15
I ch kann dich echt nicht verstehen. Irgendwas stimmt nicht mit dir. Du bist so kalt und desinteressiert. Das kenne ich gar nicht von dir.
Als du aufgewacht bist, hast du gestrahlt, warst froh, mich zu sehen, und kaum habe ich dir die Frohe Botschaft gesagt, bist du so unterkühlt.
Siehst du denn nicht, dass es das Beste ist, was uns passieren kann? Der Umstand, dass dieser kleine Bastard nicht mehr in deinem Bauch wohnt, der alles wegnimmt, was du brauchst? All die Nährstoffe.
Dieses Ding war eh nur ein Virus, der dich von innen aufgefressen hat. Sei doch froh, dass wir beide einen neuen Weg einschlagen können, ohne dieses Etwas, das bei dir überhaupt nichts zu suchen hat.
Es ist auch für mich nicht leicht, zu vergessen, was gewesen ist. Aber ich bin bereit dazu. Du denn nicht?
Das wirst du aber noch. Du wirst es. Ich gebe dir die Zeit, die du brauchst. Alles wird gut, Rose. Warte nur ab.
Du kannst meinen Vater nicht so geliebt haben wie mich und ich weiß, dass du mich liebst. Ich weiß es ganz genau. Du wolltest wieder da anfangen, wo wir aufgehört haben. Du wolltest das alles zurücklassen und jetzt haben wir die Chance dazu bekommen. Der Herrgott war gnädig zu uns, hat gesehen, was wir beide durchgemacht haben. Dass dieses Ding weg ist, ist unser Geschenk, in die Zukunft zu schauen. Gemeinsam werden wir sie bestreiten, so, als hätte es die Vergangenheit nie gegeben.
Als hätte es meinen manipulativen Vater nie gegeben, der uns beide nur zerbrochen hat. Ich gebe dir Zeit, bis du beginnst, es endlich zu verstehen.
Du bist so herrlich zerstört, dass du noch nicht erkennst, wie wichtig es ist, dass dieses Ding weg ist. Dass du noch nicht die Wahrheit erkennst.
Vielleicht bist du auch einfach nur enttäuscht und traurig, weil du dich schon mit der Situation abgefunden hast. Selbst dafür gebe ich dir die Zeit, die du brauchst, um zu mir zurückzufinden. Denn wir gehören zueinander und das von Anfang an und bis zum bitteren Ende.
Ich stehe in der Küche und bereite dir einen Tee zu. Du versuchst, unbemerkt zu gehen. Schleichst regelrecht, was ich im Augenwinkel wahrnehme. Ohne dass du es mitbekommst, drehe ich mich leicht und betrachte deine Kleidung. Du hast dich umgezogen und willst hinausgehen. Dabei trägst du nur eine Jeans und ein Shirt. Hier in der Wohnung sind es konstant 26 Grad, aber, Rose, draußen ist es bitterkalt. Es sind gerade einmal sechs Grad. So kannst du nicht rausgehen. Ich muss dich beschützen, also halte ich dich auf.
»Wo willst du denn hin?«
Auf dem Absatz bleibst du stehen, drehst dich nicht zu mir um und mit dem unverletzten Arm streckst du dich nach der Türklinke.
»Ich werde gehen, Vicco.«
»Wohin? Und vor allem, so?«
»Ich weiß nicht, wohin. Hauptsache, weg von dir.«
Okay, Rose, das ist selbst für dich und deine derart schwierige Lage merkwürdig. Auch wenn ich dir den Freiraum geben möchte, den du verdient hast und den du auch brauchst, um zu heilen, kann ich dich nicht so in diesem Aufzug gehen lassen. Leider auch nicht, ohne zu wissen, wohin. Ich will dich nicht einsperren, will dich nicht kontrollieren. Denn du bist nicht mein Besitz, aber nach wie vor bist du verletzt. Zudem besteht noch eine kleine Gefahr für dich. Ich muss dich beschützen. Es geht nicht anders. Du bist meine Welt und das wird auch immer so bleiben. Deswegen gehe ich auf dich zu und baue mich neben dir auf.
»Rose, du darfst gehen, wohin du willst, aber zieh dir doch zumindest eine Jacke an. Es ist kalt. Sage mir außerdem, wohin du willst.«
»Also sperrst du mich eigentlich doch ein.«
»Nein.«
»Und wenn ich dir nicht sage, wohin ich will?«
»Folge ich dir.«
»Das ist wie Einsperren, Vicco. Du kontrollierst mich und das will ich nicht.«
»Ich will dich nicht kontrollieren, sondern nur beschützen.«
Du schnaubst. Ich nehme es zum Anlass, meine Hände auf dein Gesicht zu legen und dich zu zwingen, mich anzusehen. Mit großen Augen, die mich wütend anstieren, willst du mich daran hindern. Ich hingegen finde es so süß, wenn du mich so ansiehst. Du versuchst, mich zu maßregeln, obwohl du es nie könntest. Ich kann nicht anders und küsse dich.
