniger Geld gezahlt wird oder ich ein Schreiben bekomme, dass ich nicht rechtzeitig vorstellig geworden bin …“

Betroffene fühlen sich bei behördlichen Angelegenheiten häufig von der Fülle der Vorschriften, Gesetze und Richtlinien überfordert. Außerdem haben sie manchmal aufgrund von Konzentrationsproblemen oder Dissoziation keinen Zugriff auf Informationen, die sie eigentlich wissen müssten oder von den Zuständigen bereits erhalten haben. Dies führt schnell zu Unverständnis oder Missverständnissen. Für Betroffene wäre es wichtig, ein Gegenüber anzutreffen, das ihnen Zusammenhänge und wichtige Schritte langsam, mit einfachen Worten und nötigenfalls wiederholt erklärt. Dafür haben viele Mitarbeiter weder Zeit, noch wissen sie um die innere Not traumatisierter Menschen. Begleiter können Betroffene darin unterstützen, genau und achtsam mit Bescheiden umzugehen, erklären, welche Informationen enthalten sind und wie man darauf reagieren kann. Betroffene lernen dadurch, wie sie in Zukunft selbst nachlesen, formulieren und argumentieren können. Nicht jeder Bescheid ist richtig – auch Sachbearbeiter machen Fehler. So ist das Prüfen der Sachverhalte notwendig, auch hier können Wegbegleiter Hilfestellung geben. Bei Telefonaten mit Ämtern lernen Betroffene Zeitpunkt, Name des Gesprächspartners, Thema und Ergebnis aufzuschreiben, um später darauf zurückgreifen zu können.

Immer wieder werden bei Anträgen oder Bewerbungen, in Formularen oder offiziellen Gesprächen die heutige Lebenssituation und die wichtigsten Daten der Vergangenheit erfragt. Dies bedeutet für manche Betroffene erneut eine schwierige Situation. Sie können von den Themen getriggert werden, außerdem schämen sie sich meist zutiefst für ihre Situation oder manche Stationen ihres Lebens. Betroffene werden nervös und kommen durcheinander. Sogar Wechsel können stattfinden, dann kommen oft Wut und Aggression oder Angst und Unterwürfigkeit zum Vorschein. Eine Person, die die Hintergründe nicht kennt, kann diese Reaktionen schwer einordnen, ist irritiert und reagiert vielleicht verärgert.

Doch es gibt auch positive Erlebnisse mit Mitarbeitern von Ämtern. Eines will ich hier exemplarisch als Beispiel nennen.

Heike: „Ich hatte einen Termin zur Begutachtung und Überprüfung, ob ich noch für den Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen kann. Ich hatte so schreckliche Angst, dachte darüber nach, wie man wohl mit mir umgehen würde und was letztlich herauskommen könnte. Ich bat meine Schwester mich zu begleiten, das gab mir Schutz und Sicherheit. Als die Ärztin mich ins Untersuchungszimmer rief, nahm ich angespannt ihr gegenüber Platz. Sie lächelte mich an und sagte, dass ich ja schon viel Schlimmes in meinem Leben hinter mich gebracht hätte. Das tat mir sehr gut und ich entspannte mich. Sie stellte mir ein paar Fragen, die ich zu meiner Überraschung in ihrer Gegenwart ganz leicht beantworten konnte. Dann sah sie mich an: ‚Nun werde ich Ihnen helfen, dass Sie zur Ruhe kommen können. Mein Gutachten ist entscheidend. Ich werde bescheinigen, dass Sie für eine berufliche Tätigkeit nicht mehr zur Verfügung stehen können. Ich wünsche Ihnen alles Gute, Frau … Vielleicht finden Sie eine ehrenamtliche Aufgabe, in der Sie sich innerhalb Ihrer Möglichkeiten entfalten können. Sie haben meine Hochachtung.‘ Ich war sehr berührt von dieser Begegnung.“

Finanzen und Wohnung

Auf Hartz IV1, Sozialhilfe oder Erwerbsminderungsrente angewiesen zu sein, zieht oft große finanzielle Nöte und Leben am Existenzminimum nach sich. Therapien, Rezepte, Heilbehandlungen kosten viel Geld. Da wird eine Tasse Kaffee in der Bäckerei, eine schöne CD oder ein neuer Pullover zum puren Luxus. Es ist gut, wenn wir Wegbegleiter um diese Nöte Bescheid wissen, die über Betroffene hereinbrechen können.

Ute wohnt seit vielen Jahren in einer 55 qm großen Wohnung. Inzwischen ist ihr Sohn ausgezogen. Sie lebt von Sozialhilfe. Eines Tages bekommt sie einen Brief, in dem sie aufgefordert wird, sich umgehend eine kleinere Wohnung zu suchen. Alleinstehenden stehen maximal 45 qm Wohnfläche zu. Ute hat weder Geld für einen Umzug noch die Kraft und Gesundheit, sich darum zu kümmern.

