Fehler und Grenzen

Das Miteinander gestalten • Überforderungen •

Die Wahrnehmung trainieren • Themen speziell für

Christen • Umgang mit Gottes Reden

In diesem Kapitel geht es um Fehler, die vermieden werden können, und Grenzen, die beachtet werden sollten. Dabei werden manche Themen der vorigen Kapitel erneut aufgegriffen.

Traumatisierte Menschen sind häufig schwer einzuschätzen. Aufgrund ihrer Zerrissenheit transportieren sie, abhängig von der jeweiligen Situation und dem gerade vorherrschenden Persönlichkeitsanteil, unterschiedlichste Botschaften von „Rühr mich nicht an, komm mir nicht zu nahe“ bis „Hab mich lieb, ich brauche dich“, von „Ich mach alles, was du sagst“ zu „Du hast mir nichts zu sagen!“ Zudem sind Betroffene ängstlich, extrem vorsichtig und zugleich höchst kontrollierend. Aufgrund dieser Zusammenhänge kommt es leicht zu Missverständnissen. Menschen, denen es an Wissen über Trauma und Folgen mangelt, die somit nicht einordnen können, was „Zerbrochenheit“ bedeutet, wie sie sich auswirkt und wie man mit ihr umgehen kann, bereitet es verständlicherweise Mühe, angemessen zu reagieren. Unsicherheit, Abwehr, Unverständnis, Fehleinschätzungen und Enttäuschungen sind die Folge. Da die Betroffenen besonders empfindsam sind, können sie leicht retraumatisiert (erneut traumatisiert) werden. Wenn dagegen Wegbegleiter gewisse Aspekte beachten, kann vielen Problemen vorgebeugt werden.

Das Miteinander gestalten

Vertrauen und Misstrauen

Wir haben bereits besprochen, dass es für Menschen, die so schlimme Dinge erlebt haben, die kontrolliert und misshandelt wurden, sehr herausfordernd und schwierig ist, Vertrauen zu fassen. Vertrauen darf nicht erwartet oder gar gefordert, sondern muss gewonnen werden. Die Zeitspanne, die zur Vertrauensbildung eingeplant werden muss, ist weit länger als bei anderen Ratsuchenden, immer wieder tauchen Ängste und Misstrauen auf. Dies ist bei der Wegbegleitung traumatisierter Menschen normal und braucht weder Betroffene noch Wegbegleiter zu irritieren.

Klare Absprachen vermitteln Sicherheit

Für Betroffene ist Unsicherheit extrem beängstigend. Unklare Absprachen, unterschiedliche und unausgesprochene Erwartungen führen schnell zu Missverständnissen. Dies kann vermieden werden. Gerade mit traumatisierten Menschen rede ich sehr klar und deutlich, erkläre viel und frage nach, z. B. ob unser Vorgehen für sie verständlich ist und sie damit einverstanden sind.

Auf keinen Fall sollten wir uns aufgrund der Not dazu verleiten lassen, Versprechen zu geben, die wir nicht halten können: „Ich werde dich nie alleinlassen! Ich bin immer da, wenn du mich brauchst! Du kannst mich jederzeit anrufen.“ Solche Aussagen führen zwangsläufig zu Enttäuschungen.

Freiheit lassen, Raum geben

Menschen, die von anderen bestimmt und kontrolliert wurden, reagieren höchst empfindlich, wenn sie das Gefühl bekommen, erneut manipuliert oder gedrängt zu werden. In den Gesprächen mit uns sollen sie entdecken, es geht um sie, und Freiraum und Freiheit erleben. Sie dürfen selbst die Entscheidungen treffen, sogar „schlechte“. Unsere Aufgabe ist, die Betroffenen trotzdem anzunehmen und zu achten. Heilung und Wiederherstellung sind ein Angebot, kein Zwang.

Gesunde Grenzen

Gegenseitige Grenzen müssen geachtet und respektiert werden, Betroffene haben häufig keine Vorstellung von gesunden Grenzen, ziehen diese zu eng und verbarrikadieren sich oder versuchen ihr Gegenüber ganz einzunehmen. So müssen wir Wegbegleiter Verantwortung für angemessene Grenzen übernehmen, sie definieren, miteinander besprechen und häufig auch die Einhaltung mit den Betroffenen einüben. Dies betrifft auch Themen wie unangekündigte Besuche, Anrufe, E-Mails, Treffen in der Gemeinde, zusätzliche Gesprächswünsche. Wenn Wegbegleiter aus Mitleid Grenzüberschreitungen der Betroffenen übersehen und hinnehmen, fördern sie das grenzenlose Verhalten. Betroffene lernen an uns, wie Beziehungen gestaltet und gegenseitige Grenzen geachtet werden können.

Abhängigkeiten und Bindungen

Meist erstreckt sich die Wegbegleitung über einen längeren Zeitraum, die Beziehung zueinander wird vertraut und tief. Es ist normal, dass sich ein verletzter Mensch, der sich – oft erstmals – gehört und verstanden erlebt, gerade in schwierigen und krisenhaften Zeiten an den Wegbegleiter klammert. Diese Abhängigkeit darf aber nur begrenzte Zeit bestehen, Ziele sind Eigenständigkeit und Freiheit. Betroffene sollen unabhängig von uns Wegbegleitern werden, tiefere Beziehung zu Jesus und Gott aufbauen und lernen, sich an ihnen zu orientieren.

Gegenüber bleiben

Bei der Wegbegleitung traumatisierter Menschen kommt es leicht zu Übertragung und Gegenübertragung. Opferanteile, innere Kinder, suchen eine Mama, einen Papa, jemand Starken, der alles für sie macht, jederzeit verfügbar ist und sie liebevoll umsorgt. Diese kindlichen Anteile können durchaus Mutter- oder Vatergefühle in uns Wegbegleitern hervorrufen. Kommt es zur Enttäuschung der meist übergroßen Erwartungen, kann der Wegbegleiter zum schlimmsten Feind, zum Inbild von Tätermutter oder Tätervater werden, die früher diese Bedürfnisse nicht gestillt haben.

Manche Menschen sind berufen, eine bestimmte Zeit lang jemandem geistliche Eltern zu werden. Damit nehmen sie in der Wegbegleitung eine besondere Rolle ein, aber auch dann ist wichtig, darauf zu achten, dass Betroffene erwachsen werden, lernen Verantwortung zu tragen, und nicht in Unselbstständigkeit und Abhängigkeit verharren.

Seelsorger, Berater und Therapeuten sollten immer Gegenüber bleiben, die Wegbegleitung zwar mit Empathie und Verständnis, aber zugleich gesundem Abstand und Freiraum gestalten. Sie stellen sich an die Seite der Betroffenen, nehmen ihre Rolle als Coach und Unterstützer ein, verstehen, ermutigen und vermitteln Hoffnung. Die Betroffenen werden in ihrer Erwachsenenposition und Eigenverantwortung gestärkt.

Verstehen statt verwickelt sein

Wichtig ist, dass wir gerade in der Konfrontation mit all den überwältigenden Gefühlen gesunden Abstand bewahren. Die Not der Betroffenen, ihre Verzweiflung, ihre Fragen und Vorwürfe, ihre Wut und ihr Hass nehmen uns mit. Ihre Glaubenszweifel stellen unseren Glauben in Frage. Ärger, Zorn und Anklagen, die sich gegen uns richten, können wir leicht persönlich nehmen. Nur wenn wir Wegbegleiter Gegenüber bleiben, können wir den Betroffenen verstehen helfen, was in ihnen vorgeht: Warum ist da so große Wut? Gegen wen richten sich die Anklagen wirklich? Welcher Anteil muss so reagieren? Womit hat die tiefe Hoffnungslosigkeit zu tun? Weshalb ist es in diesem Moment wichtig, so aggressiv aufzutreten?

Geht uns der nötige Abstand verloren, werden wir verwickelt, fühlen uns angegriffen, reagieren aus Betroffenheit oder werden selbst handlungsunfähig.

