Etappe 5: Integration, Trauern und Zukunftsperspektiven

Integration • Trauern und andere

Verarbeitungsprozesse • Zukunftsperspektiven •

Das Ende einer Begleitung

Die inneren Barrieren und Ängste sind weitgehend abgebaut, aus dem, was zerbrochenen ist, entwickelt sich wieder ein Ganzes. Das führt zur Zunahme an Kraft und Kompetenz, beinhaltet zugleich aber die Herausforderung, das Neue leben zu lernen. Aufgrund der Integration wird das tatsächliche Ausmaß der schlimmen Geschehnisse noch bewusster. Schmerz und Trauer über die eigene Geschichte und die damit verbundenen Verluste brauchen Raum und Trost. Mehr und mehr weicht die „Nebeldecke“, die so viele Jahre über den Betroffenen lag, Sicht auf eine Zukunft mit neuen Perspektiven wird möglich.

Gottes Handeln

Der Herr baut Jerusalem wieder auf. Er bringt die Israeliten zurück, die aus ihrem Land verschleppt wurden. Er heilt den, der innerlich zerbrochen ist, und verbindet seine Wunden. Er hat die Zahl der Sterne festgelegt und jedem einen Namen gegeben. Wie groß ist unser Herr und wie gewaltig seine Macht! Unermesslich ist seine Weisheit. Der Herr richtet die Erniedrigten auf und tritt alle, die sie unterdrückt haben, in den Staub. Singt dem Herrn Danklieder! (Psalm 147,2–7 Hfa, Hervorhebung durch die Autorin)

So wie Gott Jerusalems wieder aufbaut, will er die Menschen wiederherstellen, die so viel Zerstörung und Zerbruch erlebt haben. Er kennt jede einzelne seiner „Scherben“, sucht und sammelt sie voll Sorgfalt ein. Er verbindet Wunden und heilt, er verändert und gibt neue Aufgaben und Namen. Er richtet den erniedrigten Menschen wieder auf und gibt ihm seine Würde zurück. Als Gott und gerechter Richter ist er für die Strafe der Unterdrücker und Täter zuständig.

Integration

Der Begriff „Integration“ wird in verschiedenen Bereichen und unterschiedlichen Kontexten verwendet:

Integration von Wissen, wenn Zusammenhänge verstanden werden;

Integration von Trauma-Inhalten, wenn die einzelnen „Traumafetzen“ zu einer Geschichte zusammengefügt und als eigene Vergangenheit anerkannt werden können;

Integration von Persönlichkeitsanteilen, wenn Zerbrochenes wieder eins wird.

In dieser Etappe bezieht sich „Integration“ vor allem auf das Wiedereinswerden als Person. Bisher getrenntes Wissen verschmilzt zu „einem Wissen und einer ‚Person‘“.1 Dabei ist Integration meist kein einmaliges Ereignis, sondern verläuft häufig als Prozess. Viele Entwicklungsschritte haben bereits in den vorigen Wegetappen stattgefunden.

Die Integration der Persönlichkeitsanteile beginnt mit der Bereitschaft, die einzelnen Anteile mitsamt ihren Botschaften und Anliegen wahrzunehmen. Erstes Kennenlernen erfolgt. Zunehmende innere Kommunikation macht es möglich, die Anteile zu befragen, anzuhören und verstehen zu lernen. Versöhnung findet statt. Aus dem bisherigen Gegeneinander entwickelt sich ein Füreinander und Miteinander. Dies sind wichtige Integrationsschritte. Meist sind bestimmte weiterhin vorhandene Ängste Hindernis für das endgültige Einswerden. Erst wenn nichts mehr gemieden oder versteckt werden muss, braucht es auch keine Dissoziation mehr. Vollständige Integration bedeutet, dass alle bisher getrennten Bereiche miteinander verschmelzen, dass der „zerbrochene Krug mit seinen Scherben“ wieder zum „vollständigen Gefäß“ wird. Ein stabiles, einheitliches Selbstempfinden ist die Folge.

Wie geschieht Integration?

Fusionen (Verschmelzungen) können spontan im Alltag, im Rahmen der Traumabearbeitung geschehen, oder sie können bewusst im therapeutischen Setting herbeigeführt werden (z. B. mittels imaginativer Techniken). Es können sowohl einzelne Alter-Personen fusionieren als auch das System als Ganzes.2

Integration kann sich ganz unterschiedlich gestalten. Einzelne Anteile, die im Lauf der Zeit immer mehr zusammenwachsen, führen zur fast unmerklichen Integration. Manchmal erleben Betroffene bewusst, wie ein Anteil nach dem anderen wieder mit ihnen eins wird. Dies kann durch Gottes Handeln bewirkt werden oder einfach so „geschehen“, ohne göttliches oder menschliches Eingreifen.

