»
N
ein, das warst du selbst.« Mein Puls schlägt wütend und ich gehe, bevor ich noch mehr Lügen von mir gebe. Ja, Rose. Es ist eine Lüge. Du bist nicht schuld.
Du hast hauchzart und kraftlos meinen Namen gesagt und ich wusste, dass nur ich die Schuld für dein Leid trage. Und trotzdem schaffst du es, mich so zur Weißglut zu treiben, dass ich dich nicht mehr ansehen kann. Ich mir sogar vorstellen, wie du es mit meinem Vater treibst, und ich das Bedürfnis verspüre, dich leiden zu sehen.
Du sorgst dafür, dass ich dir eine Lüge auftische und dich mit diesem Gedanken zurücklasse. Ich spüre jedoch keine Genugtuung.
Irgendetwas löst du noch immer in mir aus, wodurch ich mich jetzt sogar noch schlechter fühle.
Diese Wut in mir muss raus. Denn ich will dich nicht quälen, dich nicht büßen lassen.
Da kommt mir Marc, der bereits im Nebenzimmer auf einen Stuhl gebunden auf mich wartet, gelegen. Seinen Verrat und die Verschwörung gemeinsam mit meinem Vater sind Grund genug, ihn für all meine unbezwingbare Wut leiden zu lassen.
Schon als ich an der Tür stehe und sein angsterfülltes Gewimmer durch diese höre, lösen sich meine angespannten Muskeln, und der Wunsch, ihn so zu foltern, dass sein Blut das Zimmer bemalt, versetzt mich in eine befriedigte Stille. Langsam atme ich ein und genieße das Bevorstehende. Genieße die Angst dieses Verräters und bereite mich innerlich mit einer großen Vorfreude auf dieses Fest vor. Schließlich ziehe ich den Schlagring aus meiner Hosentasche, sehe ihn an und öffne mit der anderen Hand die Tür.
Was für ein genialer Anblick, wie mein engster Mitarbeiter schweißgebadet auf dem Stuhl mit Tape festgeklebt wurde, wie der Boden mit Folie ausgelegt ist und die früheren Mitarbeiter meines Vaters sich wie eine gigantische Festung rechts und links neben ihm aufbauen. Diese Kühlschränke brauche ich nicht. Nur wissen sie es noch nicht. Noch dienen sie meinen Zwecken und ahnen nicht, was für ein schlimmes Urteil ich bereits über sie gefällt habe. Es ist mir egal, Rose. In mir toben nur Rachegelüste, Schmerz und Einsamkeit, weil du zerstört wurdest. Diese Idioten haben mich damals nicht zu dir gelassen. Diese hochrangigen Mitarbeiter meines Vaters haben mehr als den Tod verdient.
Doch zunächst kümmere ich mich um den Verräter.
Seine Augen vergrößern sich abnormal, als er mich hereinkommen sieht und ihm klar wird, dass ich nicht zu seiner Unterstützung da bin. Wimmernd schüttelt er den Kopf, fleht mich mit seinen Augen an, ihn nicht zu foltern, und dennoch wird ihm nichts anderes widerfahren, Rose. Und weißt du, warum? Er hat es nicht anders verdient. Er wusste von Anfang
an, worauf er sich einlässt, wenn er für mich arbeitet und versagt. Er wusste genau, was passieren würde, wenn ich herausbekomme, dass er mich verarscht. Trotzdem hat er mir aufgetischt, dass Gino noch lebt. Wollte mir sogar weismachen, dass ich spinne. Dabei ist Gino durch meine Hand gestorben.
Du weißt nicht, was ich durchgemacht habe. So, wie ich nicht weiß, was du alles erlebt hast. Nur ahne ich es.
Gerade zögere ich noch nicht einmal, als ich auf meinen jahrelangen Mitarbeiter zusteuere und ihm umgehend das Panzertape vom Mund reiße.
Ein quälender Schrei kommt mir entgegen und ich verliere keine Zeit.
»Was ist Rose zugestoßen?«
»Ich weiß es nicht.« Eine Lüge.