Kosten für die zusätzlichen Quadratmeter werden manchmal von den Bezügen abgezogen, was ein weiteres Loch in das sowieso kleine Finanzbudget reißt. Beihilfen für Heizung und Strom müssen extra beantragt werden. Dabei ist zu beachten, dass nur Pauschalen gezahlt werden, die tatsächlichen Kosten müssen von der Person selbst getragen werden. Arbeitslose können auf Antrag von der GEZ-Gebühr befreit werden, dazu benötigen sie eine Bescheinigung der Arbeitsagentur. Solche hilfreichen Informationen sind den betroffenen Personen oft nicht zugänglich.

Schulden

Einzelne Betroffene geraten in die Schuldenfalle. Schulden haben verschiedene Ursachen, diese sollen hier nicht Thema sein.

Wiebke gerät in eine finanzielle Notlage. Sie kann ihre laufenden Kosten für Miete, Strom, Telefon…… nicht mehr zahlen. Wiebke: „Ich schämte mich so sehr. Dann dachte ich, dass es besser sei, einfach die Post nicht mehr zu öffnen. Nun habe ich den Gerichtsvollzieher am Hals und mein Konto ist gesperrt. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll.“

Die Scham über die eigene Unfähigkeit lässt Betroffene gelegentlich falsche Schritte gehen. Die Post nicht mehr zu öffnen, ist nicht die Lösung. Wiebke braucht in jedem Fall eine Schuldnerberatung.

Schuldnerberatungsstellen bieten überschuldeten Personen und Familien Beratung und Unterstützung bei der Lösung ihrer finanziellen und persönlichen Probleme an. Jeder private Haushalt, der hilfebedürftig ist oder dem der soziale Abstieg droht, kann die kostenlosen Leistungen der Schuldnerberatung in Anspruch nehmen. Anbieter sind der Deutsche Caritasverband, das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland, das Deutsche Rote Kreuz, der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband, die Arbeiterwohlfahrt oder Verbraucherberatungsstellen sowie die Sozialämter in Gemeinden, Städten und Landkreisen.2 Wir Wegbegleiter sollten die Betroffenen beruhigen und ihnen aufzeigen, welche Möglichkeiten ihnen zur Verfügung stehen. Sie sollen erleben, dass sie in dieser Not nicht im Stich gelassen und beschämt werden, sondern ihnen geholfen wird und sie wieder Perspektiven bekommen.

Mut aufbauen

Zur Vorbereitung anstehender Gesprächstermine können sie gemeinsam mit dem Wegbegleiter folgende Fragen klären: Was soll besprochen werden; was befürchten sie; welche Schritte sind wichtig; welche Voraussetzungen sind gegeben; was ist mitzubringen; was muss noch zuvor besorgt werden usw. Anschließend werden Listen erstellt, damit die Betroffenen die erarbeiteten Punkte nachlesen können, z. B.: Was muss angesprochen werden, welche Unterlagen sind mitzunehmen? Dies bewirkt Sicherheit, stützt und entlastet.

Die bevorstehende Gesprächssituation kann auch im Rollenspiel eingeübt werden, so können sich die Betroffenen gefühlsmäßig auf das Gespräch vorbereiten und lernen, sich und ihre Anliegen zu vertreten. Unmittelbar vor dem Termin unterstützt sie ein Telefonat mit einem kurzen Gebet, danach können sie berichten, wie es für sie verlaufen ist und wie sie sich dabei gefühlt haben. So machen sie die Erfahrung, in diesen Herausforderungen nicht allein zu sein. Jede gemeisterte Situation ist ein Sieg. Betroffene benötigen diese Erfolgserlebnisse, denen wir besondere Wertigkeit verleihen können.

Birgit hat eine schwierige Gesprächssituation ganz alleine gemeistert. Wir hatten alles in Ruhe vorbereitet. Heute ist sie zum Gespräch bei mir und berichtet noch einmal von ihren Erlebnissen. Ich vermittle ihr, wie stolz ich auf sie bin und dass ich gewusst habe, dass sie es ganz alleine schaffen wird. Das ist ein Grund zum Feiern. Mit Tee und Keksen zelebrieren wir ein kleines Fest.

Der Selbstwert der Person wird gestärkt und sie kann mit mehr Mut in die nächste Situation hineingehen. Schritt für Schritt lernt sie, für sich selbst einzustehen.

Ehe und Erziehung

Betroffene leben häufig in angespannten Beziehungen, die Ehesituation und der Umgang mit den Kindern können für sie sehr herausfordernd sein. Noch schwieriger ist die Lebenssituation für Alleinerziehende. Nicht nur, dass sie in der Kindererziehung auf sich gestellt sind, manche haben außerdem finanzielle Nöte.

