18
I ch kann nicht fassen, was ich gesehen habe. Allein, wie der ganze Tag abgelaufen ist.
Schrecklicher und schrecklicher.
Schlimmer und schlimmer.
Mein Freund, gibt es irgendetwas Gutes auf dieser Welt? Existiert das überhaupt? Eins ist für mich klar: Alles um mich herum ist weg. Alles, woran ich verzweifelt festgehalten habe, ist nicht mehr da, ist nicht mehr vorhanden und hat auch nie existiert. Das kann Vicco mir nicht zurückgeben.
Die Welt um uns herum ist schwarz, dunkel, verdorben und leblos. Das ist das Einzige, was ich gerade sehe. Auch wenn die Wärme von Vicco kurz zu mir überleitet. Neben mir liegt er im Bett und ich starre einfach nur die kalte Wand an. Ich möchte weinen, kann es aber nicht. Ich möchte schlafen, traue mich aber nicht, die Augen zu schließen. Zu sehr habe ich Angst vor den Bildern, die mich erwarten, mich nie wieder verlassen, mein Freund. Ich möchte all das gerne beenden und werde es doch nie können.
Es gibt nur einen Ausweg und das wissen wir beide. Wiederum ist es schwer, mich jetzt aus diesen Armen zu befreien, die mich beschützend halten. Es macht den Anschein, als könnte er mich wirklich von allen Gefahren, die jetzt auf mich warten, fernhalten. Genauso wissen wir beide, dass ich das schon einmal fälschlicherweise gedacht habe. Es wäre schön, wenn du mir einen Rat geben könntest, was ich tun soll.
Soll ich jetzt aufstehen und es für immer beenden? Mir Rasierklingen nehmen, mir die Pulsadern aufschneiden oder nach Schlaftabletten suchen? Für immer einschlafen oder direkt aus dem Fenster springen und darauf hoffen, dass ich nicht mehr aufwache? Oder soll ich einfach liegenbleiben, auf das Beste hoffen und Vicco wirklich vertrauen, so, wie er es von mir verlangt? Könnte ich das überhaupt noch nach all dem, was passiert ist?
Mein Freund, du weißt am besten, wie es ist, wenn man nicht mehr vertrauen kann. Du kannst am besten verstehen, wie es ist, wenn man alles verloren hat. Um mich herum hat sich eine Finsternis gebildet und lässt kein Licht mehr durch. Ich habe keinen Hunger, keinen Durst. Der Schmerz hat nachgelassen und damit eine Kette von vielen Zukunftsfragen in mir ausgelöst und einen bitteren Geschmack auf der Zunge hinterlassen. Das Leben erscheint mir so schwer und ausweglos dazu.
Nur eine Lösung. Ein Ausweg bleibt mir.
Wie du siehst, entscheide ich mich dafür, aus Viccos Armen zu entkommen. Langsam hebe ich seinen Arm, damit ich ihn nicht wecke, und stehe vorsichtig auf. Schleichend verlasse ich das Schlafzimmer. Es ist so schwer, für mich einzuschätzen, was ich träume und was nicht, aber gerade fühlt es sich mal wieder so echt an. Ich würde mir wünschen, dass du es mir erklärst, was in mir vorgeht. Letztlich ist es aber zu spät.
Geradewegs steuert mein Impuls mich ins Badezimmer und ich schaue mich um. Es gibt so viele Möglichkeiten, es für immer zu beenden. Mit dem Stoffgürtel des Bademantels könnte ich mich an der Duschstange erhängen. Mit der kleinen Nagelschere auf der Ablage könnte ich mir die Pulsadern aufschneiden. Und als ich in den Spiegelschrank schaue, entdecke ich die vielen Medikamente, die ich zu einem tödlichen Cocktail zusammenmischen kann.
»Kannst du nicht schlafen?«
Erschrocken fahre ich zusammen, als Viccos Stimme mich trifft. An den Türrahmen gelehnt steht er da und schaut mich so komisch an, als wisse er von den Gedanken, die mich verfolgen.
