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D ass ausgerechnet Vicco mich einsperrt, will mir nicht aus dem Kopf. Ausgerechnet er. Verstehst du das? Ich jedenfalls nicht. Ein einziges Mal möchte ich eine Entscheidung treffen. Ein einziges Mal.
Es wird Zeit, Leser. Als mein guter Freund, der mir beigestanden hat, verstehst du mit Sicherheit, warum ich nun am Fenster stehe. Kannst sicher nachvollziehen, dass es ein Ende haben muss. Und dass ich diese Entscheidung selbst treffen möchte. Meine einzige und so bedeutungsvolle.
Endlich kann ich frei wählen, als ich das Fenster öffne, mir der kalte Wind entgegenschießt.
Endlich kann ich aus freien Stücken den Fenstersims hinaufklettern und mich der Wahrheit stellen, dass es wirklich nichts Gutes gibt und ich nicht ewig eine Gefangene bleiben kann.
Endlich kann ich die Welt ohne Gitterstäbe sehen.
Frei und unendlich.
Mein Freund, nur du wirst verstehen, dass es keinen Sinn ergibt, weiter auf etwas Gutes zu warten. Denn die Welt ist nicht gut. Das weiß ich jetzt.
Ich will auch nicht darauf warten, was Vicco Schreckliches mit mir vorhat. Und das hat er. Schließlich habe ich mich seinem Vater hingegeben. Zwar wusste ich es nicht, das ändert aber nichts daran, wie grausam es für ihn ist. Dann bin ich auch noch schwanger. Von seinem Vater!
Tief in mir drin wünsche ich mir, es wäre einfacher. Alles.
Es wäre doch schön, wieder zurück zu ihm zu finden. Auch wenn er mich im Stich gelassen hat. Mich sogar im Pearl ausgeliefert hat. Wir wissen beide, dass ich ihn nach wie vor liebe. So sehr, dass ich den Schmerz in seinen Augen sehen kann. Du auch, nicht wahr?
Es erschüttert ihn. Er fühlt sich verraten. Und ich kann es ihm nicht verübeln.
Er wird mich nie wieder so ansehen können, wie er es einmal getan hat. Mein stiller Freund, ich habe nichts mehr. Nur schreckliche Erinnerungen, Schmerzen in der Seele und im Körper und kenne keinen Grund, weiterzumachen. Weiter zu atmen und weiter zu leiden. Denn selbst Vicco habe ich für immer verloren. Er ist weg.
Und wenn er wiederkommt, wird er mir seinen Hass entgegenschmettern.
Den Vicco, den ich einmal kannte, gibt es nicht mehr.
Nur du bist mir geblieben. Auch wenn ich mir vormachen kann, dass es sich für mich lohnt, weiterzumachen, stimmst du mir doch zu, dass ich nicht länger diese Qualen verkraften kann. Du glaubst mir doch, dass ich wirklich einmal kämpfen wollte und mich fürs Leben entschieden habe und jetzt aber nicht mehr weiter weiß, oder?
Mein Freund, es tut so weh, verstehst du das? Die Tränen kommen nicht, weil ich Angst vor dem Tod habe oder weil ich mich fürchte, diesen Schritt zu gehen. Es ist der Schmerz, alles verloren zu haben. Es ist das Leid, nie wieder mehr glücklich zu sein. Und es ist diese Erkenntnis, dass die Welt nur in meinem Kopf existiert hat. Sie nie wirklich so war, wie ich sie sah. Verstehst du das?
Du würdest sicher auch hier stehen und auf die Straße tief unter deinen Füßen hinabsehen und es beenden, solange dir die Möglichkeit bleibt, oder?
Wir wissen doch beide nicht, wie schlimm es nun wirklich wird. Was wäre denn, wenn all das in der Vergangenheit nur der Anfang war? Was ist, wenn es noch so viel schrecklicher wird?
Ich kann das nicht. Ich kann das wirklich nicht, bitte versteh das.
