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Nach dem Ausflug zu Costco beteuere ich noch einmal, dass ich gut allein zurechtkomme und Mom wie geplant am Sonntagabend wieder abfahren kann. Sie hat mir genug Vorräte besorgt, dass ich die nächsten paar Monate auskomme. Ich habe Toilettenpapier sowohl unter meiner Spüle und in der Garage als auch im Badezimmer selbst verstaut.

»Bist du sicher, dass du Riley gewachsen bist?«, sagt Mom zu mir, als wir die Spülmaschine ausräumen.

Ich zucke mit den Schultern, dann nicke ich. »Ja.«

»Von Becky gehört?«

»Länger nicht. Riley telefoniert manchmal mit ihr, aber ich glaube, sie hat sie schon seit einer Woche nicht mehr gesprochen. Sie hat noch nicht gesagt, wann sie wiederkommt.«

»Ich werde sie darauf festnageln.« Mom schließt energisch den Glasschrank. »Stabilität ist für Riley wichtig.«

»Da gebe ich dir recht.«

»Becky sollte Riley entweder für den Rest der Highschool bei mir lassen oder nach Hause kommen und ihr eine richtige Mutter sein.« Mom wischt etwas Wasser aus einer Schüssel.

»Du meinst ohne Pillen und Alkohol?« Klappernd lege ich Besteck in die Schublade. »Ist das nicht zu viel verlangt?«

»Ich glaube, das macht sie nicht mehr.« Mom fängt an, die Pfanne in der Spüle zu schrubben. »Ich weiß, dass sie hin und wieder mal was trinkt, aber nicht mehr so viel wie früher.«

»Damit kann man nicht einfach so aufhören, Mom.«

»Zumindest funktioniert sie. Hat einen Job.« Mom summt tonlos vor sich hin, und zwischen ihren Augenbrauen bildet sich eine Furche. Sie hört nicht gern etwas Schlechtes über ihre Kinder, ob es nun stimmt oder nicht.

»Noch.«

»Ich weiß, dass du deine Schwester aufgegeben hast, aber ich glaube, sie hat sich gebessert. Gib ihr eine Chance.« Mom trocknet ihre Hände ab, greift in ihre Handtasche. »Bevor ich es vergesse. Hier ist ein Scheck. Becky hat Geld auf mein Konto überwiesen. Ich soll es dir geben.« Sie reicht mir den Scheck. Es ist eine ordentliche Summe, wie ich zugeben muss. Mehr als genug für Rileys Kost und Logis und dergleichen. »Du könntest ihr auch gleich deine Kontonummer geben, damit sie es dir direkt überweisen kann.«

Ich stecke den Scheck ein. »Nie im Leben werde ich Becky meine Kontodaten geben.«

»Nächstes Mal wird Dad dir das Geld von unserem Konto auf deins überweisen.« Mom wäscht die Pfanne aus und stellt sie zum Trocknen auf das Gestell.

»Falls was kommt«, knurre ich düster.

»Das wird es. Das wird es.« Mom gibt mir einen Kuss auf die Wange. »Hab ein bisschen Vertrauen, Gal.«

Am Dienstagnachmittag möchte Dr. Blankenship mich sehen. Wir treffen uns in einem Büro mit Ledersesseln, Computer und Schreibtisch statt im Untersuchungsraum. Hier empfängt sie mich nur, wenn es Neuigkeiten gibt. Unruhig klammere ich mich an meine Tasche.

Dr. Blankenship sitzt hinter einem großen L-förmigen Kirschholzschreibtisch mit Blick auf den Parkplatz. Sie hat einen chinesischen Pfennigbaum, einen Glücksbambus und einen Miniatur-Zen-Garten mit einer winzigen Holzharke. In einer Ecke des Zimmers hängt eine rote Laterne und gegenüber der Eingangstür ein lackierter Spiegel. Hier stehen so viele solche Sachen, dass ich einen Moment lang überlege, ob sie vielleicht chinesische Vorfahren hat.

Sie sieht, dass ich ihre Sammlung betrachte. »Feng-Shui«, sagt sie. »Gesundheit und Wohlstand. Ist gut für den Energiefluss.«

Ich spitze die Lippen. Sie glaubt an einen Energiefluss, aber nicht an eine Allergie gegen das Kontrastmittel des IVP-Tests. Offenbar bemerkt sie meine Überraschung, denn sie zuckt mit den Schultern. »Ich besitze sogar eine Hasenpfote, die ich vor jeder Operation streichle. Hin und wieder bin ich abergläubisch. Kann nicht schaden, oder?«

»Wohl nicht.« Ich mustere sie argwöhnisch. Sie ist heute leicht geschminkt, trägt Rouge, damit ihre weiße Haut etwas gesünder wirkt, Abdeckstift über den dunklen Schatten unter ihren Augen, Mascara auf den hellen Wimpern.