»Komm ins Bett, Baby. Alles, was du hier findest, wird bloß schmerzhaft sein und dich keinesfalls töten. Nur Schmerzen werden diese Dinge hinterlassen – und kein Glück.«
Hart schluckend, da er tatsächlich meine Idee erkannt hat, bleibe ich schweigend stehen.
»Ich habe einen Plan. Gib mir die Chance, dir zu zeigen, wie schön es sein kann.«
Darauf erwidere ich nichts, zumal ich ihm nicht glaube. Ich schaue auf seine ausgestreckte Hand, die auf meine Reaktion wartet. Da mir scheinbar keine andere Lösung für diese Situation einfällt, atme ich durch, lege meine kalte, zittrige Hand in seine und lasse mich von ihm ins Schlafzimmer zurückbringen.
Widerwillig klettere ich ins Bett und lasse mich in seine Arme ziehen.
»Ich habe es auch versucht.« Er legt die Decke um uns und ich schlucke, als mir seine Worte bewusster werden.
»Es ist alles ganz anders passiert, als ich es erwartet habe. Ich wollte dich wirklich nur beschützen, weil ich Angst hatte, dass irgendein Kartellmitglied Jagd auf dich macht und dich quält, nur damit ich ihm mein Lager preisgebe. Ich bin nicht der Mann, in den du dich verliebt hast. Da stimme ich dir zu. Jetzt weißt du, wer ich bin. Mein Vater war ist derjenige gewesen, der uns beide auseinanderbringen wollte, und ich war zu blöd, um zu merken, dass er mein Vertrauen ausnutzt. Ich habe ihm all die Informationen über dich verraten, mit denen er dich foltern konnte. Das habe ich unbewusst getan. Ich wusste weder, was er vorhat, noch, was er vollzieht. Es tut mir leid, Baby.«
Siehst du und hörst du, wie schwer ihm diese Worte fallen? Ich spüre es sogar und bin dennoch sprachlos. Oder gerade deswegen.
»Als du nicht mehr im Pearl warst, ist meine Welt zusammengebrochen. Ich habe dich gesucht und nicht gefunden. Schließlich hat man mir gesagt, dass du gestorben bist.«
Seinen letzten Worten kann ich nicht mehr folgen. Verstehst du es? Seine Arme umfassen mich fester und zum Trost schmiege ich mich noch mehr an ihn, während er unsere Finger miteinander verschränkt. Zugleich möchte ich nicht, dass er aufhört, zu reden. Ich möchte all das hören, was ihn belastet hat.
»Ich habe wirklich geglaubt, dass du nicht mehr da bist, habe mich so verlassen gefühlt. Man hat sogar ein Grab für dich auf dem Friedhof gemacht. Ich war dort und gab mir die Schuld. Ohne zu wissen, wohin mich meine Beine führen, war ich schließlich bei meinem Vater. Er hat mir dasselbe weisgemacht und hat mich eingesperrt. Nicht wie früher, als ich noch ein Kind war. Diesmal konnte er mich nicht verletzen, weil ich schon längst gebrochen war. Dein totgeglaubter Körper, die Vorstellung, dich für immer verloren zu haben, war schmerzvoller als alles andere jemals zuvor. Ich wollte mich mit einem Kabel erhängen. Wenn nicht eine Mitarbeiterin meines Vaters gekommen wäre, von der ich ebenfalls geglaubt habe, sie sei tot, hätte ich mir das Leben genommen. Nur um dir nahe zu sein, weil ich dich nicht aufgeben wollte. Baby, ich werde dich nie aufgeben, weil ich dich über alles liebe. Mehr als mein eigenes Leben. Wenn du gehst, gehe ich auch. Das soll nicht heißen, dass du Verantwortung für meinen Tod übernehmen sollst, sondern nur, dass wir – falls du dich dazu entschließt, es wirklich zu tun – gemeinsam gehen werden.«
Ich kann nicht fassen, was er gerade gesagt hat. Das berührt mich tief, weshalb mir die Tränen wieder hochkommen. Aus einem tiefergreifenden Grund, den ich selbst kaum einschätzen kann, erwärmt sich mein Herz und ich drehe mich zu ihm um. Von seinen Armen fest umschlossen küsse ich ihn.