Abstand und Mitgefühl

Noch weit schwieriger als die Konfrontation mit negativen Gefühlen ist es, das Leid mitzuerleben, all das Schlimme, das Unfassbare zu hören und zu erfassen. Dabei Gegenüber zu bleiben, bedeutet nicht abgebrüht oder emotionslos zu sein. Mitempfinden und Empathie sind wertvolle Begabungen, als Christen sind wir dazu aufgefordert: „Sind andere Menschen glücklich, dann freut euch mit ihnen. Sind sie traurig, dann begleitet sie in ihrem Kummer“ (Römer 12,15). Unsere warmherzige Reaktion, Worte, die vermitteln: „Es tut mir sehr, sehr leid, dass du so Schlimmes erlebt hast! Es tut mir weh, zu hören, wie du gelitten hast“, sind wichtig und hilfreich. Oft haben Betroffene sich mit gegenteiligen Botschaften gequält: „Es war nicht so schlimm, ich stelle mich nur so an.“ Heute darf Schlimmes als schlimm bezeichnet werden, Unrecht als Unrecht, Lüge als Lüge. Wenn wir Wegbegleiter uns aber selbst im Leid, Schmerz und in der Hoffnungslosigkeit verlieren, können wir nicht mehr helfen.

Außerdem befürchten viele Betroffene, dem anderen zu viel zu sein oder zur Last zu fallen. Reagieren Wegbegleiter auf die berichteten leidvollen Erfahrungen mit starken Gefühlen, ziehen sich Betroffene schnell wieder zurück: „Lieber nichts mehr erzählen, das reicht schon. Ich könnte mein Gegenüber damit überfordern! Es wird ihm zu viel. Vielleicht schickt man mich dann weg! Also halte ich lieber meinen Mund.“ Wieder müssen Schmerz und Erinnerungen weggedrängt werden.

„Wenn jemand am Boden liegt, dann braucht er niemanden, der sich dazulegt oder über ihn hinwegsteigt, sondern jemanden, der den Überblick behält.“1 Nur als Gegenüber können wir Halt vermitteln und mögliche nächste Schritte aufzeigen. So gilt es, das rechte Maß zu finden, Mitgefühl zu zeigen und doch Gegenüber zu bleiben.

Berührungen

Britta: „Berührungen, das war für mich ein ganz schwieriges und heißes Thema! Mein ganzes Leben lang war ich, trotz der Familie und all der Freunde um mich herum, einsam und isoliert. Ich sehnte mich nach Nähe und Umarmung, aber mein äußeres Verhalten drückte genau das Gegenteil aus: Mir geht es gut. Ich komme alleine klar. Ich brauche keine Liebe! Innerlich dagegen bin ich fast kaputtgegangen. Als ich einmal bei meiner Freundin in der Küche saß, wurde sie von ihrer Mutter umarmt. In mir zog sich alles zusammen. Einerseits dachte ich: ‚Wow, dass so etwas möglich ist‘, andererseits: ‚Das ist doch viel zu eng, die können sich ja spüren!‘ Ich hatte einfach keine Ahnung, was normal ist und was nicht. Wenn jemand die Hand auf meine Schulter legte, fühlte sich das an wie heißes Eisen. Wenn jemand mich trotzdem einmal in den Arm nehmen wollte, dann wurde ich steif wie ein Brett, innerlich war alles auf Alarmstellung. Diese Spannung ist das Schrecklichste, das man sich vorstellen kann. Einerseits sehnt man sich so sehr nach Nähe, andererseits löst dies höchste Alarmstufe aus und es darf auf keinen Fall dazu kommen – grauenhaft! Oft habe ich mich dafür gehasst, dass ich diese Bedürfnisse nach Nähe und Umarmtwerden überhaupt habe.“

Gerade in der christlichen Beratung oder Seelsorge ist es durchaus üblich, Trost zu spenden, indem man den Arm um die Schulter legt oder den anderen in den Arm nimmt. Vielen Betroffenen tut dies gut, aber für Menschen, deren Grenzen überschritten wurden, können vor allem unvermutete Berührungen bedrohlich und erschreckend sein, sogar Flashbacks auslösen. So ist es wichtig, Betroffene zu fragen, was sie sich wünschen oder brauchen: „Möchtest du, dass ich mich zu dir setze, wenn du weinst? Oder kannst du gerade keine Nähe brauchen? Tut es dir gut, wenn ich dich in den Arm nehme?“ Berührungen können sehr heilsam sein: Betroffene erleben Trost, spüren Annahme, erfahren es, gehalten zu werden, und Gottes Liebe kann während der Umarmung in sie hineinfließen.

Alle Menschen machen Fehler

Dieses Kapitel beschreibt vieles, was falsch gemacht werden kann, vieles, was wir beachten sollten. Trotzdem werden uns Fehler unterlaufen, aber das ist nicht schlimm, denn wir können daraus lernen und uns weiterentwickeln. Auch Wegbegleiter sind nur Menschen, das dürfen und sollen die Betroffenen wahrnehmen. Wir können uns entschuldigen und vermitteln dabei eine wichtige Botschaft: Fehler können vorkommen, sie sind keine Katastrophe und nicht gleichbedeutend mit schrecklicher Strafe oder daraus resultierender Ablehnung.

Überforderungen

Nichts aufdecken ohne Grundstabilität

Auf der einen Seite neigen Betroffene dazu, Traumata ganz zu vermeiden, sie aus der Erinnerung zu verdrängen, auf der anderen möchten viele sich das Ganze endlich einmal von der Seele reden. Dabei besteht die Gefahr, dass sie zu viel sagen, damit verbundene Erinnerungen und Gefühle aktivieren und sich selbst überfordern. Das bisher gut gedeckelte Fass ist geöffnet und lässt sich nun nicht mehr einfach verschließen. Psychische und körperliche Überforderung bis hin zu Zusammenbrüchen kann folgen.

Wir müssen darauf achten, gerade am Anfang einer Wegbegleitung nicht zu tief nachzufragen, keine Erinnerungen hervorzuholen, die noch nicht gewusst werden dürfen, und Missbrauchssituationen keinesfalls genau schildern zu lassen. Behutsam bremsen wir die Betroffenen und erklären: „Ich verstehe, dass anscheinend Schlimmes geschehen ist, das wahrgenommen und gehört werden will. Du und ich, wir werden uns darum kümmern. Aber damit wir wirklich helfen können und die früheren Traumata nicht erneut überwältigen, ist es wichtig, zunächst gewissen Abstand einzunehmen und gemeinsam zu üben, wie man diesen immer wieder erreichen und aufrechterhalten kann.“ Betroffene lernen, aus der Vogelperspektive oder Beobachterrolle zu berichten, nur die wichtigsten Stichworte zu sagen und Gefühle zunächst auszuklammern.

Kopfüber hinein

Menschen sind ungeduldig, Betroffene wollen schnell heil werden und ihre Probleme, Ängste und negativen Gedanken, das gesamte Chaos hinter sich lassen. Wegbegleiter haben gute Ideen, sind motiviert und wollen Erfolge sehen. Immer wieder stürzen sich Betroffene und Wegbegleiter kopfüber in die Aufarbeitung von schlimmsten Kindheitserfahrungen. Leider folgen häufig Zusammenbrüche, Depressionen und Burnout. Auch das Argument von manchen Seelsorgern: „Wir machen das mit Jesus, dann kann ja nichts passieren“, finde ich leichtsinnig und unüberlegt. Selbst wenn während des Treffens alles gut zu gehen scheint, kann die Situation zu Hause ganz anders aussehen. Das „Fass“ ist geöffnet, die Betroffenen sind folgenden Überflutungen hilflos ausgeliefert. Sogar das empfindliche Vertrauen in die verändernde Kraft Jesu kann Schaden nehmen.

Grundsätzlich dürfen Menschen, die wenig Stabilität zeigen, die sich selbst oder andere gefährden, nie in Traumakonfrontationen geführt werden!

Flashbacks erfordern immer Reorientierung!

Flashbacks bedeuten nie Trauma-Integration, sondern reinen Wiedererlebensschrecken! Falls es durch innere oder äußere Auslöser zu Flashbacks kommt, muss als Erstes reorientiert werden.