Sei mein Freund. Gebe mir den Mut, diese einzige Entscheidung zu treffen, die mir noch bleibt. Bitte.
Sag mir, dass ich loslassen soll. Sag mir, dass es richtig ist, weil ich ohnehin keine andere Möglichkeit habe. Sag mir bitte, dass du es genauso tun würdest und du selbst nach dieser Entscheidung bei mir bleibst. Mich nicht allein lässt.
Ich zucke zusammen, als ich die Geräusche höre. Hast du sie auch gehört? Kommt Vicco schon wieder zurück? Genau jetzt sollte ich loslassen, springen und mein eigenes Schicksal in die Hand nehmen. Doch da öffnet sich die Schlafzimmertür.
»Bist du hier, Rose?« Es ist wirklich Vicco und ich traue mich nicht, zurückzusehen. Starre lieber nach unten und will loslassen.
Kann es nur nicht.
Fehlt mir der Mut? Habe ich jetzt doch Angst, das alles zu beenden? Aber was sollte ich vermissen, wenn es doch nur mit Grauen gefüllt ist? Mit Leid und Schmerz?
»Komm da runter.« Ich muss jetzt loslassen, darf mich nicht weiter an den Fensterrahmen klammern.
»Bitte, Rose. Tu das nicht. Komm runter.« Seine Stimme fühlt sich näher an. Kommt er wirklich auf mich zu? Wird er mich aufhalten, obwohl er mich hasst?
»Bitte.« Er klingt so flehend. Es bricht mir das Herz, mein Freund. Es macht mich schwach und erfüllt mich mit noch mehr Leid. Ich muss loslassen. Ich kann nicht mehr. Sei bei mir. Bitte.
Plötzlich reißt mich etwas weg. Ich nehme seine Hände an meinem Körper wahr und falle rückwärts ins Zimmer.
Erschrocken kriege ich keine Luft mehr und spüre nur Vicco, wie er mich fest umschlingt und gleichzeitig vom Fenster zum Bett zurückzieht.
»Was tust du da?«, fragt er, als er sich aufs Bett setzt und mich auf seinen Schoß drückt. »Warum tust du das, Rose?«
Ja, ich bin Rose. Die Rose, die benutzt und von der Welt weggesperrt wurde und eine Gefangene aus Leid und Schmerz geworden ist. Das bin ich.
Und ich will das nicht mehr sein.
Mein Freund, es fühlt sich gut an, wie Vicco mich hält, seine Wärme sich auf meiner Haut ausbreitet. Aber ich will doch nur frei sein. Frei von der Vergangenheit und frei von den vielen Qualen. Frei von diesem strahlenden, stechenden Schmerz in meiner Schulter und frei von der Pein meiner Seele, die mich erdrückt.
»Tu das nicht, Rose. Leb. Leb zumindest für dich.« Seine belegte Stimme sorgt bei mir für eine Gänsehaut und ich erwische mich dabei, wie ich die Augen schließe und ihn für einen kurzen Moment ganz wahrnehme.
Ihn, meinen Vicco.
Mein Anker, der einmal für mich da war und mich glücklich gemacht hat. Er fühlt sich wie in meiner Erinnerung an, mein Freund. Es ist echt und leibhaftig. Er ist hier und hält mich auf seinem Schoß gefangen, legt fürsorglich seine Wange auf meinen Kopf und wippt mich hin und her. Er tröstet mich auf seine warme, herzliche Art und fast ist es so, als wären wir einfach nur Rose und Vicco. Du weißt, wie sehr ich ihn vermisst habe, wie sehr ich ihn brauche und wie sehr ich ihn liebe. Du weißt, wie schwierig es war, mich von ihm zu lösen. Und ich konnte es dennoch nicht richtig, weil meine Liebe zu stark ist. Ich liebe ihn, mein Freund. Ich liebe ihn so sehr, dass es wehtut.