Ulrike beschreibt in ihrer Lebensgeschichte, wie sehr sie am Ende ihrer Therapiezeit dem Einswerden mit den entdeckten Anteilen entgegenfieberte. Sie erlebt tiefgreifende und feierliche Momente, als sie durch Gottes Wirken mit den Anteilen ihrer Kellerfamilie vereint wird:

„Ulrike, ich will dich jetzt eins machen.“ Der große Moment! Er ist da! „Du kennst das ja schon. Ulrike die Gutherzige, komm, ich bringe dich an Ulrikes Herz.“ Schon ist sie in mir! Ich bin sehr berührt. Das ist ein heiliger Moment. Ich werde eins. „Ulrike die Gehorsame, ich lege dich in Ulrikes Herz.“ Auch sie verschwindet in mir. „Ulrike die Treue, komm, du auch.“ Schon ist sie in mir.3

Aber auch unbemerkt von ihr selbst fand Integration statt. Beim Blick nach innen wunderte sich Ulrike darüber, dass sie einige Teile nicht mehr wahrnehmen konnte. Im Rückblick zeigte ihr Gott, was geschehen war, während sie schlief:

„Nun sehe ich einen anderen Ort, das bin ja ich: im Bett! Jesus steht neben meinem Bett. Alle meine Anteile sind bei ihm. Darüber hat er also mit ihnen gesprochen! Nun sehe ich, was er in der Nacht gemacht hat: Einen Ulrike-Anteil nach dem anderen legt er auf mich und – sie verschwinden in mir. Ich bin überwältigt! … Jetzt werde ich bald vollständig sein! Eine Person, von Gott wiederhergestellt.“4

Schon lange bevor Ulrike eine Ahnung von Trauma und Folgen, von Dissoziation und Anteilen hatte, fand bereits Integration eines Anteils statt. Zu Hause in der Stille hörte Ulrike in sich ein Rufen „Ich will leben!“ Sie entdeckte, dass dieses „Ich will leben“ hinter dicken Mauern eingeschlossen war. In vielen inneren Gesprächen und Begegnungen mit Jesus beschäftigte sie sich mit diesem Anteil, einem inneren Kind, und der Frage, ob sie überhaupt leben wollte. Schließlich beobachtete sie im inneren Geschehen etwas, was sie damals noch nicht verstand:

„Nachdenklich schaue ich mein kleines ‚Ich will leben‘ an. In diesem Moment habe ich den Eindruck, dass es mit mir verschmilzt. Es ist in mir verschwunden!“5

Integrationserfahrungen sind nicht auf die letzte Etappe des Wiederherstellungsweges beschränkt. Sie werden immer dann möglich, wenn Spaltung in bestimmten Bereichen nicht mehr nötig ist. So kann es auch sein, dass eine Person weitgreifende Integration erlebt hat, Jahre später aber dann doch noch einen verletzten abgespaltenen Anteil entdeckt, der Heilung braucht, damit auch er integriert werden kann.

Angst und Unsicherheit

Häufig ruft das Thema Integration zuerst einmal Unsicherheit hervor. „Viele Alter-Personen haben große Ängste in Bezug auf eine mögliche Fusion. Befürchtungen sind z. B. die Angst, zu kurz zu kommen, die Angst, überflüssig zu werden und verschwinden zu müssen …“6

Diese Bedenken der Betroffenen sowie der Anteile müssen beachtet und besprochen werden.

Große Rolle spielt die Angst vor Neuem, vor Ungewohntem und somit Unsicherem. Das Leben als zerbrochene Person war zwar nicht einfach, dennoch bekannt und normal. Die Betroffenen wussten, wie es sich anfühlt und wie sie damit leben können. Nun haben sie Angst vor der Stille und Einsamkeit ohne die gewohnten inneren Gespräche und Kommentare. Sie befürchten, die neue Situation nicht bewältigen zu können und ohne Dissoziation schwierigen Umständen ausgeliefert zu sein. Sie brauchen Antworten auf ihre Fragen und Unterstützung bei der Bewältigung ihrer Unsicherheit.