FLASHBACKS BEDEUTEN NIE TRAUMA-INTEGRATION, SONDERN REINEN WIEDERERLEBENSSCHRECKEN!

Während eines Flashbacks kann nicht verstanden und verarbeitet werden, das Lernfenster ist verschlossen, es geht nur ums Überleben. In einer solchen Situation ist es auch nicht sinnvoll, Jesus zu bitten, dem betreffenden Anteil zu begegnen. Ebenso könnte man einem Blinden, der am Abgrund hängt, einen Strick hinhalten. So wie der Blinde den Strick weder sehen noch ergreifen kann, ist die traumatisierte Person in diesem Moment nicht in der Lage, Jesu Hilfe wahrzunehmen.

Ängste beachten

Betroffene haben viele Ängste, für uns Wegbegleiter manchmal schwer nachvollziehbar: „Warum stellt er sich nur so an? Warum geht sie die Schritte nicht, die jetzt nötig wären?“ Wir müssen daran denken, dass die Ängste ihren Grund haben. Meist verstecken sich tiefe Überzeugungen dahinter, die sich aufgrund der schlechten Erfahrungen entwickelt haben. Diese müssen erkannt, verstanden und überprüft werden. Können die Betroffenen wahrnehmen, dass manche Gedankengänge nicht mehr zur heutigen Realität passen, bestimmte Überzeugungen heute gar nicht mehr sinnvoll sind, können sie verändert und Ängste abgebaut werden. Die betreffende Person darf dabei zu nichts gezwungen, gedrängt oder überredet werden. In Jesus haben Betroffene einen Helfer, der stärker ist als alle Angst. Wir können die Macht der Angst in seinem Namen binden oder Jesus bitten, die Wucht der Angst auf sich zu nehmen. So werden Schritte möglich, die vorher unmöglich schienen.

Hinweise auf Überforderung

Nachdem Betroffene sich und ihre Grenzen nur wenig wahrnehmen, merken sie häufig spät, wenn sie sich überfordert fühlen oder sich selbst zu viel zugemutet haben. Dies wird oft erst aufgrund sichtbarer negativer Auswirkungen bemerkt: Verschlechterung der Alltagsbewältigung, vermehrte Flashbacks und Überflutungen, erhöhter Drang zu Selbstverletzungen oder depressive Verstimmungen. Hohe Erwartungen an sich selbst oder von anderen bringen Betroffene leicht unter Druck. Schnell fühlen sie sich unfähig und neigen zu typischen Selbstverurteilungen: „Ich bin ein Versager, typisch! Ich habe keine Chance, es wird sich nie etwas ändern! Nicht einmal Gott kann mit so einer Niete etwas anfangen!“ Selbsthass und Selbstbestrafung können folgen. Manchmal fallen Betroffene ganz in die Opferrolle, fühlen sich erneut ausgeliefert und ohne jede Kontrolle.

Immer, wenn wir solche Anzeichen entdecken, gilt es innezuhalten, das Tempo zu reduzieren und das Augenmerk erneut auf Stabilisierung, Trost und Ermutigung, Geborgenheit bei und in Gott zu richten.

Veränderungen brauchen Zeit und Kraft

Alle neu gewonnenen Erkenntnisse müssen von den Betroffenen verarbeitet werden, Veränderungen müssen umgesetzt werden. Meist sind die Betroffenen selbst ungeduldig, manchmal auch wir Wegbegleiter. Traumatisierungen, die sich über viele Jahre eingeprägt haben, bedürfen einer längeren Genesungszeit. Einen Hügel zu besteigen erfordert weniger Kraft und Zeit, als ein ganzes Gebirge mit Gipfeln und Tälern zu durchwandern.

Die Wahrnehmung trainieren

Ein Problem kann sein, dass unerfahrene Wegbegleiter gar nicht wahrnehmen, dass die Person, die zu ihnen kommt, traumatisiert ist. Gerade deshalb sind Fortbildungen und gute Literatur wichtig. Besonders Wegbegleitern mit wenig Erfahrung rate ich, sich ausführlich zu informieren. Nur wenn die typischen Reaktionen, Formulierungen und Hinweise entdeckt werden, kann angemessen reagiert werden.

Augen auf!

Viele Christen schließen die Augen, wenn sie beten oder versuchen, sich auf Gott auszurichten. Wegbegleiter sollten ihre Augen offen halten und wahrnehmen, was geschieht. Manchmal zeigen Betroffene während des Gebets oder der gemeinsamen Stille überraschende, für das weitere Gespräch bedeutsame Reaktionen: Ein Wechsel kann ausgelöst werden, die Person kann in einen Gefühlszustand geraten, in dem sie Hilfe braucht, auch Ängste vor oder Ablehnung gegen Gott können sichtbar werden.

Unnötige Konfrontationen vermeiden

Wenn Betroffene als Kinder im Keller, in engen Räumen oder Kisten eingesperrt waren, haben sie oft große Angst vor Spinnen oder Ungeziefer entwickelt. Eine dicke Fliege, die sich auf die betreffende Person setzt, kann großen Schrecken einjagen. Haustiere wie Katzen und Hunde können, je nach Vorerfahrungen, Abwehr und Panik auslösen, andererseits aber auch helfen, sich in der Gegenwart zu verankern. Bestimmte Gegenstände, Dekorationen oder Farben können als Trigger wirken. Für Betroffene, die rituellen Missbrauch erlebt haben, sind dunkle Kerzen, bestimmte Symbole wie ein „großes Auge“ oder die Farben Schwarz und Rot schwierig, auch Worte wie „Opfer“ oder „reingewaschen durch sein Blut“ sollten mit Vorsicht benutzt werden. Um für die Gespräche einen Schutzraum gestalten zu können, ist es wertvoll, diese individuellen Einschränkungen und Besonderheiten zu beachten.

Für manche Betroffene ist die Wahl des richtigen Sitzplatzes wesentlich. Falls sie viel kontrollieren müssen, vermittelt es ihnen Sicherheit, die Tür im Blick zu behalten. Der Weg zum Ausgang sollte frei sein. Es ist ungünstig, wenn Fenster sich im Rücken befinden. Hilfreich ist, den Betroffenen immer wieder Entscheidungsmöglichkeiten einzuräumen und nachzufragen, ob die Gesprächssituation für sie gut ist oder sie einen bestimmten Wunsch haben.

Worte und was gehört wird

Bestimmte Worte oder Sätze können Erinnerungen, heftige Gefühle oder Flashbacks auslösen. Natürlich wissen wir im Voraus nicht, welche Worte das sind, aber wir können aus den Erfahrungen lernen:

Lisa und ich sprachen über die körperlichen Misshandlungen des Vaters. Angst kam hoch und mit ihr ein kindlicher Anteil nach vorn. Ich versuchte ihm Sicherheit zu vermitteln und sagte: „Ich will dir doch helfen!“ Lisa fiel in ein Flashback. Später entdeckten wir: Der missbrauchende Vater hatte genau diese Worte gesagt, um Lisa in Sicherheit zu wiegen, dann aber genau entgegengesetzt gehandelt. In Zukunft habe ich diese Worte natürlich vermieden!

Während des Gesprächs müssen wir Wegbegleiter die Augen offen halten und wahrnehmen, was unsere Worte auslösen oder wie unser Gegenüber reagiert.

Anteile und ihre Anliegen

Störungen, Widersprüche, plötzliche Meinungsänderungen dürfen nicht übergangen, weggeschoben oder verurteilt werden. Das würde bedeuten, dass sie wiederum verdrängt werden müssen und nicht bearbeitet werden können.