Deswegen kommen mir die Tränen. Genau deshalb schließe ich ihn in meine Arme, vergrabe mein Gesicht in seiner Halsbeuge und nehme seinen Trost an, während ich seinen Duft in mich aufnehme. Er hat mir wirklich so sehr gefehlt. So sehr. Ich schluchze und wimmere, mir entgleiten so viele Tränen und ich komme in seinen Armen an.
Er ist hier.
Ich habe mich so sehr nach ihm gesehnt und jetzt hält er mich.
Wie so oft verschwindet alles um mich herum. Nur ist es diesmal keine Erinnerung, die ich aus Schutz in meinem Kopf abspiele. Diesmal ist es echt. Ich kann es kaum glauben, wie nah er mir nach einer so langen Zeit ist. Weshalb ich nur noch mehr weine.
»Psst, Rose. Weine doch nicht«, flüstert er so dunkel, dass ich nicht weiß, ob er böse oder mitfühlend ist. Ich weiß es nicht, weil etwas zwischen uns so fremd ist. Doch diese Wärme, sein Streicheln über meinen Rücken und sein Geruch … Ach, mein Freund, es ist wie früher. Als hätte sich nichts geändert.
Trotzdem spielen meine Emotionen verrückt. Es ist verwirrend und ich verliere den Sinn, alles dreht sich und selbst der Boden unter meinen Füßen ist längst verschwunden. Nur Vicco gibt mir diesen Halt, bevor ich hinabstürze.
Was soll ich nur tun? Ich habe nicht vergessen, was er mir angetan hat. Aber jetzt ist er hier, mein Freund. Hier bei mir und ich liebe ihn so sehr.
Vielleicht sind meine unbestimmten Emotionen und die Sehnsucht schuld, dass ich ihn noch näher an mich drücke und meine Lippen sehnsüchtig über seinen Hals streifen lasse.
Er hat mir so viel angetan. Aber ich kann nicht anders, als den Rollkragenpullover etwas herunterzuziehen, um seine warme Haut unter meinen Lippen zu spüren.
»Rose«, haucht er so dunkel, dass ich die Vibration in meiner Brust spüre. Siehst du, wie er sich von mir wegdrückt? Auch wenn ich dem nachkommen, aufhören sollte, weil er das anscheinend nicht will und mich nur tröstet, beginne ich, ihn verzweifelt entlang seines Kiefers zu küssen. Obwohl er nach meinen Armen greift, ich direkt zurückweiche, nur um sein hübsches Gesicht in meine Hände zu nehmen, erkenne ich die Zuneigung in seinen Augen. Sein stechender, blau leuchtender Blick ist voller Hingabe. Genau deswegen küsse ich ihn.
Mein stiller Freund, endlich bekomme ich wieder Luft. Ich bin bei ihm. Vicco ist hier, bei mir, und ich spüre nach einer so langen Zeit seine Lippen an meinen, wodurch mir vor Glück die Tränen erst recht herunterfallen. Und er …
Er erwidert ihn.
Das ist Glück, mein Freund. Genau das.
So zärtlich, so sehnsüchtig küssen wir uns, und meine Tränen lassen jede Zärtlichkeit salzig schmecken. Es ist mir egal.
Es mir egal, wie sehr meine Schulter schmerzt.
Es mir egal, dass er mir so viel angetan hat.
Er ist hier, drückt mich an sich und vertieft sogar den Kuss.
Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich mich danach verzehrt habe.
Wie glücklich ich bin, das jetzt endlich zu spüren, als wäre es ein wahrgewordener Traum. Und wie froh ich bin, dass es doch einen Ausweg gibt.
Plötzlich drückt er mich weg.
Erschrocken schreie ich auf, als er mich neben sich aufs Bett schmeißt und er sich rasch von mir abwendet. Der Schock sowie die Wunde an meiner Schulter lassen mich das Gesicht verziehen und ich sehe zu ihm auf.