»Mark Walters hat mir etwas Interessantes geschickt.« Sie wirft mir einen Ausdruck des Artikels aus der medizinischen Fachzeitschrift hin. Wie ein Fächer breiten sich die Blätter auf dem Tisch aus.

Ich schlucke, mache mich bereit. »Lassen Sie mich raten. Sie haben es gelesen. Sie sind anderer Ansicht.«

»Nein. Ich habe es gelesen und mich mit meinen Kollegen besprochen, und jetzt …«, sie holt tief Luft, »… jetzt glaube ich, dass der Blutfluss kein Problem mehr darstellt, wenn wir die verdammte Niere auf die rechte statt auf die linke Seite setzen.«

Ich schwöre, dass in diesem Moment meine sämtlichen Körperfunktionen aussetzen. Ich schwebe in der Luft. Ich hoffe nur, der Absturz tut nicht so weh.

Sie fährt fort, als würden wir eine völlig normale, alltägliche Unterhaltung führen. »Ich bin sehr wohl ein Mensch, der zugeben kann, dass man manches auch anders machen könnte, dass man sich auch irren kann. Das gehört eben dazu.«

Ich starre sie an, begreife nicht.

Sie schiebt die Artikelseiten wieder zusammen. »Sie stehen wieder auf der Warteliste, Gal.«

Endlich kommt Leben in mein Hirn. »Ist das Ihr Ernst?«

Sie nickt und lächelt mich zum allerersten Mal, seit wir uns kennen, aufrichtig an. »Das haben Sie Mr Walters zu verdanken, Gal. Und der Prüfungskommission.«

Natürlich. Wenn einem kein Grund mehr einfällt, etwas nicht zu tun, muss man es tun, weil einem sonst die Klagen nur so um die Ohren fliegen. Ich schlucke die Frage hinunter, warum sie nicht auf dem neuesten Stand der Forschung ist, warum verdammt noch mal ein anderer Patient ihr erst davon erzählen musste. Ich beherrsche mich nur, weil Dr. Blankenships chirurgische Fähigkeiten außer Frage stehen und sie eine hohe Überlebensrate vorzuweisen hat. »Danke. An welcher Stelle stehe ich?«

»Top Ten. Wir gehen die Liste durch und nehmen den, der am besten passt.«

Ich nicke. Das ist alles schon so lange her, dass ich vergessen habe, wie es läuft.

Dr. Blankenship steht auf. »Unsere Koordinatorin für Nierentransplantationen wird sich im Lauf des Tages bei Ihnen melden. Sie kann Ihnen etwaige Fragen beantworten und außerdem sicherstellen, dass auch wirklich das Passende für Sie dabei ist.« Sie klingt, als ginge es um eine Partnervermittlung, nicht um eine Nierenoperation. Ich lächle.

Ich reiche ihr die Hand. »Vielen Dank.«

Sie zögert, bevor sie einschlägt. »Gal, Sie sind eine Patientin, die es einem nicht leichtmacht.«

Ich lache trocken. Was soll man darauf sagen? »Danke.«

»Das kann schlecht sein, aber auch gut.« Sie holt einmal tief Luft. »Was ich damit sagen will, ist, dass ich auf jeden Fall mein Bestes für Sie tun werde. Okay?«

»Das weiß ich zu schätzen.« Ich grinse.

Sie winkt ab. »Ich wünsche Ihnen eine angenehme Sitzung. Und rufen Sie Ihre Mutter an.«

Mr Walters sitzt im Wartezimmer und schäkert mit den alten und jungen Damen um ihn herum. Heute trägt er weiße Shorts mit einem langärmligen Hemd und braunen Ledersandalen. Ich gehe direkt auf ihn zu.

»Danke.« Ich halte ihm die Hand hin.

Er nimmt sie. »Also hat sie eingewilligt.«

»Das hätten Sie nicht tun müssen.« Ich setze mich neben ihn. Die schreckliche Wahrheit ist, dass ich nicht sicher bin, ob ich dasselbe auch für ihn getan hätte. »Es wäre möglich, dass ich vor Ihnen eine Niere bekomme.«

Seine Fröhlichkeit bleibt ungebrochen. »Das liegt nicht in unserer Hand. Wer am besten passt, hat Glück. Sie und ich, wir brauchen nicht dieselbe Niere, Gal. Von jetzt an liegt es in der Hand des Schicksals.«

»Das Schicksal kann mich mal.« Ich verschränke die Arme.