Angelas plötzliche Blockade: Ich war im Gespräch mit Angela, einer neuen Klientin, die mit mir ihre Gottesbeziehung betrachten wollte. Sie hatte wegen ihrer massiven Ess-Störungen schon mehrere Jahre Therapie hinter sich und galt als therapieresistent. Trotzdem arbeitete sie sehr gut mit. Wir sprachen gerade über das Thema Vaterschaft: was ein liebevoller Vater für seine Kinder empfindet, wie er sich ihnen gegenüber verhält und was er ihnen gerne gibt. Plötzlich verschränkte Angela die Arme und erklärte mir ziemlich mürrisch, dass sie jetzt keine Lust mehr habe. Sie wolle nicht weiter mit mir reden. Zuerst war ich kurz irritiert, dann fragte ich nach, ob sie einmal nach innen schauen könne, wer denn keine Lust mehr habe. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich weder mit Dissoziation gerechnet, noch hatten wir über diese Möglichkeit gesprochen. Angela konnte in ihrem Inneren sofort ein siebenjähriges Mädchen entdecken. Ich erkundigte mich: „Will das Mädchen uns etwas mitteilen?“ – „Nein, es möchte einfach spazieren gehen, das Wetter ist doch so schön!“ – „Ja, das kann ich gut verstehen, dass ein siebenjähriges Mädchen es langweilig findet, sich so lange zu unterhalten.“ Auch wenn wir zuvor noch nie über innere Jesusbegegnungen gesprochen hatten, fragte ich auf einen Impuls hin: „Könnten wir Jesus bitten, diesem Mädchen innerlich zu begegnen?“ Sie stimmte zu. Ohne Probleme konnte sie sehen und beschreiben, wie Jesus zu der Kleinen ging und freundlich mit ihr sprach. Nach einer Weile erklärte Angela mir, die beiden würden sich Hand in Hand zu einem Herbstspaziergang aufmachen und durch die bunten Blätter gehen. Ich bot der Erwachsenen ebenfalls eine Pause an, damit auch sie einen Herbstspaziergang machen könne, aber sie wollte am Thema weiterarbeiten. Beim nächsten Treffen berichtete sie mir, ihr sei es bereits häufig passiert, dass sie mitten in herausfordernden Gesprächen plötzliche Unlust verspürt und dies geäußert habe. Bisher wurden die Gespräche dann beendet, ihr wurden Unwille und mangelnde Bereitschaft zur Mitarbeit vorgeworfen.

Wie wichtig ist es, Dissoziation zu erkennen und angemessen damit umzugehen! Oft begegnen wir verschiedensten, den Betroffenen nicht bewussten, „Fluchtmechanismen“. Alles hat seinen Grund. Immer geht es darum, den Anteil zu entdecken, der mit diesem Verhalten verbunden ist, sein Agieren zu verstehen und Schritt für Schritt zur Veränderung zu führen.

Co-Bewusstsein fördern

Während der Gespräche sollen sowohl der anscheinend normale Persönlichkeitsanteil (ANP) als auch die inneren Anteile (EPs) die Informationen hören und aufnehmen. Manchmal rede ich „durch den ANP hindurch“ zu den EPs, manchmal betone ich, dass diese Botschaft allen gilt. Immer wieder ist es notwendig, den ein oder anderen Satz zu wiederholen, weil das Gesagte noch nicht angekommen ist. Die Person war abgelenkt, zu viele andere Gedanken waren da, im Inneren war es laut oder ein anderer Anteil hatte sich nach vorne geschoben.

Kommunikation und Weiterleitung von Informationen sind bei Dissoziation grundlegende Themen. Häufig befinden sich die Anteile noch auf kindlichem Wissensstand, halten an Überzeugungen fest, die aufgrund ihrer meist schlechten Erfahrungen entstanden sind. Vieles muss erklärt, Wahrheiten müssen transportiert werden, damit die Betroffenen mit all dem, was in ihnen ist, erkennen können, dass manche dieser Überzeugungen heute nicht mehr sinnvoll sind.

Tangiert man im Gespräch Traumata oder besonders schwierige Themen, geschieht es immer wieder, dass der ANP sich unbemerkt davonstiehlt. Das wird spätestens dann deutlich, wenn wir am Ende der Gesprächszeit oder beim nächsten Treffen das Geschehene rekapitulieren. Blickt der ANP dann verwundert mit großen Augen, ist wohl nicht viel bei ihm angekommen. Die Arbeit allein mit den EPs ist langfristig nicht sehr hilfreich, der Informationsfluss bleibt gestört. Vielleicht hat ein EP durch Jesus Hilfe erlebt und fühlt sich getröstet, aber der Rest der Person weiß nichts davon, die Abspaltung bleibt bestehen. Deshalb ist es unerlässlich, dass der ANP auf irgendeine Art an der Arbeit beteiligt ist oder zumindest als Beobachter anwesend bleibt! Auch die anderen Anteile, vor allem diejenigen, die Ähnliches erlebt haben, sollten mit wahrnehmen, was gesprochen, erkannt und verändert wird.

Erkennen, was im anderen vorgeht

Petra erzählte mir folgende Erfahrung: Sie hatte eine Seelsorgerin aufgesucht, da sie mit ihr das Thema Kontrolle besprechen wollte. Als Einstieg sollte sie ihr Lebenshaus malen und beschreiben, wer dort auf dem Thron säße. Es war die Kontrolle. Im anschließenden Gespräch wurde Petra aufgefordert, die Kontrolle vom Thron zu werfen. Obwohl es ihr schwerfiel und „sich in ihr alles wehrte“, war Petra gehorsam und formulierte die entsprechenden Worte. Die Seelsorgerin war zufrieden und fragte nicht weiter nach.

Am nächsten Tag war Petra sehr unruhig, irgendetwas war nicht in Ordnung. Da sie es nicht in Worte fassen konnte, malte sie erneut ein Bild: das Lebenshaus, innen ein leerer Thron; außen, neben dem Haus, eine riesengroße Gestalt, die das ganze Haus in ihren Händen hielt – die Kontrolle. Das Bild erschreckte sie sehr. Da sie aber ihre Seelsorgerin nicht enttäuschen wollte und sich für ihr Bild schämte, bat sie nicht weiter um Hilfe.

Ein unglückliches Ende. Die Seelsorgerin hatte es gut gemeint. Sie dachte weiterhin, das Problem mit der Kontrolle hätte sich erledigt. Petra verschwieg, was sie entdeckt hatte, und versuchte das Bild tief in sich zu verdrängen.

Dieses Beispiel verdeutlicht, wie wichtig es ist, immer wieder nachzufragen: „Wie geht es dir mit diesem Vorschlag? Was denkst du jetzt? Gibt es dazu noch etwas zu sagen? Wie hat sich dein inneres Bild verändert?“ Widersprüche und Probleme dürfen sein und sollen geäußert werden!

Am Ende eines Gesprächs

Rechtzeitig, bevor die gemeinsame Zeit zu Ende geht, müssen wir Wegbegleiter darauf achten, wie es der betreffenden Person geht. Gibt es noch irgendetwas, was bis zum nächsten Treffen auf Abstand gebracht oder gut verwahrt werden muss? Ist mein Gegenüber wieder im Hier und Jetzt orientiert? Alltagsthemen helfen der erwachsenen Alltagsperson, wieder ganz nach vorne zu kommen und sich in der Realität zu verankern: „Was hast du heute noch vor? Wie geht es deiner Familie? Wann habt ihr wieder Hauskreis? Was wirst du heute kochen? …“ Sind Betroffene nach dem Gespräch sehr erschöpft, brauchen sie Zeit, bis sie nach Hause fahren können: einen Sessel, auf dem sie noch eine Viertelstunde ausruhen, einen Spaziergang, bevor sie sich ans Steuer setzen.

Themen speziell für Christen

Glaube kann auch krank machen

Ist der Glaube sehr eng, dreht sich hauptsächlich um Schuld und Sünde, lässt wenig Freiheit und legt hohen Erwartungsdruck auf, kann er krank machen. Auch wenn schwierige Tatsachen geleugnet werden müssen, die traurige Wahrheit nicht sein darf, Krankheit und Leid keinen Raum bekommen, müssen Menschen sich verbiegen, um in einem solchen Glaubenskontext existieren zu können. Betroffene finden keine Hilfe und Unterstützung, sondern erfahren Druck und Ausgrenzung. Bedenklich ist auch, wenn Heilung verkündet wird und betroffene Menschen aufgerufen werden, Medikamente und therapeutische Hilfe abzusetzen, da „nur Gott allein wirken möchte“. Gott heilt, aber auf unterschiedliche Art und Weise!