Dieses warme Gefühl deiner Lippen, es haut mich um. In der ersten Sekunde sträubst du dich, aber schon bald legen sich deine Hände an meine Hüfte und ziehen mich näher. Ich kann einfach nicht anders und drücke dich gegen die Wand, küsse dich intensiver. Du folgst nicht nur meinen Lippen, sondern auch meiner Zunge, der du Einlass gibst. Unser Geschmack vermischt sich, ich rieche deinen himmlischen Rosenduft und glaube, endlich angekommen zu sein.
Dein Körper an meinem und dein pochender Puls direkt an meiner Brust treiben mich in den Wahnsinn. Ich liebe dich so sehr, dass ich platzen könnte. Bin glücklich, zufrieden und habe dich endlich zurück.
Mit der gleichen Intention kommst du dem nach und das macht mich so verrückt. Du gehörst mir, Rose.
Im nächsten Moment löse ich mich von deinen Lippen, drehe dich an der Hüfte um und drücke dich mit der Brust an die Wand. Umgehend küsse ich deinen Hals hinab zu deinen Schultern und atme ganz tief deinen ganz persönlichen Duft ein. Schließe meine Arme um deine Körpermitte und drücke mich noch mehr an dich. Es ist ein wahnsinniges Gefühl, dich so zu spüren.
Mit einer Hand wandere ich runter zu deiner Hose, öffne den Bund. Doch im selben Augenblick spüre ich, dass sich etwas verändert hat. Zwischen uns ist nicht mehr dieses elektrisierende Gefühl, sondern eine beklemmende Anspannung, die so kalt ist wie nie zuvor.
Unter meinen Händen bist du steif und erfroren.
Ich verstehe nicht, was gerade passiert, streichele deinen Bauch und schaue über deine Schulter direkt ins Gesicht. Die Stirn hast du an die Wand gelehnt und kneifst ganz fest die Augen zusammen.
Was passiert hier gerade, Rose. Was nur?
Ohne meinen Blick von dir abzuwenden, fahre ich mit der Hand in deine Jeans unter deinem Slip und spüre die trockene Bestätigung an meinen Fingerspitzen. Du bewegst dich keinen Millimeter mehr und dein Puls schnellt in die Höhe, aber deine Atmung ist flach, als würdest du versuchen, unsichtbar zu werden.
Genau das ist es.
In meiner Umarmung, in meiner Liebkosung bist du unsichtbar und wirst zu einem Geist. Du bist nicht mehr hier. Gedanklich bist du ganz weit weg.
Und ich glaube, dass ich verstehe.
»Rose«, flüstere ich und du reagierst nicht. Ja, Rose, du bist längst nicht mehr in der Wohnung und längst nicht mehr in meinen Armen. Du bist verschwunden und nur deinen gezeichneten Körper lässt du zurück.
»Rose, mach die Augen auf.« Noch immer reagierst du nicht und ich nehme die Hand zurück. An der Hüfte drehe ich dich herum und viel zu grob drücke ich dich mit dem Rücken an die Wand. Sanft lege ich dir die Hände an deine Wangen.
»Rose«, versuche ich es ein weiteres Mal. »Komm zu mir. Sieh mich an.«
Schließlich entspannst du und öffnest langsam die Augen.
Unter einem Schleier von unterdrückten Tränen siehst du mich an und im nächsten Moment schlingst du die Arme um mich.
Das zwischen uns habe ich mir einfacher vorgestellt und jetzt erkenne ich erst, wie schlimm es wirklich um dich steht. Du versteckst dich vor mir und vor dir selbst. Bist nicht mehr eins mit deinem Körper und deiner Seele.
Das ist schade, aber ich werde dir helfen. Ich lasse dich nicht zurück. Werde dich auch nicht zu einer Gefangenen von vielen Schmerzen machen. Du wirst zu dir zurückfinden. Früher oder später. Und ich werde hier sein. Ich werde dich nicht mehr loslassen, nicht mehr alleinlassen.
»Ich will weg, Vicco!«
»Wohin?«
»Ich weiß es nicht, aber weg!«
»Okay, aber zuerst kommst du mit.« Ich nehme erstmal deine Hand in meine und ziehe dich zurück ins Schlafzimmer. Zuerst will ich mich an dem Koffer zu schaffen machen und deine Jacke heraussuchen. Letztlich entscheide ich mich aber dafür, zu meinem Kleiderschrank zu gehen. Schweigend spüre ich deine Blicke auf meinem Rücken.