Wir können ihnen zusätzliche Hilfe vorschlagen, z. B. durch:

Bücher, Vorträge, Seminare

Seelsorgerliche Gespräche und Beratung

Paarberatung

Erziehungsberatung

Erziehungsbeistand über das Jugendamt

Gesundheit

Die im Kapitel „Folgestörungen“ genannten Beschwerden und Zeugnisse vermitteln einen Einblick in die vielfachen gesundheitlichen Probleme Betroffener. Sie müssen häufig zu Untersuchungen, erhalten verschiedenste Diagnosen, Gutachten werden erstellt, Therapien geplant und durchgeführt, Klinikaufenthalte empfohlen oder angeordnet.

Ein Gutachten über sich selbst zu lesen kann einen Menschen sehr verwirren. „Was steht da über mich geschrieben?“ Er fühlt sich schnell bewertet, traut sich jedoch nicht nachzufragen. Recherchen im Internet führen oft zu weiterer Verunsicherung: „Bin ich verrückt? Bin ich unheilbar krank? Wird es je mit mir aufwärts gehen?“ Mutlosigkeit oder aber Wut und Klage über die „Begutachter“ machen sich breit.

Wir Wegbegleiter können die Person ermutigen, ihre Ängste zu formulieren, nachzufragen und sich die Diagnosen erklären zu lassen. Das Angebot, sie zu begleiten, kann hilfreich und unterstützend sein, wobei darauf zu achten ist, dass die betroffene Person ihre Fragen selbst stellt und nicht wir für sie. Wir können anschließend in Ruhe mit ihr besprechen, was wir gehört haben. Sollten wir stellvertretend Gespräche mit Ärzten oder auch Behörden, Krankenkassen … führen, muss der Betroffene vorher beide Seiten von der Schweigepflicht entbinden, manchmal auch eine schriftliche Vollmacht ausstellen.

Getriggert

Besuche beim Arzt oder Therapeuten stellen für viele Traumatisierte eine große Bedrohung dar. Sie werden in diesem Rahmen mit vielfachen Triggern konfrontiert, die alte, mit den Traumata verbundene Gefühle reaktivieren können.

Maja: „Wenn ich einen Arzt aufsuchen muss, dann nur, wenn es gar nicht anders geht. Allein der Gedanke an die Zeit im Wartezimmer – nein, das geht kaum. Neben all den fremden Leuten Platz nehmen zu müssen, lässt mich am ganzen Körper unkontrolliert zittern.“

Herbert: „Ich bekomme jedes Mal Panikattacken, wenn ich zurückgelehnt, mit offenem Mund im Zahnarztstuhl sitzen muss. Ich habe Angst, die Kontrolle zu verlieren.“

Larissa: „Meine Ärztin ist wirklich eine sehr verständnisvolle Frau. Ich kenne sie schon ganz lange und habe Vertrauen zu ihr. Doch wenn sie mich an bestimmten Stellen untersucht, bekomme ich Weinkrämpfe. Ich ertrage dieses Ausgeliefertsein, die körperliche Nähe und das Anfassen kaum. Ich bin ihr sehr dankbar, dass sie mich nicht ausschimpft, sondern mir hilft, mich wieder zu beruhigen.“

Häufig können die vielfältigen Beschwerden nicht eingeordnet werden, Betroffene scheinen therapieresistent zu sein, immer wieder stoßen sie auf Unverständnis und Ungeduld. Manche unbedachte Äußerung fällt: „Stellen Sie sich nicht so an. Was Ihnen widerfahren ist, ist zwar schlimm, liegt aber doch schon Jahre zurück, und irgendwann muss es ja auch mal gut sein.“ Betroffene fühlen sich unverstanden und beschämt. Manche reagieren aggressiv, andere ziehen sich zurück, nehmen wie gewohnt die Schuld auf sich und fallen wieder in die ihnen schon bekannte Opferhaltung, erleben sich abgeschoben und falsch. Sie sind ja selbst verzweifelt über ihren gesundheitlichen Zustand und würden gerne wie die anderen ein normales Leben führen. Manche geben sogar die Hoffnung auf und entscheiden sich, lieber keine Hilfe mehr in Anspruch zu nehmen.

Unter Druck

Immer wieder werden Anträge auf Hilfsmittel (z. B. eine Haushaltshilfe, bestimmte Gebrauchsgegenstände oder medizinisch notwendige Mittel für den Alltag, Physiotherapie, Reha-Maßnahmen und manches mehr) zunächst einmal abgelehnt, was zusätzliche Belastung bedeutet. Widersprüche müssen innerhalb eines abgesteckten Zeitfensters eingelegt werden. Zudem sind Zuständigkeiten von Kostenträgern häufig unklar, Betroffene werden hin und her geschickt, von einer Stelle zur nächsten, und erhalten widersprüchliche Informationen. Das ist zermürbend und bringt sie unter großen Druck.