»Wie konntet ihr mich mit Celine austricksen?«
»Ich habe nichts damit zu tun.« Eine weitere Lüge.
»Was hat mein Vater dir für den Verrat geboten?«
Er schweigt. Weil ihm sicher keine Lüge eingefallen ist.
Also schlage ich zu.
Einmal. Zweimal. Dreimal.
Mitten in sein Gesicht trifft das Eisen des Schlagrings auf sein Auge, seine Wange und Nase. Unter meinen Fingern knackt es. Das sind nicht nur meine eigenen Knochen gewesen. Vor allem seine brechen unter dem Druck und der Härte. Sein Kopf hängt nach unten und das Blut tropft ihm auf seine Jeans.
Rose, das ist ein himmlisches Bild, vor allem gemeinsam mit seinem Heulen. Nichtsdestotrotz reicht es nicht aus. Ich brauche Antworten. Ich brauche die Gewalt. Und seinen Tod.
»Also? Was ist Rose zugestoßen?«
»Das weiß ich wirklich nicht, Vicco.« Er spuckt das Blut aus seinem Mund und direkt in einem Schwall auf die Abdeckung des Bodens.
»Aber ich kann dir zu Celine etwas erzählen, wenn du mich
nicht geich umbringst.«
Nicht gleich umbringst? Rose, ihm ist gar nicht bewusst, wie richtig er mit seiner Bitte liegt. Nicht direkt. Denn erst brauche ich Antworten.
»Rede.«
Doch er röchelt vor sich hin, anstatt endlich mit der Sprache herauszurücken. Spuckt sogar immer wieder das Blut, welches sich in seinem Mund sammelt, aus.
»Mach schon! Wie ist es möglich, dass ich Celine tot aufgefunden habe, sie aber noch lebt?«
»Du hast nur das gesehen, was du sehen wolltest«, flüstert er.
»Ich habe gesehen, dass sie tot ist, habe sie berührt!«, brülle ich zurück und bewege unter dem Stahl meine Finger.
»Ich hätte auch nicht gedacht, dass du es glaubst! Aber dein Vater hat gesagt, dass du schon immer nur das gesehen hast, was er dir vorgesetzt hat.«
»Was redest du da?«
»Viktor hat gesagt, dass die Welt mit deinen Augen anders aussieht. Sie wird immer so sein, wie er sie für dich erschafft.«
Aus Wut schlage ich ein weiteres Mal, treffe sein Jochbein, was unter der Härte bricht.
Rose, wie kann mein Vater so etwas sagen? So etwas Krankes behaupten? Genauso erkenne ich aber die Wahrheit. Mein Vater hat mich mein Leben lang manipuliert. Mein ganzes verficktes Leben – und ich kann es immer noch nicht glauben.
Da Marc bewusstlos ist, nicke ich zu den Kühlschränken, die ihn wieder wecken, indem sie ihm den Kopf am Haar in den Nacken ziehen und ihm mit der flachen Hand ins Gesicht schlagen, bis er benommen die Augen öffnet.
Ich verliere die Geduld und das Interesse, ihn weiter am Leben zu lassen. Wenn ich nicht unbedingt Antworten bräuchte, würde ich ihn sofort erschießen.
»Du wolltest mir erzählen, wie ihr Celine wieder lebendig
gemacht habt. Hat sie eine Zwillingsschwester?«
»Vicco!«, stöhnt er und sieht zu mir auf. Sein Augenlid hält unter dem gebrochenen Knochen nicht stand und rutscht nach unten. »Es war eine Silikonpuppe!«
Das kann nicht sein. Unmöglich. Das wäre mir doch aufgefallen!
»Ich habe sie angefasst!«, brülle ich ihn an. »Glaubst du, mir wäre es nicht aufgefallen, wenn es nur eine Puppe gewesen wäre, he? Glaubst du, ich bin so doof? Verdammt, sie war noch warm!«
»Sie war aus Silikon. Ein Abbild von Celine. Das Badewasser hat sie erwärmt.«
»Du lügst!« Ich schlage ein weiteres Mal unkontrolliert in sein Gesicht und erneut ist er bewusstlos.