Fromme Sätze

Häufig nehmen wir Christen es gar nicht wahr, wenn wir im frommen Jargon reden, typische Schlagworte verwenden, Ansichten und Erwartungen verbreiten, die für einen Christen „normal“ sind, die wir aber nie genauer überprüft haben. Wie leicht formulieren wir fromme Worte wie: „Gott ist in den Schwachen mächtig!“, die einem tief verzweifelten Menschen nicht wirklich weiterhelfen. Aufforderungen wie: „Du musst nur vergeben, dann …“, „In Jesus bist du schon heil, du musst es nur ergreifen“, „Wenn du immer noch Probleme hast, muss es an dir liegen“, transportieren nicht Hilfe und Verständnis, sondern Druck und Distanz. Sicherlich werden manche dieser Sätze unbedacht, aus Hilflosigkeit oder Unwissen formuliert. Oft verbirgt sich dahinter Angst, sich dem Leid und den damit verbundenen schwierigen Fragen zu stellen. Viele Menschen erwarten schnelle Heilung und können schwer damit umgehen, dass der Wiederherstellungsweg aus dem Trauma lang, anstrengend und für alle Beteiligten herausfordernd ist. Es bedeutet für jeden Christen eine Herausforderung, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen, wie Gott so entsetzliche Geschehnisse zulassen konnte und warum er nicht auf andere Art und Weise eingegriffen hat. Kein Wunder, dass viele Menschen sich diesen Fragen lieber entziehen.

Der Unterschied von Selbstverleugnung und Heilung

„Jesus macht alles neu, die Veränderung muss nun aber doch sichtbar werden! Warum dauert es so lange? Du musst im Geist wandeln und das Fleisch verleugnen. Gefühle betrügen nur, sie sind fleischlich und vom Feind! Gott darf man nicht kritisieren! Du musst deine ganze Kraft einsetzen, dich und deine Bedürfnisse verleugnen, um ihm zu gefallen.“ Wenn Betroffene solche Botschaften erhalten, bleibt ihnen nichts anderes, als das Verletzte und Unangepasste, ihre wohl unangebrachten Gefühle, Gedanken und Probleme erneut abzuspalten. Sie passen sich an und verbergen ihre Not. Der Schmerz wird verleugnet, im Glauben der Sieg beansprucht, der Blick ist nach vorne gerichtet. Eine gewisse Zeit zeigt die Anstrengung Erfolg, Betroffene erleben vorübergehenden Sieg. Aber immer müssen sie wachsam sein, aufpassen und alle Kraft einsetzen, sonst befinden sie sich wieder auf der Verliererseite. Kein Wunder, dass so viele Betroffene klagen, ihr Leben sei entsetzlich anstrengend.

Lisas Zeichnung zeigt die funktionierende Christin, nett und freundlich, stark und kompetent. Nur wer genau hinsieht, erkennt, dass es sich um eine Attrappe handelt. Dahinter verbirgt sich die eigentliche Lisa, diejenige, die voll Schmerz und Verzweiflung ist und, weil sie fürchtet, ansonsten für immer verloren zu sein, mit letzter Kraft die Attrappe aufrecht hält.

Nur eine Attrappe

Aber ist es wirklich geistlich, Gefühle zu verleugnen und zu unterdrücken? Ist so ein Leben tatsächlich ehrlich und authentisch? Ist ein kontrollierter Lebensstil, der es ermöglicht, alles, was noch nicht heil ist, zu verdrängen, tatsächlich das, was Gott sich wünscht?

Ich denke nicht. Das, was zerbrochen ist, kann keine Heilung erleben, solange es zugedeckt und verborgen bleiben muss. Die innere Not wird erst gar nicht mit dem in Kontakt gebracht, der gekommen ist, um die Verletzten zu heilen und die Gefangenen zu befreien. Geht es nicht viel mehr darum, dass Betroffene Gottes Liebe, seine Wiederherstellungskraft, seinen Trost und seine Fürsorge tatsächlich erfahren und in der Tiefe ihres Herzens erkennen, welch guter Vater er ist?

Wer seine Seele ehrlich vor Gott öffnet, den erwartet kein Strafgericht, sondern die Barmherzigkeit eines verständnisvollen, barmherzigen und vergebenden Vaters. Er krönt die Seele mit seiner Liebe und Gnade.2

Heilung bedeutet, ehrlich zu werden vor sich selbst, sich zu überprüfen und der oft bitteren Wahrheit zu stellen, im eigenen Erkennen Gott das Herz zu öffnen, damit er wirken und verändern kann. So können Betroffene von Jesus liebevoll ermutigt werden, seinen Trost in ihrem Schmerz spüren, Wiederherstellung ihrer verletzten Würde erfahren und erleben, wie tiefsitzende Lügen durch Gottes Wahrheit verändert werden.

Heilung erfahren zu haben bedeutet etwas grundlegend anderes als sich selbst verleugnen zu müssen! Freude zu spüren ist so viel mehr als sich zur Freude zu entscheiden! Betroffene sollen nicht erneut abspalten um vor Gott und ihren Mitchristen bestehen zu können, sie sollen ganz, ungeteilt werden.

Ungeteilt sein heißt, uns mit unseren schwierigen Gefühlen auseinanderzusetzen, statt sie zu unterdrücken. … Ungeteilt sein und glauben heißt, Gottes Geist zu erlauben, den Abstand zwischen unserem religiösen Verhalten und unseren tatsächlichen Überzeugungen und Empfindungen zu überwinden. Er möchte uns zu Menschen machen, die echt und ehrlich zu beten beginnen. Zu Menschen, welche die Worte der Bibel in das Innerste ihres Herzens hineinlassen und sich von ihnen versöhnen lassen.3

Christliche Themen – anders betrachtet

„Vergebung ist die Grundlage jeder Seelsorge“

Im Grunde stimmt diese Aussage, aber schnell wird Vergebung zum „Muss“. Ein guter Christ muss vergeben. – Vorschnelle Vergebung kann bewirken, dass die mit den Verletzungen verbundenen Gefühle und Überzeugungen samt den zugehörigen Persönlichkeitsanteilen weiter abgespalten bleiben müssen. Manche Verletzungen sind so tief, dass die Zusammenhänge nicht bewusst greifbar sind, „Gehorsamsvergeben“ führt zu frustrierenden Erfahrungen: „Viele Menschen sitzen fest auf altem Groll, der offiziell vergeben ist. Trotzdem sind diese Menschen immer, wenn kleine Erinnerungsreize kommen, hilflos ihren jetzt verbotenen Grübeleien ausgeliefert.“4

Vergebung ist ein Prozess, in dem beachtet werden sollte, wann welcher Schritt möglich und sinnvoll ist. Negative Gefühle, Wut, Bitterkeit, Resignation sollen erkannt werden, damit auch hier Veränderung stattfinden kann. Verletzungen und Verluste in ihren Auswirkungen und Folgen wahrzunehmen, gehört dazu. Manchmal werden auf einem längeren Wiederherstellungsweg wichtige Zusammenhänge, Verletzungen und Schuld erst im Lauf der Zeit offensichtlich. So ist es hilfreich, sich den Vergebungsprozess wie die Schalen einer Zwiebel vorzustellen. Schicht für Schicht wird erkannt und abgetragen. Dabei finden Trost, Reinigung und Heilung statt, eigene Schuld wird vors Kreuz gebracht und die Schuld anderer an Gott, den Richter übergeben.

„Negativen Gefühlen gibt man keinen Raum!“

„Mit Gott brauchen wir doch keine Angst zu haben! Hoffnungslosigkeit kennt ein Christ nicht. Hass ist Sünde! Negative Gefühle sind nicht erlaubt.“ Viele Christen sind von solchen Überzeugungen geprägt. – Gott hat uns Menschen mit Gefühlen geschaffen, auch „negative“ Gefühle wie Angst, Hass, Wut oder Zweifel haben ihren Platz. Sie geben uns Hinweise, dass in unserem Leben etwas nicht in Ordnung ist. Wenn sie nicht mehr versteckt werden müssen, sondern sein dürfen, können sie untersucht und Ursachen gefunden werden. Nur so sind bleibende Veränderungen möglich.