Da sie als Folge der traumatischen Erfahrungen bereits unter Dauerstress stehen, kann dieser zusätzliche Druck zu völliger Handlungsunfähigkeit führen.

Martina war drei Monate lang in einer psychiatrischen Klinik und macht seit fünf Monaten eine Traumatherapie. Sie ist zurzeit stabil und befindet sich gerade in der Phase der Traumakonfrontation. Nun hat sie Post von ihrer Krankenkasse erhalten. Da sie seit einiger Zeit arbeitsunfähig ist, bezieht sie Krankengeld. Im Schreiben wird sie mit Hinweis auf zwei Paragrafen aus dem Sozialgesetzbuch aufgefordert, innerhalb einer bestimmten Frist einen Reha-Antrag zu stellen, da ein Gutachten des Medizinischen Dienstes (der Martina aber nie angesehen oder befragt hat) besagt, dass ihre Fähigkeit zur Teilnahme am Berufsleben bedroht sei. Martina ist fassungslos, reagiert sofort körperlich. Ihr Blutdruck gerät außer Kontrolle, sodass sie sich zur Notfallambulanz ins Krankenhaus fahren lassen muss. Sie hat das Gefühl „Nichts geht mehr“ und braucht einige Tage und Gespräche, um zu verstehen und zu verarbeiten.

Sie ist erschüttert, dass dieses Thema im Vorfeld nie angesprochen wurde, sie wurde ja nicht einmal zur Begutachtung beim Medizinischen Dienst einbestellt. Wieder erlebt sie sich fremdbestimmt und durch das Schreiben extrem unter Druck gesetzt.

Krankenkasse und Rentenversicherung haben das Anliegen, dass Betroffene wieder zurück ins Berufsleben finden, was viele ja auch wollen. Leider war niemand auf die Idee gekommen, mit Martina persönlich über ihre Wünsche und Möglichkeiten zu sprechen. Betroffenen fehlen häufig verständliche Informationen. Sie wissen nicht, welche Möglichkeiten für sie gesetzlich verankert sind, oder weshalb sie, wie z. B. in Martinas Fall, zur Reha-Maßnahme aufgefordert werden.

Rehabilitation

Im Sozialgesetzbuch steht: „Alle rehabilitativen Leistungen zielen darauf ab, die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen und zu sichern.“ Es geht darum, dass die Person alle notwendige Hilfe und Unterstützung bekommt, damit sie wieder in ihren Lebensalltag integriert werden kann. Nach dem SGB IX (Sozialgesetzbuch) soll Menschen geholfen werden, eine „Behinderung abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern …“. Erkrankungen, ob körperlich oder psychisch, können zu einer Behinderung im Sinne des SGB IX führen. Danach „gelten Menschen als behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. … Eine psychische Behinderung liegt vor, wenn als Folge einer psychischen Störung nicht nur vorübergehend erhebliche Beeinträchtigungen von Aktivitäten und Teilhabe auftreten, z. B. in den Bereichen der Alltagsbewältigung, der Erwerbstätigkeit und der sozialen Integration.“3

Reha-Maßnahmen sollen den Gesundungsprozess und die Wiedereingliederung unterstützen. Manche Betroffene haben jedoch Angst von zu Hause wegzugehen, an fremde Orte zu fahren, von wichtigen Bezugspersonen getrennt zu sein und neue Menschen kennenlernen zu müssen. Befürchtungen werden oft riesig groß: „Was wird dort mit mir geschehen? Warum muss ich so weit weg? Warum muss ich in eine Klinik?“ Wir Wegbegleiter beruhigen, geben die Informationen verständlich weiter, erklären, ermutigen und überlegen mit den Betroffenen gemeinsam, welche Schritte für sie möglich und notwendig sind.

Weitere Hilfe kann über den sozialpsychiatrischen Dienst, der in den meisten Bundesländern an das Gesundheitsamt angeschlossen ist, in Anspruch genommen werden. Seine Funktion ist, die Versorgung und Betreuung psychisch kranker Menschen zu gewährleisten und psychiatrische Hilfen zu koordinieren.4 Auch Reha-Servicestellen der Rentenversicherung helfen weiter.5 Es ist hilfreich, als Wegbegleiter diese Stellen vor Ort zu kennen. Wir können Betroffene dorthin schicken oder mit ihnen gemeinsam hingehen.