Wutverzerrt sieht er mich an und ich erkenne, dass er sich zusammenreißt. Diesen Ausdruck kenne ich von ihm. Er ist voller Hass. Er hasst mich, mein Freund.
So wie er mich jetzt ansieht, mich mustert und meine Wunde mit einem kurzen Blick prüft, zerreißt es mich. Mit einem weiteren Schritt nimmt er noch mehr Abstand zu mir.
»Vicco?« Ich bekomme kaum noch Luft, als würde er mit der Hand meine Kehle zermürben. Dabei ist es nur sein Blick. Sein Abstand. Sein Hass.
Ihm fehlen die Worte, siehst du das? Er rauft sich verzweifelt die Haare und schüttelt den Kopf, weil er einfach nicht weiß, was er sagen soll. Er will mich nicht noch mehr verletzen. Dabei wissen wir doch längst, was er sagen möchte, nicht wahr? Du siehst es ihm genauso an wie ich. Und das fühlt sich so an, als würde er mir das Herz rausreißen.
»Bitte, Vicco. Es könnte so werden wie früher.« Ich spüre es. Ich sehe es sogar vor meinen Augen, wie wir zurückkehren … zu dem Tag, an dem wir glücklich waren.
»Nein. Das ist nicht möglich.« Wie ein Schlag ins Gesicht.
»Doch. Glaub mir. Vertrau mir.« Ich flehe ihn an, nicht zu vergessen, wer wir einmal waren.
Fassungslos schüttelt er den Kopf. Siehst du, wie er sich erneut die Haare rauft und sich von mir abwendet? Zwar steht er mit dem Rücken zu mir, aber solange er nicht geht, schweige ich. Warte ab.
Ich muss ihm Zeit geben.
Bis er sich wieder umdreht und mich mit diesem kalten Blick ansieht, der unheilvoll durch mich hindurchgeht und jegliche Hoffnung mit sich nimmt.
»Vicco?« Er reißt mir das Herz raus, mein Freund. Erkennst du es auch? Er wird es tun und ich kann es nicht aufhalten.
»Du bist schwanger, Rose. Mit viel Mühe könnte ich versuchen, zu vergessen, was du mit meinem Vater hattest. Aber du bist schwanger. Der Arzt, der deine Wunde versorgt hat, hat dich untersucht und es bestätigt.«
»Aber …«
»Treib ab und vielleicht, aber nur vielleicht, haben wir eine Chance.«
»Nein.« Darüber muss ich nicht nachdenken und er weiß es genauso.
»Wieso nicht?«
»Ich kann nicht abtreiben.«
»Doch!«, brüllt er und ich zucke zusammen. Die Tränen kann ich nicht aufhalten. »Du bist SCHWANGER, Rose! Wie stellst du dir das vor? Du erwartest doch nicht von mir, dass ich das akzeptiere?«
»Es ist genauso dein Blut!«
»GENAU DESWEGEN!« Sein Gesicht so verzerrt zu sehen, o Gott, es bringt mich um. Ich kriege kaum Luft und obwohl ich ihn irgendwie auch verstehen kann, flüstere ich:
»Lieber ein Kind auf dem Kissen, als eins im Gewissen.«
Wie er nickt … viel zu häufig, viel zu mechanisch. Und diese Ruhe. Spürst du auch, wie dick die Luft wird, wie angespannt die Situation ist, als er sich wieder abwendet?
Ich spüre die Entfernung zu ihm wie einen eindringlichen Schmerz. Er geht und knallt die Tür hinter sich so laut zu, dass in mir etwas zersplittert.
Ich brauche dich, mein Freund, denn jetzt habe ich keinen Halt mehr. Es ist weg. Er ist gegangen.
Es tut so weh.
Sei bei mir, geh du nicht auch noch weg. Gib mir die Kraft, die ich brauche, um wieder Luft zu holen.
Niemals wird es so sein, wie es einmal war. Niemals, nicht wahr?
Und genau das nimmt mir jede Zukunft.