Wir Wegbegleiter können Mut machen und Angst abbauen, indem wir erklären, was bei der Integration geschieht: Jeder einzelne Anteil ist als Scherbe des kostbaren Gefäßes wichtig und wertvoll. Bei Integration geht kein Teil verloren, kein Teil muss verschwinden, sondern die Barrieren und Bruchlinien, die sich zwischen den einzelnen Anteilen befunden haben, sind unnötig geworden. Die Trennung wird nicht mehr gebraucht. Alle Gaben und Fähigkeiten der bisherigen Anteile stehen jetzt der ganzen Person zur Verfügung. Es geht somit nicht um Verlust, sondern um Gewinn.

Wir können Betroffenen berichten, dass die meisten traumatisierten Menschen im Rückblick die Erfahrung „Ich bin Einer. Nichts ist verloren gegangen!“ als für sie am wichtigsten eingestuft haben.7 So ermutigen wir, wecken Hoffnung und erklären die Bereicherungen, die durch das Einswerden möglich sind.

Verantwortlich für die weitere Entwicklung sind jedoch die Betroffenen selbst. Nicht für alle ist vollständige Integration angestrebtes Ziel. Es gibt sogar Betroffene, die „Multipelsein“ regelrecht zum Kult erheben. Sie wollen kein Verschmelzen der Anteile, sondern bewusst die Vorteile des „Viele-Seins“ nutzen. Michaela Huber weist darauf hin, dass auch Menschen, die nicht „Viele“ sind, durchaus vielfältig sein können, ihnen aber die Vorteile des Ganz-Seins zur Verfügung stehen: „Sie haben den multiplen Menschen jedoch voraus, dass sie sich selbst kontrollieren und eher bestimmen können, welche Anteile wann ‚draußen‘ sind, während nichtintegrierte Multiple in der Regel von äußeren Reizen gesteuert werden, und selbst wenn sie sich sehr bemühen, in allen akuten Krisensituationen unkontrolliert ‚switchen‘. … Man muss nicht die DIS (Dissoziative Identitätsstörung) aufrechterhalten, um vielfältig und kreativ zu sein.“8

Ich persönlich glaube, dass Gott alle Menschen, die zerbrochen sind, wieder eins machen möchte. Sein Angebot gilt, alle Betroffenen sind dazu eingeladen.

Praktische Schritte zur Integration

Entscheidend für erfolgreiche Integration ist der richtige Zeitpunkt. Handelt man aus Übereifer zu früh, kann dies zu starken inneren Spannungen und Krisen führen. Dauerhafte Integration ist nur möglich, wenn die Anteile, Informationen und Erinnerungen nicht mehr getrennt gehalten werden müssen.

Ein Trauma: Verschiedene Anteile übernehmen unterschiedliche Aufgaben

Relativ leicht kann Integration bei Anteilen erfolgen, die ähnliche Ziele verfolgen, bereits ein inneres Team gebildet haben oder bei der Bewältigung eines Traumas für verschiedene Aufgaben zuständig waren. Schwieriger wird es, wenn ehemals sehr widersprüchliche Bereiche oder frühere Täteranteile integriert werden sollen. Besonders bei denjenigen, die von den anderen für ihr Tun abgelehnt, oft sogar verabscheut und verurteilt wurden, wie z. B. Annas „innerer Hure“, müssen sich zuerst gegenseitige Akzeptanz und Annahme entwickeln.

So ist es ungemein wertvoll, wenn die einzelnen Anteile mit Jesus Heilungsprozesse durchlaufen, sich innere Einstellungen verändern und Versöhnungsprozesse stattfinden konnten. Die Alltagsperson hat keine Angst mehr vor dem, was in ihr ist, sie und die Anteile haben sich gegenseitig schätzen gelernt, Selbstannahme ist gewachsen.

Ulrike: „Mein Prozess der Selbstannahme dauerte lang und führte mich von ‚Ich bin nicht liebenswert!‘ über ‚Ich hasse mich selbst für das, was ich bin und denke, wie ich fühle und woher ich komme!‘ zur Beschäftigung mit dem Gebot der Nächstenliebe. Hier las ich, dass wir unseren Nächsten lieben sollen wie uns selbst … Ich kämpfte weiter, stellte mich all dem, was in mir war. Ich erlebte, wie Jesus liebevoll mit meinen Anteilen umging. Ich begann mehr und mehr mich selbst, mein Inneres, lieb zu gewinnen. Dabei wuchs der Wunsch, mit ihnen vereint zu sein. Hinzu kam natürlich die Sehnsucht, wieder eins, eine Persönlichkeit zu sein.“

Als behutsame erste Schritte eines Integrationsgeschehens können die verschiedenen Anteile beginnen, einen Gedanken gemeinsam zu denken, ein Gefühl gemeinsam zu spüren, eine Aufgabe gemeinsam zu bewältigen.

