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V icco weckt mich, indem er mir unzählige Küsse auf mein Gesicht drückt. Das übertriebene spielerische Schmatzen ist unangenehm und ich ziehe mich zurück. Ein Schauer durchfährt mich und beim Strecken bemerke ich, dass wir noch immer im Auto sitzen. Nach draußen schauend erkenne ich viele Tannen. Wir sind regelrecht davon umgeben, als würden wir mitten im Wald stehen. Wo sind wir hier? Was hat Vicco jetzt wieder vor? Erkennst du, wo er mich hingebracht hat?
Er steigt aus und während ich mir die Umgebung anschaue, Anhaltspunkte suche, ob ich hier schon einmal war, kommt er ums Auto herum und hält mir die Hand hin.
»Komm, Baby.«
Von ihm lasse ich mich gerne aus dem Wagen ziehen und schmunzele kurz, weil es so gentlemanlike ist, wie er an der offenen Autotür mit meiner Hand in seiner dasteht und lächelnd an mir herabsieht.
»Bist du bereit? Wir müssen ein Stück laufen.«
Nickend stimme ich zu und er verschränkt unsere Finger miteinander. In der anderen Hand trägt er eine Tüte, der ich nicht viel Aufmerksamkeit schenke. Vielmehr nehme ich die Umgebung und den Geruch in der Luft wahr. Wald und eine starke Luftfeuchtigkeit. Um uns herum ist es still und gleichzeitig laut, da die Vögel ihr eigenes Lied der Freiheit trällern und mit dem Wind, der durch das Geäst fegt, singen. Dieser trifft uns nicht, ist nur hörbar, weil die Bäume dicht an dicht stehen. Tanne neben Tanne werden wir von ihnen beschützt. Befremdet erklingen nur unsere Füße, unter denen die heruntergefallenen Zweige knirschen und uns als Eindringlinge in dieser Natur bemerkbar machen.
Es geht ziemlich steil bergauf und ich merke, dass ich eine ganz andere Luft einatme. Er bringt mich an einen Ort, um mir etwas Schönes zu zeigen. Zu gut kenne ich ihn. Ich habe den Sprung überlebt, den Schreck überstanden und jetzt kommt das Schöne als Belohnung. Aufgeregt darüber, was er mir zeigen wird, nehme ich meine Umgebung in mich auf und muss bei dem ganzen Gezwitscher der Vögel lächeln. Sie bekommen von dem Unheil, das auf dieser Welt lauert, nichts mit und singen fröhlich ihre Lieder.
»Baby?« Seine Stimme passt sich leise der Umgebung an und ich lehne mich beim Gehen an seinen Arm.
»Ja?«
»Ich habe auch eine Liste.«
Da mich das wundert, frage ich: »Was für eine?« Fühlt er etwa genauso wie ich? Überlegt er auch mit jeder Stunde, die vergeht, wie sinnlos unser Dasein ist?
»Eine Liste fürs Leben.«
»Eine fürs Leben? Du meinst, wofür es sich lohnt, weiterzumachen?«
»Ganz genau.« Das macht mich neugierig.
»Was steht drauf?«
»Ganz oben steht die Liebe zu dir. Es gibt nichts Schöneres, als dich zu lieben und von dir geliebt zu werden. Jeden Tag will ich neben dir aufwachen, neben dir einschlafen und so wie jetzt neben dir herlaufen. Ich will dich lachen sehen und deine strahlenden Augen, die mich wütend anschauen. Ich will dich traurig, glücklich und zornig sehen. Das Wissen, dass du da bist, reicht aus, um am Leben teilhaben zu wollen – und das mit dir gemeinsam.«
Ich liebe ihn. Ich liebe ihn so sehr und bin ihm für diese Worte so dankbar. Fest umschließe ich seinen Arm mit beiden meiner und wir gehen weiter. Ich klammere mich an ihn wie in den Jahren zuvor, als würde nicht so viel zwischen uns stehen und er keine schwerwiegende Entscheidung von mir erwarten.