Schwerbehinderung

Manchmal sind körperliche oder psychische Einschränkungen so ausgeprägt, dass die betroffene Person langfristig nicht oder nur mit begrenzter Stundenzahl wieder in den beruflichen Alltag eingegliedert werden kann. Häufig wird Betroffenen empfohlen eine Schwerbehinderung zu beantragen. Auch wenn dies im Grunde hilfreich ist, kann der Vorschlag sie erneut verstören, verunsichern und entmutigen. Die meisten Betroffenen wollen arbeiten, sich nicht nutzlos fühlen, sondern ihren Beitrag zum Leben selbst erbringen. Eine „Schwerbehinderung“ ist nicht leicht anzunehmen; einige Informationen zu diesem Thema: „Das Schwerbehindertenrecht (SGB IX Teil 2 – Besondere Regelung zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen) bietet auch psychisch kranken Menschen – unabhängig von Leistungen zur Teilhabe – Hilfen und Nachteilsausgleiche insbesondere im Arbeitsleben.“6 Eine Person gilt als schwerbehindert, wenn der Grad der Behinderung mindestens 50 % beträgt. Die Antragsstellung erfolgt direkt beim Versorgungsamt. Weitere Unterstützung bieten sogenannte Integrationsämter, sie informieren und helfen bei der Eingliederung schwerbehinderter Menschen in das Arbeitsleben. Schwerbehinderte haben Kündigungsschutz und Anspruch auf Nachteilsausgleiche (Zusatzurlaub, Entbindung von Mehrarbeit oder Vergünstigungen für Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs), ferner können ihnen Hilfen zur Teilhabe am Arbeitsleben, persönliche und finanzielle Hilfen ermöglicht werden.7

Arbeit und individuelle
Belastbarkeitsgrenze

Arbeitssuche

Maria: „Während meine Geschwister beruflich so richtig durchstarten, Karriere machen und von allen bewundert werden, schleppe ich mich nach mehrfach abgebrochener Berufsausbildung von einem Nebenjob zum nächsten.“

Aufgrund der Traumafolgeerscheinungen und der sich daraus ergebenden begrenzten Belastbarkeit sind Arbeitsplätze oft gefährdet. Betroffene können nur reduziert arbeiten oder finden erst gar keine Anstellung. Müssen sie eine Familie versorgen oder sind Alleinerzieher, bereitet die finanzielle Notsituation besonders großen Stress und Angst.

Hanna: „Ich habe finanzielle Sorgen, kann aber nur morgens arbeiten, weil ich niemanden habe, der meinen Sohn versorgen könnte. Es ist mir auch wichtig, für ihn da zu sein. Er hat mit seinen gerade sechs Jahren schon so viel Probleme, er braucht mich. Eine Arbeit zu finden, von der ich uns beide ernähren kann, ist fast aussichtslos.“

Auch in Familien mit beiden Elternteilen ist manchmal der Arbeitsplatz gefährdet, reicht das Einkommen trotz Vollzeittätigkeit nicht aus oder ist die Familie bereits von Arbeitslosigkeit betroffen.

Elisabeth: „Ich bin im Kinderheim aufgewachsen, habe keinen Schulabschluss und keine Berufsausbildung machen können. Nach meiner Scheidung wurde ich aufgefordert Unterhalt für mein Kind zu zahlen. Ich habe lange nach einer Arbeitsstelle gesucht, konnte jedoch keine finden. In einem Sorgerechtsverfahren wurde ich zur Unterhaltszahlung nach der Düsseldorfer Tabelle8 verpflichtet. Begründung des Richters war: Ich könne eine Berufstätigkeit über acht Stunden aufnehmen, sei kompetent genug. Dass ich bisher keine Anstellung gefunden hätte, zeige, dass ich zu faul zum Arbeiten sei.“

Maria, Hanna und Elisabeth stehen für viele Betroffene, die sich durchs Leben kämpfen müssen. Sie erleben erneut Demütigung und Ablehnung, Angst und Sorge, Verluste und Schmerz.

Als Wegbegleiter können wir an ihrer Seite stehen. Auch wir sind nicht in der Lage einen Arbeitsplatz „herbeizaubern“, aber wir können trösten, Wege mitgehen und ermutigen. In Elisabeths Fall haben wir gemeinsam einen Anwalt aufgesucht. Personen mit geringem Einkommen können durch ihren Anwalt Prozesskostenhilfe beantragen. Diese wird gewährt, wenn das Gericht zu der Auffassung gelangt, dass der Prozess zu gewinnen ist. Es verbleibt ein Eigenanteil in Höhe von 10 Euro. Ob oder in welcher Höhe die Prozesskostenhilfe zurückgezahlt werden muss, ist eine Einzelfallentscheidung.