Auch innere Bilder helfen, den Zusammenhalt zu fördern:

in einer inneren Aufstellung nimmt jeder Anteil seinen Platz ein;

alle ziehen zusammen an einem Strick;

die Anteile versammeln sich als wichtiges Team, das zusammen den weiteren Weg bespricht und Entscheidungen trifft;

Jesus ist in ihrer Mitte, er ist ihr Coach für das neue Miteinander.

Auswirkungen

Integrationen haben nicht immer sofort sichtbare, von außen wahrnehmbare Auswirkungen. Das innere Erleben dagegen verändert sich deutlich. Innere Kinder kommen zur Ruhe, sie weinen und schreien nicht mehr. Erwachsene Anteile tun sich zusammen, bilden eine Einheit, erleben und fühlen gemeinsam. Viele Betroffene beschreiben Integration als große emotionale Bereicherung. Sie haben das Gefühl, „angekommen“ zu sein, erleben inneren Frieden und tiefe Freude. Die besonderen Fähigkeiten und Eigenschaften bestimmter Anteile sind nicht verloren gegangen, sondern als neue Ressourcen greifbar. Noch umfassender als bisher, als sie nur einem Anteil zur Verfügung standen, können sie nun genutzt und eingesetzt werden.

Lisa: „In mir ist es so viel ruhiger geworden. Früher kam ich mir vor wie ein Boot, das von den Wellen des Meeres hin- und hergeschleudert wird, das den Strömungen, Untiefen, Wind und Wetter hilflos ausgesetzt ist. Nun fährt dieses Boot auf einem Fluss, hat eine klare Richtung. Immer noch gibt es Wind und Wellen, aber sie bringen das Boot nicht mehr aus dem Gleichgewicht.“

Allerdings bringt Integration auch neue Herausforderungen mit sich. Es ist ungewohnt, Gefühle wieder zu spüren und Schmerzen zu fühlen. Bei schwierigen Situationen können Betroffene nicht mehr einfach abschalten oder aussteigen. Die alte Bewältigungstechnik des Persönlichkeitswechsels steht nicht mehr zur Verfügung, Rückzug in sich selbst ist nicht mehr möglich.

Britta: „Gefühle haben mich verwirrt und beherrscht, weil ich sie nicht verstanden habe. Sie waren störend. Ich habe versucht sie zu vermeiden, zu verdrängen oder nicht ernst zu nehmen, indem ich mich total zurückzog und nicht darüber sprach. Heute dürfen Gefühle sein und ich lerne mit ihnen umzugehen. Wenn ich traurig bin, überlege ich, woher die Trauer kommt. Wenn ich Umarmung und Trost brauche, übe ich, darum zu bitten. Wenn ich Panik bekomme, suche ich nach dem Auslöser und bitte Jesus, dass er sie für mich abfängt.“

Bei früheren Entscheidungs-Problemen wurden verschiedene Interessen einfach den unterschiedlichen Anteilen zugeordnet. Jetzt ist alles in einer Person vorhanden, das Für und Wider, die Vorteile und Nachteile: „Ambivalenz ist eine Begleiterscheinung zunehmender Integration.“9 Betroffene müssen mit diesen Veränderungen umgehen lernen, sie müssen üben, innere Spannungen und Stress auszuhalten. Auch ist es nun noch wichtiger, auf den Körper zu achten, genügend Ausgleich zwischen Spannung und Entspannung zu leben und die nötigen Ruhezeiten einzuplanen.

Ulrike beschreibt, wie sie Veränderungen aufgrund der Integration erlebt: „Heute ziehe ich mich in Krisensituationen immer häufiger an meinen kuscheligen Ort in die Gegenwart Gottes zurück und kläre mit ihm und vor ihm die Not, das Problem, den Entscheidungspunkt. Ich muss mich nicht mehr wie früher innerlich verstecken, in mir selbst die Lösungen erkämpfen und mich durch Selbstvorwürfe verunsichern, ablehnen und verurteilen. Stimmen, die mir sagten: ‚Ulrike, du bist schuld. Schäme dich!‘, gibt es nicht mehr. Damals schob ich unbewusst einem anderen Anteil die Schuld zu: ‚Typisch für dich! Wer bist du denn schon!‘ Aus schwierigen Situationen rettete ich mich, indem – ohne dass ich mir dessen bewusst war – ein innerer Anteil ansprang und reagierte. Heute gelingt dies alles nicht mehr. Heute ist es nötig und möglich, Fragen in Ruhe zu klären, mir in der Gegenwart Gottes meiner selbst bewusst zu werden und dann meinen Standpunkt einzunehmen. Ich lerne immer mehr, mich selbst wahrzunehmen, meine Wünsche zu äußern und zu meiner Meinung zu stehen. Inzwischen habe ich auch den Mut, mir Rat einzuholen, Freunde zu bitten, dass sie mich in herausfordernden Situationen begleiten.