Er muss lügen! Rose, ich kriege das nicht in meinen Kopf! Habe ich wirklich nur das gesehen, was ich sehen wollte? Ich weiß es nicht mehr, Rose. Ich weiß es einfach nicht. Schon längst kenne ich den Unterschied zwischen Realität und Fiktion nicht mehr. Mein Vater hat mir meinen letzten Rest Verstand, den du mir noch übriggelassen hast, genommen. Ich weiß nichts mehr.
Ich drehe mich um, kann den Anblick des Verräters nicht ertragen und auch nicht, dass ich mich selbst reingelegt habe. Dass selbst meine Augen mich hintergangen und mir etwas gezeigt haben, was nicht stimmte.
Aus dem Hosenbund am Rücken ziehe ich meine Knarre und drehe mich wieder Marc zu. Obwohl er noch immer nicht wach ist, brülle ich:
»Und das Blut, he? Arschloch! Was ist mit dem verfickten Blut und der aufgeschnittenen Kehle?«
»Theaterblut, Boss«, sagt einer der Kühlschränke. Ich kann es noch immer nicht glauben und richte die Waffe erst auf den einen Kühlschrank, drücke sogleich ab, und danach auf den anderen, bevor er seine Waffe ziehen kann. Nacheinander
fallen die gestandenen Muskelpakete in sich zusammen und bluten die Folie voll. Zwei Kopfschüsse genügen, um sie für immer auszulöschen. Sie für immer von ihren Taten dir gegenüber zu befreien.
Einer bleibt noch übrig. Einer. Ich trete vor, richte den Lauf auf Marcs Kopf und …
»O Gott«, höre ich dich hysterisch hinter mir schreien. Dieser spitze, schmerzerfüllte Ton wandert mir bis ins Mark. Und ich zucke zusammen, bevor ich schließlich doch abdrücke und Marcs Blut durch den Raum spritzt und meine schwarze Kleidung noch mehr besudelt.
Erst dann drehe ich mich zu dir um, sehe in dein noch bleicheres Gesicht. Sehe, wie du die Hand vor den Mund legst, damit darin dein Schrei erstickt. Tonlos klagen deine Augen. Brüllen diesen tiefen Schock heraus, der meine Eingeweide durchströmt. Dein Blick wandert von mir zu meiner blutbefleckten Hand, in der ich die Knarre halte, und gleich darauf zu den toten Wachmännern meines Vaters.
»Ich kenne sie«, flüsterst du dünn und Tränen lösen sich von deinen Augen. Ich will gar nicht wissen, ob du dich mit ihnen angefreundet hast. Will nicht erfahren, wie nah du meinem Vater standest. Deswegen ignoriere ich deine Gestalt, die kraftlos gegen die Wand fällt und hinab auf den Boden sinkt. Genauso ignoriere ich, wie du die Hände vor dein Gesicht hältst und lautlos weinst.
Ich gehe.
Mit der Pistole in der Hand gehe ich an dir vorbei, schweige und verlasse den Raum. Nachdem ich mir die Hände gewaschen und mich umgezogen habe, verschwinde ich aus meiner Wohnung – mit dem Wissen, vorerst nicht zurückzukehren. Stattdessen schicke ich meine wenigen, verbliebenen Mitarbeiter vorbei, die Leichen zu entsorgen und den Raum zu säubern. Wie lange du auch in meiner Wohnung bleiben möchtest, es steht dir frei. Nur ich kann das nicht
mehr, Rose.
Ich kann nicht mit dem Wissen leben, dass du meinen Vater mir vorziehst, als wäre er so viel besser als ich.
Vorerst muss ich lernen, mit der neuen Situation umzugehen. Muss herausfinden, wo mein Platz in dieser Welt ist und wie sie in Wirklichkeit aussieht. So ganz ohne dich und der aufgebauten Fantasie meines Vaters, welche ich Wahrheit nannte.