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E r ist noch nicht ganz zur Tür raus und ich sitze da. Spüre jede Scherbe meines Herzens auf dem Boden klirren.
Das sollte das Ende sein, oder?
Ab hier gibt es kein Zurück mehr und auch keine Zukunft. Es ist vorbei.
Du wirst mich verstehen, dass ich nicht einfach abtreiben, das Leben fortführen und glücklich sein kann. Nicht mit dem Wissen, ein Menschlein getötet zu haben.
Vicco kann es, mein Freund. Er kann damit leben.
Die toten Männer.
Wie kaltblütig er Leben nehmen konnte.
Er wird nie Schuldgefühle empfinden können. Und für so ein Monster weiterzumachen, ergibt noch weniger Sinn. So sehr ich ihn auch liebe.
Mir ist bewusst, dass ich durch meinen Tod auch dem Baby die Zukunft nehme. Zusammen schaffen wir das aber nicht. Es gibt keinen anderen Ausweg.
Mein Blick wandert zum Fenster, doch gerade als ich aufstehe, öffnet sich die Tür. Nicht Vicco ist zurückgekehrt, um mit mir gemeinsam einen anderen Weg einzuschlagen. Es ist ein großgebauter Mann, der auf mich hinabstarrt und mir sofort Angst einflößt.
So schnell ich kann, rutsche ich aufs Bett zurück. Versuche, am Kopfende genügend Abstand zu erreichen – in dem Wissen, doch nicht entkommen zu können.
Wenn Vicco mich so sehr hasst, dass er einen Mann hierherschickt, dann kann ich nicht weglaufen und werde mich auch nicht schützen können. Selbst in meinen Träumen werde ich nicht fliehen können, weil Vicco meine schönen Erinnerungen mit sich genommen hat, genauso wie meine Hoffnung.
Dieser angsteinflößende Mann wird mich genauso foltern wie alle anderen auch. Nur diesmal bekomme ich alles mit.
Ich wünschte, das Fenster wäre einfach zu erreichen. Wünschte, ich könnte so einfach dem Unvermeidbaren entspringen. Kann ich nicht. Du siehst selbst, wie unerreichbar meine einzige Flucht ist. Insbesondere, als dieser Kerl ins Zimmer kommt und geradewegs auf das Fenster zusteuert.
Wie du sicher auch, verfolge ich sein Handeln. Beobachte ihn, wie er das Fenster erst schließt, um es dann mit einem kleinen Schlüssel abzuschließen. Hat er meine Gedanken erahnen können?
»Der Boss hat gesagt …« Langsam dreht er sich zu mir um und sein grimmiger Gesichtsausdruck bereitet mir eine Gänsehaut. »Er hat gesagt, wenn du dich umbringst, dann nicht in seiner Wohnung.« Damit verlässt er das Zimmer und hinterlässt in mir viele Fragezeichen.
In dir auch?
Sein Boss? Vicco? Es ist seine Wohnung. Ich kann kaum fassen, dass so ein Riese für Vicco arbeitet und auf ihn hört. Aber dann noch seine Worte.
Vicco hat mich vor dem Sturz bewahrt und wollte nicht, dass ich springe. Jetzt ist es ihm egal, wenn es nicht in seiner Wohnung stattfindet?
Ist das umgekehrte Psychologie, da ich dieses Reich eh nicht verlassen kann? Zwar kann ich mich in der Wohnung frei bewegen, weil der Mitarbeiter von Vicco nicht die Tür verriegelt hat, aber er hält mich in seiner Wohnung gefangen. Also habe ich schlussendlich ebenfalls nicht die Möglichkeit, meine Entscheidung auszuführen. Ist es das?
Oder ist es ihm generell egal, dass ich auch aus seinem Leben verschwinden möchte? Will er womöglich, dass ich gehe und es eben nur nicht in seinem Apartment vollende?
Mein stiller Freund, ich bin so durcheinander, ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Viele Bilder, zu viele Gefühle und noch mehr Fragen bündeln sich und ergeben keinen Sinn. Kopfschmerzen überfallen mich und Antworten habe ich keine.
Wie soll es jetzt nur weitergehen?
Warte ich darauf, dass Vicco mir Schlimmes antut?
Oder soll ich eine Lösung finden, selbst den Qualen zu entkommen?
Dabei fühle ich mich kraftlos. Mein Körper schmerzt und die letzten Wochen sind so verworren, dass ich nicht weiß, wie ich meine Gefühle einordnen soll.
Und sag mir, mein Freund, wo ist Viktor die ganze Zeit?
Weißt du auch, dass ich mich nicht traue, Vicco zu fragen? Verstehst du, dass ich mich vor der Antwort fürchte?
Ich sollte ihn ebenso hassen wie Vicco. Ich kann es aber nicht.
Er hat nur meine Mutter umgebracht, weil er mich bestrafen wollte, und das hat er. Mit diesem Schuldgefühl kann ich auch kaum leben.
Verzeihst du mir, dass ich so dumm bin? Dann verzeih doch auch Viktor, dass er anders ist. Er schon immer ein schwieriges Leben geführt hat.
Jetzt fällt es mir wieder ein!
Weißt du noch, wie er mir erzählt hat, dass sein Sohn geisteskrank ist? Und auch, dass er seine Frau umgebracht hat? Oh, mein stiller Freund, kannst du dich daran erinnern?
Es ging die ganze Zeit um Vicco!
Vicco denkt aber, dass seine Mutter abgehauen ist. Dass sie ihn verlassen und er nur noch seinen Vater hat. Hat Viktor ihm nicht die Wahrheit sagen können, dass seine Mutter krank war? Wollte er ihn schützen?
Oder war sie gar nicht krank? Denn wir beide wissen, dass Vicco zwar anders ist, als ich ihn kenne, aber sicher ist er nicht geisteskrank. Er muss nicht weggesperrt werden. Hat er Vicco weggesperrt? Sein eigener Vater hat ihm das angetan. Deswegen sieht er so zerstört aus. Deshalb habe ich ihn kaum wiedererkannt.
Was hat er nur mit Vicco gemacht?
Mein Kopf qualmt und ich kann das alles nicht mehr verstehen. Das ergibt doch noch weniger Sinn. Warum tut ein Mensch so etwas und das seinem eigenen Sohn an?
Hat Viktor ihn genauso bestraft, wie er mich bestraft hat, indem er mir die Mutter genommen hat?
Das ist zu viel für mich. Außerdem nur Spekulation. Das muss nicht stimmen, oder?
Die Welt kann nicht so krank sein … und der Mann, bei dem ich die ganzen letzten Wochen ein Zuhause fand, war nicht so ein schlechter Mensch, oder?
Ich muss schlafen, mein Freund. Ich muss ganz dringend schlafen und neue Kraft tanken. Das ist mir alles zu viel.