Flashbacks habe ich keine mehr. Es ist ruhig im mir geworden. Ich genieße mein neues Leben und all das, was ich heute machen kann. Ich bin konzentrationsfähig, kann lernen und lache sehr gerne. Ich habe Freude an mir selbst und bin sehr glücklich darüber, dass ich den manchmal doch sehr schwierigen, anstrengenden und schmerzhaften Wiederherstellungsweg gemeinsam mit Gott und verschiedenen Menschen gehen konnte. Heute kann ich sagen: Es hat sich gelohnt.“

All das Schlimme ist mir passiert!

Zur Integration der Persönlichkeitsanteile gehört allerdings auch die Erkenntnis, dass die traumatischen Erfahrungen nicht nur den einzelnen Anteilen, sondern damit der Person selbst geschehen sind. Dies ist eine der schwersten Erkenntnisse des gesamten bisherigen Weges, denn es bedeutet, dass all die Schmerzen, all die Panik und Furcht, all das Unfassbare tatsächlich der Person selbst zugestoßen sind. Betroffene Christen müssen sich mit der Frage auseinandersetzen, wie sie ihren Glauben, wie sie Gott als „liebenden Vater“, der Schutz und Geborgenheit anbietet, mit dem Leid zusammenbringen können, das sie erlebt haben, und der Enttäuschung, dass Gott all dies nicht verhindert hat. Nur wenn sie dieses „unlösbare Problem“ für sich durchlitten und verarbeitet haben, können sie auch in ihrem Christsein vollständige Integration erleben.

ALLE ANTEILE GEHÖREN ZUR PERSON – SOMIT SIND AUCH ALLE TRAUMATISCHEN ERFAHRUNGEN NICHTIHNEN“, SONDERN IHR GESCHEHEN.

Trauern und andere Verarbeitungsprozesse

Da mit der Integration nun auch die Enttäuschung, Schmerzen, Trauer und der Verlust vereinigt sind, müssen neue Bewältigungsmöglichkeiten entwickelt werden, um mit dieser Herausforderung umzugehen. Früher haben Betroffene extreme Gefühle und Spannungen durch Abspaltung vermieden. In ihrer Vergangenheit haben sie nicht gelernt, wie sie solch schwierige Situationen anders meistern könnten, es war niemand da, der ihnen geholfen hätte. Heute sind die Betroffenen mit der Bewältigung von Schmerz, Angst, Trauer und Schuld nicht mehr allein. Sie haben Jesus und die Wegbegleiter, die sie bereits als vertrauenswürdige Gegenüber erlebt haben. Mit dieser Unterstützung können sie es wagen, sich auch diesem herausfordernden Prozess zu stellen.

Die Trauer bekommt Raum

Die Betroffenen können ihre Gefühle zulassen, sie ausdrücken mit Worten und ihrem Körper, allen Druck herausfließen lassen und erleben: Es ist in Ordnung, ich darf das, mein Gegenüber hält es mit mir aus, hilft mir einzuordnen und zu verstehen. Sie machen die Erfahrung, nicht alleingelassen, sondern in ihrem Schmerz begleitet und gehalten zu werden. Sie erleben Jesus selbst als ihren Trost und ihre Stärke, mit ihm können sie auch diese herausfordernden Gefühle bewältigen! Sie dürfen klagen und weinen, denn diese Möglichkeiten sind von Gott gegeben, um Schmerz und Trauer herausfließen zu lassen. Weinen ist eben nicht Zeichen für Schwäche, sondern für Echtheit. Die ehemalige Aussichtslosigkeit kann der Zuversicht weichen, dass diese Situation ein Ende haben wird und es ein Danach gibt. Die Betroffenen erleben, auch wenn Leid geschieht, Gott lässt sie nicht allein, er ist immer da. Dies ist Gottes Wesen, er selbst nennt dies als seinen Namen: „Ich bin euer Gott, der für euch da ist“ (2. Mose 3,14, Hfa). Darin kann auch der größte Schmerz zur Ruhe kommen.