Aus dem Schrank hole ich einen schwarzen Hoodie heraus. Einen von denen, die du immer trägst, wenn du hier bist. Es ist naiv, zu glauben, dass ein Pulli dich an uns erinnert. Dass es deine Erinnerung zurückholt, wo du dich befindest und was wir für eine schöne Zeit miteinander hatten. Dennoch habe ich die Hoffnung, dass dieser schwarze Stoff etwas in dir auslöst und reiche ihn dir. Ich beobachte, wie du versuchst, ihn anzuziehen, und wie du nicht bemerkst, dass dies nicht mehr so ohne weiteres klappt. Also komme ich dir zur Hilfe.
Dankbar lächelst du mich knapp an und ich hole schließlich deine Jacke aus dem Koffer, bei der ich dir auch beim Anziehen helfe.
»Vicco, bring mich zum Haus.«
Überrascht verharren meine Finger am Reißverschluss der Jacke.
»Welches Haus meinst du?« Dabei ahne ich schon das Schlimmste und schlucke schwer den brennenden Kloß in meiner Kehle hinab.
»Das von deinem Vater. Dorthin, wo ich gewohnt habe. Bring mich bitte dahin.«
Warum nur, Rose? Warum?
»Das halte ich für keine gute Idee.« Und das ist die Wahrheit. Es ist das Beknackteste, was ich tun könnte, dich ausgerechnet dorthin zu bringen. Zum einen wären meine Lügen dann aufgedeckt und zum anderen weiß ich nicht, wie die Konsequenz aussieht. Ich will dich nicht dorthin bringen.
»Also sind deine Worte nur Lügen und letzten Endes sperrst du mich doch ein, außer ich tue, was du sagst.«
»Nein. Wie kommst du darauf? So ist das nicht. Es ist nur eben falsch.«
»Falsch und richtig existieren nicht mehr für mich. Wenn du mich nicht einsperrst, mich nicht allein gehen lässt, dann fahr mich zum Haus.«
Widerwillig nicke ich. So bestimmend wie du vor mir stehst, bist du selten, und ich weiß, dass ich dich von deinem Vorhaben nicht abbringen kann. Gleichzeitig schmerzt der Gedanke, dass du unbedingt zu meinem Vater zurückwillst, dass mein Brustkorb immer enger und enger zu werden scheint. Zwar denkst du, er sei tot, aber du willst diese Erinnerung zurück, ihm nahe sein. Anstatt in meiner Erinnerung zurückzukehren.
Wieder einmal wird nicht nur dir klar, dass ich dir nichts abschlagen kann, und ich nehme all die Konsequenzen in Kauf.
Ich fahre dich dorthin zurück.
Gemeinsam verlassen wir die Wohnung, nachdem ich mir selbst eine Jacke übergezogen habe, und ich bringe dich zu Markus' Auto.
»Wo ist dein Auto?«, fragst du mich, als ich dich auf den Beifahrersitz schiebe.
»Um ehrlich zu sein, weiß ich es nicht. Es wurde mir am Friedhof geklaut.«
»Wer klaut ein Auto auf dem Friedhof? Wie geschmacklos ist das denn?«
Darauf will ich dir antworten, aber du fragst sogleich weiter.
»Was hast du denn am Friedhof gemacht?«
Was habe ich am Friedhof gemacht?
Wie soll ich dir das erklären? Wie soll ich dir verständlich rüberbringen, dass ich eine Nacht auf dem Friedhof verbracht habe, dass ich zusammengebrochen bin, weil ich geglaubt habe, du wärst tot? Dass ausgerechnet mein Vater und mein bester Mitarbeiter mir das weisgemacht haben? Dass selbst deine Mutter bei diesen ganzen Intrigen mitgespielt und mir eingeredet hat, dass ich es war, der dich umgebracht hat? Wie soll ich dir das erklären, ohne dir noch mehr Schaden zuzufügen?
Rose, ich weiß es nicht. Ich wünschte mir, ich könnte dir das alles erklären, aber du bist noch nicht so weit und ich kann dich nicht weiter zerbrechen. Ich kann dir nicht die Wahrheit sagen oder dich noch mehr belügen. Mir ist schon ganz flau im Magen, weil du meine letzte Lüge vielleicht aufdecken wirst, und mein Herz ist ganz schwer, weil ich dich gerade aus meinem Leben fahre. Denn, wenn du ihn siehst, wirst du sicher zu ihm zurückkehren. Es fühlt sich an wie Selbstmord.
»Ich werde dir ein anderes Mal erzählen, warum ich auf dem Friedhof war. Jetzt ist nicht die richtige Zeit dafür.«
»Warum nicht?«
»Weil das alles sehr kompliziert ist und du noch nicht bereit für die Antwort bist. Ich weiß, dass du sehr viel durchgemacht hast, aber das habe ich die letzten paar Wochen auch.«
»Das weiß ich. Das habe ich dir angesehen und ich sehe es noch immer.«
Wir kennen uns zu gut, als dass ich dir lange etwas vormachen könnte.