Geregelter Tagesablauf

Regelmäßige Tätigkeiten helfen einen geordneten Tagesablauf einzuhalten. Längerfristige Krankschreibungen, Arbeitslosigkeit oder Berentung können destabilisieren. Leicht verlieren Betroffene jeden Antrieb und verstricken sich in Grübeleien: „Da lohnt es sich doch gar nicht morgens aufzustehen. Welchen Sinn hat es denn?“ Depressive Reaktionen, Vernachlässigung der eigenen Person, der Griff zu Suchtmitteln, sogar Suizidgedanken können Folgen sein.

Lena: „Nach einem schier endlosen und kräftezehrenden Kampf habe ich die Ausbildung zur Erzieherin erfolgreich beendet, doch ich kann nicht arbeiten. Die Folgeerscheinungen meiner traumatischen Erlebnisse fordern ihren Tribut. Eine Amtsärztin teilte mir mit, dass ich arbeitsunfähig und eine Berentung unumgänglich sei. Ich bin doch erst dreißig Jahre alt! Wieder habe ich versagt – aus mein Traum! Niemals werde ich meinen Traumberuf ausüben können.“

Ein geregelter Tagesablauf ist wichtig und wirkt stabilisierend. Aber wie erreicht man das? Hier ist eine Liste mit Fragen, die helfen können, sinnvolle Beschäftigungen zu entdecken:

Welche sozialen Kontakte kann die Person knüpfen?

Kann sie jemand anderem helfen?

Gibt es eine ehrenamtliche Tätigkeit für sie? Könnte sie sich in der Gemeinde in einem Bereich gemeinsam mit anderen entfalten?

Welche berufliche Ausbildung liegt vor, gibt es in diesem Feld stundenweise Möglichkeiten der Beschäftigung? Ein kleiner Zuverdienst ist rechtlich erlaubt. Wie viel Kraft hat sie zur Verfügung, welche Zeit wäre möglich?

Für die Betroffenen geht es bei diesen Themen um Wert und Sinn des Lebens und um Bindung innerhalb der Gesellschaft.

Lena ist doch noch in ihrem Traumberuf angekommen. Sie arbeitet stundenweise in einer Erziehungseinrichtung mit.

Berufliche Nachqualifikationen

Um Menschen mit psychischen Problemen eine berufsbezogene Ausbildung oder den Wiedereinstieg ins Berufsleben zu ermöglichen, gibt es die Beruflichen Trainingszentren (BTZ). Dort wird abgeklärt, welche Kompetenzen die Person hat, frühere berufliche Kenntnisse und Kompetenzen werden wieder aufgefrischt. Währenddessen werden die Teilnehmer therapeutisch begleitet.9

In Berufsbildungswerken können betroffene Personen eine erstmalige Ausbildung erhalten.10

Berufstraining, Förderungen und Weiterqualifizierung sind wertvolle Maßnahmen. Da die Anforderungen trotzdem recht hoch sind, bedeutet es für die Betroffenen Kraft, Kampf und oft Überforderung. Aufgrund von Dissoziation und anderen Traumafolgestörungen zeigen die Betroffenen keine konstanten Leistungen, oft sind die Ergebnisse sehr unterschiedlich. Vorgesetzte und Ausbilder wundern sich: „Sie sind so wechselhaft. Einmal arbeiten sie sehr gut und dann geht wieder gar nichts.“ Viele Betroffene wagen es nicht, von ihren Problemen zu berichten. Sie haben Angst, auf Unverständnis oder Ablehnung zu stoßen, und befürchten, die Maßnahme abbrechen zu müssen.

Es hilft in diesen Herausforderungen einen Ort zu haben, an dem sie über ihre Nöte und Wünsche sprechen können. Wegbegleiter können zuhören, Verständnis zeigen, helfen, Probleme oder Fragen zu klären, und mit den Betroffenen überlegen, inwieweit ein gemeinsames Gespräch vor Ort sinnvoll wäre. Die Betroffenen brauchen viel Ermutigung. In den Gesprächen kann geklärt werden, ob ein innerer Anteil sich gegen die Ausbildung wehrt, das Innere kann gebeten werden mitzuhelfen, damit der Alltag und die Ausbildung gut funktionieren können. Jesus bietet auch Schutz und Hilfe an, er begleitet die Person und ihr Inneres.

Betreuung, betreutes Wohnen

Manchmal ist es schwer traumatisierten Menschen nicht möglich, sich um ihre Angelegenheiten selbst zu kümmern. Die psychischen und körperlichen Beschwerden sind so immens, dass sie das Alltägliche nicht bewältigen können. Psychosoziale Kontakt- und Beratungsstellen und Tagesstätten bieten Hilfe, Beratung und Betreuung. „Ambulante betreute Wohnangebote wenden sich an psychisch kranke Menschen, die eine intensivere aktivierende Hilfe und Begleitung in ihrem Lebensumfeld benötigen.“11

Ein Netzwerk von stützenden Beziehungen ist wertvoll, dabei sollte beachtet werden, dass die betroffene Person in ihrer Selbstverantwortung herausgefordert bleibt.