Wir Wegbegleiter bleiben auch in dieser schweren Zeit an der Seite der Betroffenen, stützen, ermutigen und geben Halt. Betroffene dürfen erleben, dass das bisher als unerträglich Eingestufte mit Jesus und den begleitenden Menschen ertragen und überstanden werden kann. Viele weitere Aspekte, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen, werden im Kapitel „Trauerprozesse und Umgang mit dem Leid“ ausführlich beschrieben. Diesem Thema ist ein Extrakapitel gewidmet, da es während der gesamten Begleitung immer wieder eine wichtige Rolle spielt.

Weitere Verarbeitungsprozesse

Die schlimmen Geschehnisse der Vergangenheit sind ans Licht gekommen, die Betroffenen haben Trost und zunehmende Heilung erlebt, nun können weitere Themen in den Vordergrund rücken: Verurteilungen, Vergebungsprozesse, eigene Schuld, Abbau von Schutzmechanismen. Da die Betroffenen mit der Integration auch volle Verantwortung für ihr Denken und Tun übernehmen müssen, geht es um die „ganz normalen seelsorgerlichen Aufarbeitungsprozesse“, wie sie in dem Buch „Ein neues Herz will ich euch geben“10 geschildert sind.

DIE MAUER DER ABWEHR WIRD ABGEBAUT.

Durch Gottes Handeln ist der Lebensgarten selbst zu neuem Leben erwacht, ist grün und voller Pflanzen. Auch wenn manche Sträucher noch klein sind, junge Stauden erst wachsen müssen, stehen einige Pflanzen bereits in voller Blüte. Vieles Neue ist entstanden und bereichert den Garten. Einige Ecken müssen noch von Unkraut befreit, einige andere neu angepflanzt, junge Bäume gestützt werden, damit sie gerade und stark wachsen können. Die zum Teil bereits eingefallene Mauer ist keine angemessene Grenze mehr, ein hübscher Zaun mit Tor wäre ein geeigneterer Schutz. Viele Mauersteine, die während des bisherigen Weges bereits offensichtlich geworden sind, können nun endgültig am Kreuz abgelegt werden.

Der Entgiftungsprozess der Gefühle führt zu einem Enthärtungsprozess in der Haltung dem anderen gegenüber – wer sich selbst nicht nur im Schmerz, sondern auch in der Freude und der Kraft spürt, kann auch anderen Menschen angstfrei und einfühlsam begegnen, sich ihnen öffnen und ihre Verletzlichkeit respektieren.11

EIGENE SCHULD KANN ZUGEGEBEN WERDEN

Die Betroffenen haben gelernt: Ich bin durch Gottes Gnade und seine Liebe erwählt, sein Kind zu sein. Ich kann alle meine Fehler und mein Versagen zu Jesus bringen. Er vergibt mir gerne, mit ihm und durch ihn kann ich im Licht leben. Jesus hat für mich gelitten und mich dadurch erlöst.

VERGEBUNG KANN AUSGESPROCHEN WERDEN

Die Schuld, die an den Betroffenen geschehen ist, und die Schuld, die durch all das entstand, was den Betroffenen nicht gegeben oder vermittelt wurde, ist offensichtlich geworden. Solange Betroffene immer wieder über das Geschehene nachgrübeln mussten, bestimmte Situationen immer wieder durchspielten, mit der Scham zu kämpfen hatten, in den falschen Überzeugungen gefangen waren, konnte der Vergebungsprozess nicht abgeschlossen werden. Die Bindung an die Täter hielt weiterhin gefangen. Nun kann sie durchtrennt werden, indem der Schuldschein endgültig Gott übergeben wird. Vergeben heißt, auf das Recht zur Wiedergutmachung zu verzichten und seine Rache, die Verantwortung der Sühnung, Gott, dem Richter zu überlassen. „Rächt euch nicht selbst, liebe Freunde, sondern überlasst die Rache dem Zorn Gottes. Denn es heißt in der Schrift: ‚Das Unrecht zu rächen ist meine Sache, sagt der Herr; ich werde Vergeltung üben‘“ (Römer 12,19 NGÜ). Betroffene erleben dadurch persönliche Freisetzung und inneren Frieden, unabhängig vom Verhalten der anderen. Sie lassen sich nicht länger von dem, was in der Vergangenheit geschehen ist, bestimmen und einschränken, geben dem Täter nicht länger Macht über ihr Leben, sondern schauen nach vorne, „statt im Blick zurück gefangen zu sein“.12