»Das Schicksal ist eine Schlange.« Er grinst, dann tätschelt er meinen Arm. »Ich sag Ihnen was. Solange wir mit diesen Maschinen verkabelt sein müssen, könnten wir doch eigentlich eine Partie Scrabble spielen.«

Würde die Schwester einen von uns zur Schlafenszeit nach nebenan schieben? »Im Buchstabieren bin ich eine völlige Niete.«

»Dann macht es nur noch mehr Spaß.« Er grinst.

Ich klopfe auf meine Tasche. »Ich muss meinen Unterricht vorbereiten.« Das stimmt nur zum Teil. Ich habe meine Stunden schon auf Wochen im Voraus geplant, weil ich mich zu Beginn des Schuljahrs festlegen muss. Im Prinzip ist es der Plan vom letzten Jahr. »Vielleicht nächstes Mal.«

Er nickt. Sehe ich da einen Hauch von Enttäuschung? Gefalle ich ihm etwa? Unmöglich. Er ist so alt, dass er mein Vater sein könnte. Aber vielleicht glaubt er, ich bin in seinem Alter.

»Ich bin sechsunddreißig«, platze ich heraus. Alle im Raum, Jung und Alt, richten ihre Aufmerksamkeit auf mich.

Mark lächelt verschmitzt, »Glückwunsch. Ich bin neunundfünfzig.«

Ich setze mich auf meinem Stuhl aufrecht hin. »Ich dachte nur, Sie würden es vielleicht gern wissen.«

»Ich werde es mir merken. Siebenunddreißig Kerzen auf Ihrem nächsten Geburtstagskuchen. Wann ist das?« Seine Augen funkeln. Sie erinnern mich daran, wie ich mir das Lachen verkneifen muss, wenn ein Schüler etwas besonders Lustiges macht und sich dabei um allergrößte Ernsthaftigkeit bemüht.

»Einunddreißigster Januar.« Ich werde rot. Nickend beugt er sich vor. »Und was ist Ihr Lieblingskuchen?«

»Hängt davon ab, was ich essen darf.«

»Seien wir optimistisch. Bis zu Ihrem nächsten Geburtstag haben Sie eine neue Niere.« Walters schlägt die Beine übereinander. »Suchen Sie sich einen Kuchen aus. Was Sie mögen.«

Ich überlege, gehe alle Kuchen durch, die ich je in meiner Fantasie probiert habe. Ich komme zu einer Entscheidung. Komplizierte Kreation. »Omelette Surprise. Baiser auf einem Schokoladenkuchen mit Vanillesoße.«

Er hebt eine Augenbraue. »Beeindruckend. Und soll das Baiser brennen?«

Ich nicke. »Selbstverständlich.«

»Schon mal gegessen?« Er zückt tatsächlich sein BlackBerry und tippt etwas ein.

»Meine Mutter hat mir einen gebacken, nachdem ich mit zwölf meine erste Niere bekommen hatte.« Ich lächle. »Zwölf Eiweiß für das Baiser. Sie brachte es nicht übers Herz, das ganze Eigelb wegzuwerfen, also gab es am nächsten Tag Eiercreme. Allein davon hat sie zweieinhalb Kilo zugenommen.« Es war jedes Pfund wert, hatte Mom damals gesagt. Es wäre auch zehn Kilo wert gewesen.

Er lacht so schallend, dass er husten muss, trocken und würgend, bis sein Gesicht die Farbe Roter Bete annimmt und sich feine weiße Falten um die Augen bilden.

»Kriegen Sie Luft?«

Walters hebt eine Hand, ein pfeifendes Geräusch kommt aus seinem Mund. Schwester Sonya bringt ihm eilig einen Plastikbecher mit Wasser. Er trinkt es in einem Zug. Als er das Wasser schluckt, sehe ich, wie dürr sein Hals ist. Ich stelle mir vor, wie er wohl aussah, als er gesund war.

Er bedankt sich bei Sonya für das Wasser, dann redet er weiter mit mir, als wäre nichts gewesen. »Ich glaube, die Kerzen könnten im Baiser versinken.«

»Dann nehmen Sie eben größere Kerzen.«

Wieder lacht er. »Sie haben wohl für jedes Problem eine Lösung parat.«

Sonya ruft meinen Namen. Ich stehe auf. »Wir sehen uns morgen früh, vermutlich.«

»Bis dann.« Er hat schon wieder sein BlackBerry in der Hand. Ich zögere. Vielleicht könnten wir doch was spielen. Ich könnte Sequence oder Karten vorschlagen statt Scrabble. Aber jetzt ruft die Schwester nachdrücklich meinen Namen, und ich möchte niemandem Probleme bereiten, weil Zimmer umgeräumt und Betten herumgeschoben werden müssen. Ich verlasse Mr Walters, der sich über sein kleines, schwarzes Telefon beugt und mit langen, schmalen Fingern auf die Tasten eintippt.