„Gott macht keine Fehler!“

Wie reagieren wir, wenn Betroffene Glaubensprobleme, Zweifel und Vorwürfe gegen Gott äußern? Wir Wegbegleiter müssen Gott nicht verteidigen oder beschützen! Auch Wut und Anklagen gegen Gott und Jesus dürfen formuliert werden. Gott stürzt deshalb nicht vom Thron. Er kennt ja das Herz jedes Menschen, er weiß, woher die Enttäuschungen kommen. Hinter den schroffen Worten verstecken sich meist tiefer Schmerz und Verzweiflung. Diese sollen Trost erfahren.

„Falsche Haltungen gehören ans Kreuz!“

Manchmal sind wir sehr schnell damit, alles, was nicht zum Bild unseres Christseins passt, ans Kreuz zu geben. Das ist richtig und wichtig, wenn es Sünden, erkannte Lügen oder schlechte Gewohnheiten eines „ganzen“ Menschen betrifft. Wenn ein Mensch jedoch zerbrochen ist und es sich um Verhaltensmuster innerer Anteile handelt, können diese nicht einfach am Kreuz abgelegt oder durch ein Befreiungsgebet entfernt werden! Sie sind eng mit dem jeweiligen inneren Anteil verbunden. Dieser muss in den Veränderungsprozess miteinbezogen werden, damit dauerhafte Erneuerung stattfinden kann.

„Kontrolle ist schlecht!“

Betroffene sind häufig sehr beschämt, wenn sie wahrnehmen, wie sehr sie ihre Umgebung und andere Menschen bisher kontrolliert haben, und möchten diese ungeliebte Verhaltensweise schnell loswerden. Wir müssen jedoch bedenken, dass Kontrolle bei traumatisierten Menschen Überleben gesichert hat. Innere Beschützer wissen keinen anderen Weg, um ihrer Aufgabe gerecht zu werden – sie müssen kontrollieren. Bevor die Betroffenen ihr kontrollierendes Verhalten ablegen können, muss Sicherheit wachsen und müssen neue Reaktionsmöglichkeiten entdeckt werden. Die betroffenen Anteile brauchen Verständnis und Informationen, Ursachen der Kontrolle und damit verbundene Überzeugungen müssen realisiert werden. Erst wenn die nötigen Voraussetzungen für Veränderung geschaffen sind, kann Kontrolle abgebaut und abgelegt werden.

„Verleugnung ist Sünde!“

Meist wird Verleugnung als Sünde bezeichnet, als fehlende Bereitschaft, sich der Wahrheit zu stellen. Bei Menschen, die so viele Jahre in missbräuchlichen Lebensumständen verbracht haben, ist Verleugnung keine Sünde, sondern war überlebensnotwendig! Erst wenn ausreichende Sicherheit aufgebaut werden konnte, Vertrauen gewachsen ist, Ängste abgenommen haben und die Betroffenen neue Bewältigungskompetenzen entwickeln konnten, kann die Verleugnung Schritt für Schritt überwunden werden.

Vorsicht mit Befreiungsgebeten

Andere Stimmlage, deutliche Veränderungen des Gesichtsausdrucks oder der Haltung sind bei Traumatisierten primär Hinweise auf Dissoziation, nicht auf Dämonisierung. Innere Anteile, auch Täteranteile, kann man nicht „wegbeten“! Aufgrund von Überlastung und Angst können Betroffene hyperventilieren, Schreikrämpfe bekommen oder sogar beginnen zu krampfen, was wiederum als dämonische Manifestationen fehlinterpretiert werden kann.

Erfahrungsgemäß führen typische Befreiungsdienste kaum zu nachhaltigen positiven Auswirkungen, dagegen erleben sich Betroffene währenddessen erneut ausgeliefert, Retraumatisierungen können stattfinden. Zurück bleiben Schuldgefühle, Hilflosigkeit und Entmutigung: Selbst Gott kann oder will mir nicht helfen.

Anna: „Mir ging es schlecht, negative, zerstörerische Gedanken und Gefühle verfolgten mich, meine vielen Versuche, heil zu werden, zeigten so wenig Erfolg. Verzweifelt suchte ich Hilfe. Da niemand mehr wusste, warum nichts wirklich zu helfen schien, war die einzige Erklärung, der Feind sei schuld. In der Folge erlebte ich wiederholte Befreiungsdienste. Währenddessen kam ich immer wieder in unerklärliche Zustände. Mein ganzer Körper begann heftig zu zittern, ich bekam keine Luft mehr und hatte Angst zu ersticken. Dann wieder konnte ich mich kaum bewegen, war wie gelähmt, ein anderes Mal tat mir mein ganzer Körper weh. Mir wurde gesagt, ich spiele dies nur vor, lasse mich von den Mächten dazu gebrauchen. Ich könnte es einfach abstellen, wenn ich wollte, denn ich machte mich selber zum Spielball. Dann wurde lauter und intensiver gebetet. Ich fühlte mich bedroht und ausgeliefert. Wenn mich jemand berührte, erstarrte alles in mir. Nie interessierte sich irgendjemand für meine Zerbrochenheit. Ich sollte nur vergeben und war selbst schuld, wenn ich immer noch nicht frei war.

Andere wiederum sahen diese körperlichen Veränderungen als Zeichen einer besonders starken Gebundenheit. Der Teufel hätte noch Anrechte und ich Sünde, also könnte ich nicht frei werden. Ich musste vor fremden Menschen intimste Details nennen, immer wieder Buße tun bezüglich jeder kleinsten Haltung, die nicht ganz in Ordnung war. Im Rückblick kann ich das, was damals geschehen ist, kaum fassen. Es war wie eine erneute Vergewaltigung, ich fühlte mich nackt und ungeschützt.

Einmal wurde mir vorgeworfen, ich würde während des Befreiungsdienstes nur passiv herumsitzen, als interessiere mich das Ganze nicht. Ich wurde aufgefordert, laut zu widerstehen, mich nicht meiner Passivität und anderen Symptomen hinzugeben. Ich aber war zu keiner Reaktion fähig, konnte nicht sprechen, war wie gefangen in meinem eigenen Körper. Ich saß apathisch da, ließ alles über mich ergehen, konnte dem Gebet nicht mehr folgen. Ich hatte Mühe anwesend zu bleiben, nahm vieles nur noch aus der Ferne wahr. Ich hatte furchtbare Angst, das Bewusstsein zu verlieren und damit jegliche Kontrolle. Immer wieder sagte man mir, ich müsste einfach nur glauben, dass ich frei sei. Und dabei ging es mir so schlecht. Damals hatte ich Angst, diese Situationen nicht zu überleben. Anschließend fühlte ich mich oft ebenso ohnmächtig wie damals, als all das Schlimme geschehen war. Tagelang war ich verwirrt. Ich verstand nicht, was geschehen war und weshalb ich wieder so seltsam reagiert hatte. Ich hatte große Angst, doch vollkommen besessen zu sein. Verzweifelt kämpfte ich gegen Selbstmordgedanken. Ich konnte es fast nicht mehr ertragen, dass für mich gebetet wurde. In mir wuchs die Überzeugung, niemand könne mir wirklich helfen – das war das Schlimmste für mich. Schuld war immer ich!

Wenn ich zurückdenke, haben diese Erlebnisse mich zutiefst beschämt. Zugleich bin ich aber auch wütend darüber, wie man mich behandelt hat.“

Annas Schilderungen sind sehr eindrücklich. Diese Befreiungsdienste waren nicht hilfreich, verstärkten eher ihre Qual. Vieles wirkte als Trigger und führte zu den „seltsamen Reaktionen“, die wir als Freeze- und Submit-Zustände, Flashbacks, Panikattacken, körperliche Reaktionen, Hyperventilation und daraus folgende Verkrampfung identifizieren können. Aus dem Kapitel „Zurück ins Leben – Annas Weg“ kennen wir Annas Geschichte. Viele Anteile trugen entsetzliche Erinnerungen, kein Wunder, dass in Anna so vielfache negative, traurige, wütende, schamvolle, verurteilende Gedanken und Gefühle waren. In ihrem Fall war ein langer, umsichtiger Heilungsweg mit Jesus wichtig.