Hilfsorganisationen und
weiterführende Hilfsangebote

Für Wegbegleiter ist es sinnvoll, eine Liste der zahlreichen Unterstützungsmöglichkeiten und Anlaufstellen zu haben, gegebenenfalls mit diesen zusammenzuarbeiten:

Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland e. V.

Deutscher Caritasverband e. V.

Sozialverband VdK Deutschland e. V.

WEISSER RING e. V.

viele weitere Wohlfahrtsverbände und kleinere Organisationen

Diakonie und Caritas bieten Beratung für Ehe und Familie an, Begleitung von Menschen in Not, weisen Wege zu Schuldnerberatung, Beschäftigung und Qualifikation, Betreuung u.v.m.

Der VdK ist ein Sozialverband, der die Interessen von Rentnern, Menschen mit Behinderungen, Arbeitslosen, Pflegebedürftigen sowie Kriegs-, Wehrdienst- und Unfallopfern vertritt. Mitglieder (Monatsbeitrag 4,50 €/Stand 2010) erhalten Beratung und Beistand in sozialrechtlichen Fragen sowie Rechtsvertretung vor den Sozialgerichten. Der Verband kümmert sich um berufliche Förderung und Eingliederung, bietet Selbsthilfegruppen und Gemeinschaft in den Ortsverbänden an.

Der WEISSE RING betreut Opfer von Gewalt, unterstützt bei Fragen zur Opferentschädigung, berät und begleitet.

Opferentschädigungsgesetz

„Wer durch eine Gewalttat einen gesundheitlichen Schaden erlitten hat, kann Leistungen nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) erhalten. Das Gesetz gilt für Ansprüche aus Gewalttaten, die nach dem 15. Mai 1976 begangen wurden.“ Viele Betroffene haben in ihrer Kindheit körperliche und seelische Schädigungen erlitten. Der Gesetzgeber hat für diesen Fall eine „Härteausgleichsregelung“ eingeführt: „Personen, die in der Zeit vom 23. Mai 1949 bis zum 15. Mai 1976 im Bundesgebiet eine gesundheitliche Schädigung durch Gewalttat erlitten haben, können durch eine ‚Härteausgleichsregelung‘ ebenfalls Leistungen erhalten“, wenn sie „1. allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und 2. bedürftig sind. Ob jemand ‚bedürftig‘ ist, wird im Einzelfall geprüft und ist auch abhängig von dessen Einkommen.“12 Antragsteller müssen genaue Angaben erbringen, wobei sie erneut mit dem Trauma konfrontiert werden. Dies bedeutet viel Stress und muss gut überlegt werden. Wird der Beantragung zugestimmt, hat die Person Anspruch auf verschiedene Leistungen von Heilbehandlungen bis hin zur Beschädigungsrente.13

Bevor Betroffene einen solchen Weg einschlagen, sollten sie sich gründlich informieren. Die Langwierigkeit eines solchen Verfahrens kann die Person sehr unter Druck bringen. Fragen wie: „Warum muss ich jetzt auch noch das durchmachen? Wie kann ich denn beweisen, was mir widerfahren ist? Wieso muss ich Zeugen benennen?“, können sie quälen. Das geschehene Unrecht ihres Lebens kann erneut mit dem alten Schmerz „Man glaubt mir ja sowieso nicht“ in Kontakt kommen. Werden die geforderten Entschädigungsleistungen nicht bewilligt, muss auch die Enttäuschung verarbeitet werden können.

Anzeige ja oder nein?

Eine Anzeige zu erstatten kostet Betroffene viel Kraft und Mut. Sie schämen sich für das, was ihnen widerfahren ist; haben Angst, dass man ihnen nicht glaubt, auch fällt es ihnen nicht leicht im Detail über das Geschehene zu berichten. Stammt der Missbraucher aus der eigenen Familie, belastet dies noch mehr. Die Gefahr ist groß, dass die restliche Familie verleugnet, die betroffene Person als „Geschichtenerfinder“ behandelt und sogar aus dem Familienverband ausgestoßen wird. Oft müssen sich Betroffene gerade nach körperlichen Misshandlungen und sexualisierten Gewalterfahrungen auch die Frage gefallen lassen, ob bzw. warum sie denn damals nicht zur Polizei gegangen sind.