Der Täter hat eine schwere Strafe als Sühne für seine Tat verdient. Dazu stehe ich, auch wenn ich Christ bin, weil es in der Bibel steht. Weil ich aber an Gott glaube, glaube ich, dass die wahre und tiefste Gerechtigkeit bei Ihm ist. Ich verzichte darum darauf, mich in Worten, Gedanken oder Taten zu rächen und dabei zwangsläufig neues Unrecht zu tun. Sondern ich gebe die Rache an Gott ab. Der sagt, dass sie sein ist. Den Schuldschein, den ich habe, der mir schon viele schlaflose Nächte, Hassgedanken und Grübeleien eingebracht hat, den will ich nicht mehr haben. Ich will ihn ein für allemal an Gott abgeben!13

Der nachfolgende Text beschreibt Ulrikes Erkenntnisse, nachdem sie die verschiedenen Wegetappen durchlaufen und manche Trauerprozesse durchlitten hat:

„Ich habe schlimme Dinge erlebt und schreckliche Verluste erlitten. Diese Verluste sind wahr, sie sind mir widerfahren und haben viel Leid, Angst und starke Schmerzen verursacht. Aber ich habe überlebt, jeder einzelne Anteil hat dazu beigetragen. Nun habe ich auch getrauert, meine Tränen darüber vergossen und Trost in all dem Leid erfahren. Gott ist mir begegnet, er hat mich an sein Herz gezogen, mich versorgt, getröstet und manchen Mangel mit sich selbst ausgefüllt. Ich bin wieder aufgerichtet und habe neue Stärke und Kompetenzen entwickelt. Auch meine eigene Schuld, meine Reaktionen und falschen Lebensmuster konnte ich vor Gott und mir selbst eingestehen. Gott hat sich auch in dieser Realisationsphase als treu und gerecht erwiesen. Er ist mir, dem Sünder, gnädig und vergibt. Sogar meine Würde hat er wiederhergestellt, ich bin kein Waisenkind mehr. Er hat mich in den Stand als Königskind zurückversetzt. ‚Bringt die besten Kleider im Haus und zieht sie ihm/ihr an. Holt einen Ring für seinen/ihren Finger und Sandalen für seine/ihre Füße. Und schlachtet das Kalb, das wir im Stall gemästet haben, denn mein Sohn, meine Tochter hier war tot und ist ins Leben zurückgekehrt. Er/sie war verloren, aber nun ist er/sie wieder gefunden‘ (Lukas 15,22–24, Einfügungen durch die Autorin).

Ich habe erkannt, dass Gott mich immer geliebt und gewollt hat – sein Ja zu mir stand immer fest. Ich entscheide mich ebenfalls für mein Leben, sage Ja zu mir selbst und zu meiner Geschichte. Gott spricht mir zu: ‚Ich habe dich schon immer geliebt. Deshalb habe ich dir meine Zuneigung so lange bewahrt. Ich will dich noch einmal errichten, sodass du wieder neu aufgebaut dastehst, du Jungfrau Israel. Du sollst wieder deine Tamburine nehmen und im Reigen lachend tanzen‘ (Jeremia 31,3–4). Nun geht es in die Zukunft, das Leben nach dem Trauma, nach der Trauer beginnt.“

Zukunftsperspektiven

Betroffene haben einen langen Weg zurückgelegt, vieles erkannt und verarbeitet. Sie haben dazugelernt und neue Kompetenzen entwickelt. Das, was zerbrochen war, ist wieder zusammengerückt, vieles schon eins geworden. Auch wenn ihre Erlebnisse schwer und erdrückend waren, haben sie tiefer als andere Menschen Gott selbst erlebt, sein Handeln und seine Gegenwart. Seine Liebe ist für sie nicht nur ein Wort, sondern lebendig geworden.

Der Blick beginnt sich zu heben. Neue Wahrnehmungen und Perspektiven werden möglich, die Gestaltung der Zukunft steht an. Die neu gewonnenen Möglichkeiten, Ressourcen und Gaben, die Gott in sie hineingelegt hat, können ausgebaut und weiter ins Leben integriert werden.

Lange Zeit war das Selbstbild mit folgender typischen Lüge verknüpft: „Mit dieser Vergangenheit kann nie etwas aus mir werden!“ Auch dies ist ein Irrtum.