Tatsächlich gab es in ihr auch Anrechte des Feindes, vor allem, weil einige Traumata rituelle Hintergründe hatten. Schritt für Schritt erkannten wir Zusammenhänge und entdeckten, welche Anteile betroffen waren. Diese wurden in ihrer Not gehört, schließlich eingeladen, Jesus zu begegnen, konnten ihn so selbst kennenlernen und sich für das Leben im Licht entscheiden. Auf diese Weise veränderten sich ihre traumageprägten Überzeugungen. Anna konnte mit ihnen die Anrechte des Feindes widerrufen. All dies konnte in Ruhe, ohne Druck und im Vertrauen auf Jesu Autorität geschehen.

Formulierungen überdenken

Oft haben kindliche Anteile Angst vor Gott und Jesus: „… schließlich sind das auch männliche Wesen!“ Manche Anteile kennen Gott überhaupt nicht. Häufig ist das Wort „Vater“ nicht positiv belegt.

„Jesu Blut“ oder sein „Opfer“ können schwierige Begriffe sein für Menschen, die rituellen Missbrauch erlebt haben. Die Aufforderung zur „völligen Hingabe“, wie sie auch in Liedtexten vorkommt, erinnert an die völlige Auslieferung, die einige Betroffene erleben mussten. Wieder ist wichtig, wahrzunehmen, was Worte in den Betroffenen bewirken, und andere Formulierungen zu finden.

Gott vertrauen ist nicht so einfach

Ich habe einige Betroffene begleitet, die von der Aufforderung, „einfach mehr zu glauben“, sehr frustriert und verletzt waren. Versagen, geringe Fortschritte oder nicht erfolgte Heilung werden schnell mit „mangelndem Glauben“ in Verbindung gebracht. Somit liegen Schuld und Ursache ihres Leids wieder bei den Betroffenen, genau wie ihnen bereits früher vermittelt wurde.

Aufgrund ihrer Zerbrochenheit existieren in den Betroffenen unterschiedliche Meinungen und Glaubensüberzeugungen, gleichzeitig Vertrauen und Misstrauen, Sehnsucht und Ablehnung! Dies darf nicht verurteilt oder negativ bewertet werden. Wieder geht es darum, zu verstehen, abzuholen, die Wahrheit zu verkünden und alle zur Gottesbeziehung einzuladen. Niemand, auch kein innerer Anteil, wird dazu gezwungen oder soll sich aus Angst oder Druck entscheiden müssen.

Jede betroffene Person darf selbst bestimmen, welche Tiefe der Gottesbeziehung und welche Art der Begegnung sie sich wünscht und wozu sie bereit ist. Für Gott gibt es nicht nur das eine oder das andere. Seine Kreativität ist unermesslich, er kennt viele Wege, um seinen Kindern zu begegnen und ihnen zu helfen.

Glaube ist eine Einladung

Der christliche Wiederherstellungsweg ist kein Evangelisationsinstrument. Betroffene Menschen sollen Hilfe erfahren und Möglichkeiten kennenlernen. Unser Ziel ist, dass die Betroffenen zunehmend innere Fähigkeiten entwickeln, sich selbst und ihr Leben, aber auch Gottes Angebote und Wahrheiten besser verstehen zu lernen, sodass sie fähig werden, verantwortliche Entscheidungen vor sich, anderen und Gott zu treffen. Sie dürfen sich auch für einen Weg ohne Gott entscheiden.

Umgang mit Gottes Reden

Prophetien

Gott spricht zu den Betroffenen und zu uns Wegbegleitern. Nicht immer sind die Worte, die wir empfangen, zur direkten Weitergabe bestimmt. Oft gibt Gott uns Hinweise oder will uns auf etwas vorbereiten. Manche Eindrücke beschreiben Zukünftiges, manche sollen helfen, Hintergründe zu verstehen, oder dazu anregen, im Stillen für die Person zu beten.

Ganz wichtig ist es auch, dass wir in der Art, in der wir Eindrücke weitergeben, die Liebe und die Annahme Gottes widerspiegeln. Alles, was wir sagen, muss durchdrungen sein von der absoluten Achtung vor der Persönlichkeit des anderen. … Auch im Namen Gottes darf ich nicht Druck ausüben, nicht manipulieren und nicht suggerieren, nicht bloßstellen und nicht beschämen. Was ich nicht in Liebe und Annahme und ohne Verletzung des Respekts sagen kann, sollte ich besser gar nicht sagen – auch nicht als ‚prophetischen Eindruck‘ oder seelsorgerlichen Rat.5

Worte Gottes besitzen große Macht. Wir Menschen können uns irren, können falsch hören. Nie dürfen wir empfangene Worte den Betroffenen „überstülpen“. Immer liegt es in der Verantwortung des Empfängers, zu prüfen, was wirklich auf ihn zutrifft und er für sich annehmen will oder auch nicht. Formulierungen wie: „Gott sagt dir …“, „Jesus hat mir gezeigt, dass du …“, halte ich für gefährlich. Eine betroffene Person muss schon viel innere Stärke haben, um sich davon distanzieren zu können.

Als besonders hilfreich erachte ich es deshalb, wenn Menschen selbst mit Gott in Kontakt kommen oder Jesus innerlich begegnen und direkt, ohne Vermittler, Gottes Reden wahrnehmen.

Jesus wirken lassen – aber wie?

In Jesusbegegnungen geschehen Wirken, Handeln und Reden Gottes. Er übernimmt die Regie. Wir Wegbegleiter sollten dieses Geschehen achtsam und im eigenen Hören auf den Heiligen Geist begleiten und Jesu Wirken Freiraum geben. Immer wieder fragen wir nach, was Jesus noch tun möchte oder ob es noch etwas gibt, was er zeigen will. Übernehmen wir vorschnell selbst wieder die Führung, berauben wir die Betroffenen kostbarer Erfahrungen.

Andererseits müssen wir das Empfangene an den Aussagen der Bibel prüfen. Die Betroffenen könnten – ohne es zu merken – eigene Wunschvorstellungen auf Jesus projizieren oder von anderen Mächten beeinflusst werden. Im Zweifelsfall müssen wir unterbrechen und gemeinsam Jesus fragen: „Ist diese Botschaft wirklich von dir? Jesus, bitte führe du uns in alle Wahrheit.“ Manchmal binde ich andere Mächte oder bitte den Heiligen Geist, dass die eigenen Vorstellungen in dieser Zeit zum Schweigen kommen können. Andererseits dürfen wir Jesus nie vorschreiben, was er zu tun hat. Selbst Jesusbegegnungen können instrumentalisiert werden oder Betroffene sich dadurch unter Druck gesetzt fühlen. So jedenfalls war es Iris ergangen. Aufgebracht kam sie nach einem Vortrag zur Aufarbeitung von Traumata zu mir. Sie meinte, meine Ausführungen, wie Jesus inneren verletzten Kindern begegnet, sie tröstet und ermutigt, sei nur schöne Theorie. Bei ihr würde es jedenfalls nicht funktionieren.

Im Rückblick schildert sie ihre damalige Not.