Schweigend gehen wir immer weiter.
So langsam gehen mir die Kraft und Puste aus. Ich bin müde und durstig.
»Ist es noch weit?«, frage ich daher und er schüttelt nur den Kopf.
Schließlich zieht er mich vom Weg und zwingt mich, über Baumstämme zu klettern, bis ich zwischen all den Tannen und dem Gestrüpp eine bewachsene Bank erkenne. Verloren und längst vergessen steht sie da, als wäre einst ein Weg hier gewesen, den die Natur wieder eingefordert hat.
Vor der Bank strecke ich die Arme aus und merke die eigentliche Weite unserer Erde, dabei ist dieser Ausschnitt hier im Vergleich zu der ganzen Welt noch klein.
Berge und unzählige Tannen bilden ein wunderschönes Bild. Auch wie die Sonne dahinter verschwindet und sich mit aller Gewalt durch die dichten Baumkronen zwängt, um die letzten Strahlen auf uns scheinen zu lassen, ist großartig.
Aber das ist nicht das, was Vicco mir zeigen wollte.
Ruckartig zieht er mich noch ein Stück vor und ich erkenne die Schlucht.
Es geht steil bergab zu einem Abgrund, der sich auftut. Dort unten wartet jedoch nicht der Schrecken, sondern ein breites Gewässer, das herrlich blau ist und dank der wenigen Sonnenstrahlen vor sich hin glitzert. Fassungslos stehe ich da, lasse dieses Bild auf mich wirken und kann meinen Blick nicht von den kleinen Wellen abwenden. Die Oberfläche funkelt und kleine Lichtpunkte tanzen darauf.
»Wo sind wir?«, frage ich ehrfürchtig und kann mich nicht sattsehen.
»Wir sind am Ruhrsee. Wir sind einige Stunden gefahren.«
Diese ganze Umgebung … es ist so stark und kraftvoll, dass es mich fast erschlägt. Ich spüre mein Herz pochen und ein Glücksgefühl aufkommen. Es ist so wunderschön, dass ich aus dem Staunen nicht herauskomme. Dass es mir Tränen in die Augen treibt.
Vicco schiebt mich vorsichtig zurück zur Bank und zwingt mich, mich hinzusetzen. Dabei kann ich den Blick einfach nicht von dem Schönen abwenden. Er hält mir eine Cola hin und ein Sandwich, aber ich bin zu aufgeregt, um etwas zu essen, und trinke lediglich einen Schluck. Ich spüre noch nicht mal, wie kalt es um uns herum ist. Erst als Vicco mir einen warmen Taschenwärmer in die Hand drückt, woraufhin ich fast laut loslache. Er denkt einfach an alles. An mich. Und gibt sich so viel Mühe, dass es mein Herz zerquetscht.
Mein Freund, das hier ist so hübsch. Ich bin froh, dass du bei mir bist. Du siehst dieses Bild durch meine Augen und spürst meine Empfindungen direkt aus meinem Herzen und meiner Seele.
»Weißt du, was gleich als zweites auf der Liste steht?«
Ich schüttele andächtig den Kopf und warte gespannt auf seine Antwort.
»Es lohnt sich für mich, zu leben, weil ich dir noch nicht alles gezeigt habe, Baby. Ich möchte dir jeden wunderschönen Ort dieser Welt zeigen und da die Welt so groß ist, reicht wahrscheinlich ein Leben nicht aus. Also warum dieses einzige kostbare verschwenden oder gar verkürzen?«
Ungewollt kommen mir die Tränen und ich kann sie nicht aufhalten.
»Es wäre doch viel zu schade, zu sterben, ohne alles Schöne gesehen zu haben, findest du nicht?«
In dem Moment gibt es kein Halten mehr für mich. Ich wende mich von dem Anblick dieser natürlichen Schönheit und dieser einzigartigen Freiheit ab und umschlinge Viccos Hals. Dabei klettere ich auf seinen Schoß und küsse ihn.