Wenn wir Menschen mit Wunden und zerbrochenen Lebensgeschichten sind, dann ist das die gute Nachricht, die wir unbedingt hören müssen: Gott kann und will meine Wunden, meine größten Schwachheiten und mein schlimmstes Versagen nehmen und aus ihnen etwas Gutes machen. Etwas Neues, das wertvoll und ermutigend ist. Nicht nur für mich selbst. Was Gott an mir tun wird, wird sogar meinen Mitmenschen zum Segen werden.14

Indem Betroffene weiter auf Gott schauen, können sie sich selbst entdecken. Gott spricht ihnen ihre Identität zu. Mit seiner Wegweisung werden sie ihren weiteren Weg erkennen und in die Berufung ihres Lebens eintreten. Betroffene haben viel zum Weitergeben, sie können andere Menschen in ihrer Not ermutigen und freisetzen. Sie haben Gottes Wirken erlebt und Gott auf ganz besondere Art kennengelernt. Seine Wahrheiten haben sie nicht nur erkannt, sondern tief in ihrem Herzen verankert. Gott hat einen Plan für ihr Leben! Sie sind kostbar und unendlich wertvoll! Schritt für Schritt kann das neue Land, das Gott schon lange für jeden Einzelnen vorbereitet hat, eingenommen und gestaltet werden.

Das Ende einer Begleitung

Traumatisierte sind im Allgemeinen in der Lage, ihre Therapie zu beenden, wenn sie ein Gefühl innerer Kohäsion [Zusammenhalt] und Ganzheit entwickelt haben, sich von ihrer Geschichte distanzieren können, die Verantwortung für ihre gegenwärtige Situation übernehmen und für die Zukunft Pläne schmieden können. Sie sollten nicht mehr von ihrer Vergangenheit verfolgt werden, auch wenn diese gelegentlich in weniger intensiver Form reaktiviert wird … Sie sollten in der Lage sein, in ihrem Beruf und im Privatleben positive Beziehungen zu anderen Menschen aufzunehmen und sich ihres Lebens zu erfreuen.15

Betroffene haben während des Wiederherstellungswegs Stärkung ihrer Person, Zunahme an Kompetenz und tiefe Heilung erfahren, sie haben Gottes Hilfe, seinen Trost, Freisetzung durch seine Autorität und übernatürliches Wirken erlebt. Am Ende unserer Wegbegleitung sind sie zu folgenden Erkenntnissen gekommen:

All das Schlimme ist wirklich passiert.

Es ist mir geschehen.

Aber es ist vorbei.

Jede einzelne Scherbe meines zerbrochenen Kruges ist wertvoll, es ist wichtig, sie alle zu entdecken, damit sie durch Gottes Hilfe Heilung und Wiederherstellung erfahren.

Ich werde immer mehr eins, vieles ist schon eins geworden.

Durch Jesus und Gott Vater habe ich Trost und Heilung erfahren.

Lügen und falsche Überzeugungen, die mein Leben bestimmten, habe ich entdeckt und gegen Wahrheit und Hilfreiches ausgetauscht.

Durch und mit Jesus wurden Befreiung und Vergebung möglich.

Innerer Friede breitet sich aus.

Ich sage Ja zum Leben.

Ich bin Gottes Kind, ich bin wertvoll und kostbar, meine Berufung und Würde liegen in meiner Stellung als Königskind.

Hoffnung auf die Zukunft ist gewachsen.

Ich bin bereit, das Land einzunehmen, das Gott für mich geplant und vorbereitet hat.

Identität als Königskind

Vieles ist bereits geschehen, einiges wird mit Gottes Hilfe noch wahr werden, vielleicht bleibt auch manches unerfüllt, aber alle Erfahrungen, die Betroffene auf diesem Weg mit Gott gemacht haben, bleiben tief im Herzen verankert.

Nun können Betroffene ihren Weg allein fortsetzen. Die unterschiedlichen Wegbegleiter werden je nach Beruf und Berufung die Beziehung aufrechterhalten oder sich zurückziehen. Wegbegleiter aus dem nahen Umfeld oder der Gemeinde können zu Freunden werden. Wegbegleiter, die eine eher beratende oder therapeutische Rolle eingenommen haben, stehen zur Verfügung, falls die betreffende Person wieder einmal Rat oder für bestimmte Zeit erneut Unterstützung und Begleitung braucht. Immer an der Seite ist und bleibt Jesus. Er ist der beste und treueste Wegbegleiter, den es gibt!