Iris: „Meine Seelsorgerin meinte es gut, aber in ihrer Unwissenheit hat sie Fehler gemacht. Sie hat den betroffenen Anteil nicht gefragt, ob Jesus kommen dürfe. Sie hat Jesus diesem Anteil einfach übergestülpt, obwohl dieser dafür noch nicht bereit war. Dadurch kam große Ablehnung gegen Jesus auf. Da war doch die große Sehnsucht, endlich gehört und verstanden zu werden, aber auf den Schmerz wurde gar nicht eingegangen. Bei mir kam an: Das will niemand wissen – schon wieder nicht, genau wie damals! Im Inneren wurden Gedanken laut: ‚Dieser Jesus wird dann sowieso nur alles wieder wegwischen, so, als ob es nie geschehen wäre. Dann ist es wieder null und nichtig. Damit nimmt er dem Geschehenen die Existenz. Also doch ‚Pipifax‘, davon will wieder niemand etwas wissen. Nein, mit so jemandem will man nichts zu tun haben. Komm mir mit dem Jesus ja nicht zu nahe!‘ Mir war klar, es wollte doch einmal erzählt werden, gehört werden. So aber blieb die Botschaft: Das ist unwichtig, du bist unwichtig.“

Jesus achtet die Grenzen der Betroffenen, wir Menschen manchmal nicht. Wenn wir Wegbegleiter Jesus bitten zu kommen, wird er das auch tun. Er will das Verletzte heilen, das ist sein Anliegen. Damit tragen wir Wegbegleiter große Verantwortung. Begegnungen mit Jesus brauchen den richtigen Zeitpunkt. Der anscheinend normale Persönlichkeitsanteil (ANP) und die emotionalen Persönlichkeitsanteile (EPs) sollen in ihrer Meinung gehört werden. Immer müssen ANP und wenn möglich auch EP gefragt werden, ob sie sich auf die Jesusbegegnung einlassen und seine Hilfe annehmen wollen. Es wird vorkommen, dass Täteranteile oder ein zutiefst verängstigtes inneres Kind ablehnen. Mit Zustimmung des ANP können wir dann versuchen, diesen Anteil zu gewinnen, ihm Jesu Handeln und seine Möglichkeiten erklären und behutsam und vorsichtig zu Schritten ermutigen. Dabei überschreiten wir keine Grenzen! Auf keinen Fall stellen wir den betreffenden Anteil vor vollendete Tatsachen! Jesus um Hilfe zu bitten, ist ein sehr heilsamer Weg, aber ob und wann wir ihn einschlagen, liegt in der Entscheidungsfreiheit der betreffenden Person!

Kurze Zeit nach dieser schwierigen Erfahrung konnten Iris, ihre Seelsorgerin und ich während einiger Sitzungen gemeinsam arbeiten.

Iris berichtet anschließend:

„Der betroffene Anteil durfte sein. Ich habe erlebt, wie auf den betroffenen Anteil eingegangen wurde und er Raum und Zeit bekommen hat. Nichts wurde überhört oder übersehen. Das war sehr wichtig! Der Anteil wurde gefragt, ob Jesus kommen dürfe. Jesus wurde ihm nicht übergestülpt. Der Anteil konnte bleiben, er wurde ernst genommen und nicht überrumpelt.“

Jesus hat uns vorgelebt, wie respektvoll er mit Menschen umgeht. Er hat sie angehört, sich auf ihre Erfahrungsebene begeben, sie in ihrer Verlorenheit und ihrem Leid verstanden und ihnen zu einer neuen Ausrichtung verholfen. Wir alle werden immer wieder Fehler machen und das ist nicht schlimm, wenn wir daraus lernen. Genau deshalb habe ich dieses Beispiel angeführt, damit wir aufmerksam werden und bleiben.

Gottes Reden oder eigene Fantasie?

Häufig formulieren Betroffene Bedenken, die Eindrücke, das Reden Gottes, die Begegnungen mit Jesus könnten doch nur Produkt ihrer eigenen Gedanken, Wünsche und Fantasie sein. Manches kann sich vermischen, das ist richtig, aber Gottes Reden, Bilder und Eindrücke sind biblische Realität. Wir sind von Gott auf Beziehung zu ihm angelegt; zu Beziehung gehört Kommunikation. Gott wünscht sich Herzensbegegnungen mit uns, seinen Kindern. Gott selbst hat uns die Vorstellungsgabe geschenkt.

Manchmal verwendet Gott Bilder, die aus dem Reservoir unseres Unterbewussten stammen, um eine Botschaft zu übermitteln. Solche Bilder sind seelisch, was ihren Ursprung betrifft, werden aber durch Gottes Geist hervorgeholt und in Dienst genommen und dadurch geistlich. Bilder, die hochkommen, können auch ein Hinweis auf meine unverarbeiteten Probleme sein und als solche auch ein Reden Gottes an mich.6

Natürlich können unsere Wünsche, Sehnsüchte oder Ängste Eindrücke überlagern, deshalb sollen wir auch prüfen: Passt das, was wir gehört haben, zur Botschaft der Bibel? Entspricht es dem Wesen Gottes? Ist das langfristige Ergebnis Ruhe und Frieden? Was will Gott mir mit diesen Worten mitteilen?

So wird auch offenbar, wenn Botschaften von anderen Mächten beeinflusst sind. Auch der Feind kann Botschaften schicken oder verzerren. Eindrücke, die von ihm kommen, beschämen, entwerten und bewirken Angst, Druck und Verwirrung. Dies sind deutliche Unterscheidungsmerkmale. Außerdem glaube ich, dass Gott, wenn wir ihn um sein Reden bitten, stark und mächtig genug ist, seine Botschaften tatsächlich in unser Herz zu transportieren.

Und wenn sich doch einmal etwas vermischt und man „falsch“ gehört hat?

In diesem Übungsprozess sind Fehler erlaubt – sie sind sogar nötig, damit ich dazulerne. Wenn ich mit dem, was ich gehört zu haben meine, vorsichtig und demütig umgehe, kann nicht viel passieren. Andere Menschen können und dürfen mich dann korrigieren und ich habe wieder einmal eine Chance weiterzuwachsen.7

Hindernisse für das Hören

Häufig haben wir Menschen bestimmte Erwartungen, wie sich Gottes Handeln gestalten soll, wie Begegnungen mit Jesus aussehen könnten. Darauf sind wir dann in unserer Vorstellung fixiert und verschließen uns eventuell bewusst oder unbewusst, wenn es anders kommt, als wir gedacht haben. Wenn wir Gottes Handeln auf unsere Vorstellungen begrenzen, schaden wir uns selbst, denn dann werden wir vieles von dem, was er uns zeigen will, nicht wahrnehmen können. Gott ist auch im Reden und Tun schöpferisch.

Auch innere Überzeugungen und Ängste beeinflussen uns: „Vielleicht redet Gott ja nicht zu mir – wer bin ich denn schon? … Wie kann mein Herz, wie können meine unwichtigen Gedanken und Nöte für solch einen mächtigen Gott eine Rolle spielen? … Es liegt wahrscheinlich an mir – ich bin eben nicht fähig, sein Reden wahrzunehmen. … Was wird geschehen, wenn ich diese Begegnung zulasse? Vielleicht wird er mich ablehnen oder sich von mir abwenden? … Was ist, wenn er mir etwas sagt oder zeigt, was ich nicht hören oder sehen möchte …?“

Tatsächlich aber ist das Erkennen von Gottes Stimme gar nicht so schwer, solange ich ehrlich zu mir selber bin und dazulernen möchte. Voraussetzung ist, dass ich mich danach sehne, mit meinem Leben Gott zu gehorchen. Wenn ich Zeit mit ihm verbringe, indem ich Bibel lese, bete oder gute Predigten und Vorträge höre, lerne ich das Wesen Gottes immer besser kennen. Der Klang seiner Stimme wird mir vertraut wie die eines guten Freundes.8

Bei uns muss es meist schnell gehen, Gott dagegen hat Geduld und Zeit. Oft lassen wir uns gar nicht erst auf die Ruhe ein, die nötig ist, um unsere Herzen auf ihn auszurichten. Erwartungen, Anforderungen, die vielen Aufgaben und Nöte, mit denen wir täglich konfrontiert sind, vermitteln uns die Botschaft: Keine Zeit, weitermachen, vorwärts!

Gottes Reden ist unglaublich vielfältig und kreativ. Selten allerdings ist es unwiderstehlich. Viel öfter kommt es leise und unauffällig zu uns. Wir müssen aufmerksam sein, wenn wir seine leise Stimme nicht verpassen wollen.9

Wir alle, Betroffene und Wegbegleiter, müssen lernen, dass Zeiten mit ihm wichtiger und wertvoller sind als all unser Tun. Denn er führt uns zu den Bereichen, die bleibenden Wert haben, er zeigt uns die besonderen Aufgaben, die er für uns vorbereitet hat. Seine Worte bedeuten Leben.