Lena: „Ich habe sehr lange mit mir gerungen, ob ich meinen Peiniger anzeige. Die Zeit drängte, da mein 28. Geburtstag bevorstand und damit all die Dinge, die ich vor meinem 18. Geburtstag erlitten hatte, verjährt würden. Dann könnte der Täter dafür nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden. Ich ging zu einer Anwältin, die mich zu einer Gerichtsverhandlung mit ähnlichem Thema mitnahm. Obwohl ich nur unbeteiligte Zuhörerin war, zitterte ich die ganze Zeit. Am Ende war ich körperlich und nervlich völlig am Ende. Monatelang kam ich einfach nicht darüber weg. Ich konnte den völlig verstörten, leeren Blick des Opfers einfach nicht vergessen. Das will ich auf keinen Fall durchmachen müssen.“ Aus diesem Grund entschied sich Lena ganz bewusst, diesen Weg nicht zu gehen und ihren Peiniger nicht anzuzeigen.

Anzeige ja oder nein, Opferentschädigung beantragen oder nicht – jeder Betroffene muss für sich herausfinden: Bin ich innerlich stark genug, diese Schritte zu gehen, Befragungen auszuhalten, Zeugen zu benennen …, habe ich ein stützendes Umfeld, das mich durch den gesamten Prozess, der mehrere Monate bis Jahre in Anspruch nehmen kann, begleitet? Wir Wegbegleiter sollten das Für und Wider mit den Betroffenen besprechen und im Kontakt mit z. B. dem WEISSEN RING helfen, dass die Entscheidung in Ruhe reifen kann.

Schlusswort

Bei der Lebensbegleitung haben wir mit vielen Herausforderungen zu kämpfen. Immer gilt es, achtsam und wertschätzend mit den Betroffenen umzugehen. Aufgrund unserer Ausbildung bewegen wir Wegbegleiter uns oft auf einer völlig anderen intellektuellen Ebene, leicht verlieren wir die eingeschränkten Möglichkeiten unseres Gegenübers aus dem Auge. Wir sind zielorientiert, erwarten zu schnell zu viel und bringen den anderen unter Druck. Unsere Begleitung muss auf die jeweilige Person abgestimmt sein und wir müssen uns immer wieder fragen: Was braucht sie jetzt? Wie kann der nächste Schritt aussehen? Wohin soll es gehen?

Betroffene brauchen auf vielen verschiedenen Ebenen Unterstützung und Hilfe. Ich habe einen Traum: dass wir alle – Angehörige, Freunde, Begleiter, Gemeindemitarbeiter, Seelsorger, Pastoren, Therapeuten, Ärzte, Erzieher, Lehrer, Arbeitgeber, Behördenmitarbeiter … ein Netzwerk bilden, eine Familie für die betroffenen Menschen, eine stabilisierende Gemeinschaft, die liebevolle, praktische Unterstützung im Lebensalltag anbietet, damit Betroffene ein würdevolles, möglichst eigenständiges Leben führen können. Stellen Sie sich vor, wenn Starke und Schwache, Arme und Reiche, Große und Kleine, Jung und Alt füreinander da sind, füreinander sorgen. Der Arme hat sehr viel zu geben – er hat gelernt zu überleben, verfügt oft über große praktische Erfahrung. Der Reiche (dies ist nicht nur materiell gemeint) kann dem Armen Gutes tun, etwas abgeben von seinem Überfluss. Der gut Ausgebildete kann den schlecht Ausgebildeten lehren, er kann ihn neben sich wachsen lassen. Der Therapeut kann gemeinsam mit dem Seelsorger, dem Begleiter, dem Freund des Betroffenen für dessen Wohl sorgen … der Liebevolle öffnet sein Herz für den, der Mangel an Liebe hat. Wie wäre es, wenn wir dies, jeder an seiner Stelle, mit seinen Gaben und Fähigkeiten, tun könnten?

Dann wird der König (Jesus) zu denen auf seiner rechten Seite sagen: „Kommt, ihr seid von meinem Vater gesegnet, ihr sollt das Reich Gottes erben, das seit der Erschaffung der Welt auf euch wartet. Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich war durstig, und ihr gabt mir zu trinken. Ich war ein Fremder, und ihr habt mich in euer Haus eingeladen. Ich war nackt, und ihr habt mich gekleidet. Ich war krank, und ihr habt mich gepflegt. Ich war im Gefängnis, und ihr habt mich besucht.“ Dann werden diese Gerechten fragen: „Herr, wann haben wir dich jemals hungrig gesehen und dir zu essen gegeben? Wann sahen wir dich durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann warst du ein Fremder und wir haben dir Gastfreundschaft erwiesen? Oder wann warst du nackt und wir haben dich gekleidet? Wann haben wir dich je krank oder im Gefängnis gesehen und haben dich besucht?“ Und der König wird ihnen entgegnen: „Ich versichere euch: Was ihr für einen der Geringsten meiner Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr für mich getan!“ (Matthäus 25,34–40)