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Drei Tage später trifft Becky ein – einen ganzen Tag später als angekündigt. Immer lässt sie alle warten. Ich hake es auf der Liste der Dinge ab, die mich an meiner Schwester stören.

Irgendwann gegen sieben hält ein Taxi vor meinem Haus. Riley sitzt seit vierundzwanzig Stunden an der Tür und rennt laut rufend hinaus. Sie trägt das Armband, das ihre Mutter ihr geschickt hat, an dem einen und das von mir an dem anderen Handgelenk. »Mom!«

Ich gebe ihnen einen Moment allein. Was nicht bedeutet, dass ich sie nicht heimlich durchs Wohnzimmerfenster beobachte, wobei ich etwas zurückweiche, um nicht entdeckt zu werden.

Becky schwingt ihre Beine aus dem Taxi, trägt einen überraschend schlichten Sportanzug, die Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Ihr Gesicht ist ungeschminkt. Nicht mehr so hohlwangig wie beim letzten Mal. Sie drückt Riley an sich, sieht sie an, hält ihr Gesicht mit beiden Händen. Ein körperlicher Ausdruck der Zuneigung, der mir so schwerfällt. Riley sagt etwas, Becky wirft den Kopf in den Nacken und zeigt laut lachend ihre großen, weißen Zähne.

Ich taumle rückwärts. Ich muss hier weg.

In meinem Schlafzimmer setze ich mich aufs Bett, habe die Tür hinter mir geschlossen. Ich höre ein Rauschen wie Wasser, als wäre die Spülmaschine an, und ich lausche. Es ist das Blut, das in meinen Ohren rauscht.

Ich greife nach dem Telefon. Ich könnte Dara anrufen, um mich aufheitern zu lassen. Oder meine Mutter. Oder sogar George. Er hat Erfahrung mit psychisch instabilen Menschen, die einem etwas wegnehmen wollen. Das Bild von Becky und Riley, wie sie sich draußen umarmen, brennt in meinem Kopf. Es könnte sein, dass ich Becky etwas wegnehmen will, nicht umgekehrt.

Es klopft. »Tante Gal? Meine Mutter ist hier«, sagt Riley von draußen mit derselben beschwichtigenden Stimme wie meine Mutter. Ich höre, dass sie Becky etwas zuraunt, erzählt ihr wahrscheinlich, dass Tante Gal manchmal Anfälle bekommt, um die man sich aber keine Sorgen machen muss.

Ich öffne die Tür.

Meine Schwester steht kaum einen halben Meter vor mir. Das Weiß in ihren Augen leuchtet im trüben Licht. Ihre Grübchen vertiefen sich zu einem Lächeln. »Gal!« Sie tritt vor und drückt mich an sich.

Ich drücke kaum zurück. Sie fühlt sich muskulös und leicht an. »Trainierst du?«

»In dem Gebäude, in dem ich gewohnt habe, gab es einen Swimmingpool.« Sie tritt zurück und sieht mich mit funkelnden Augen an. Leuchtend geradezu.

»Du bist bestimmt erschöpft«, sage ich. »Möchtest du dich hinlegen?«

»Nein, danke. Ich habe im Flugzeug geschlafen.« Becky sieht sich im Wohnzimmer um, betrachtet die Rosenfotos an der Wand, die neuen Bilder von Riley. Riley mit ihrer Blide. Riley bei ihrem Ferienjob.

Ich erstarre. »Oh.«

»Ich habe keine Tablette genommen«, sagt Becky. »Ich schlafe im Flugzeug immer ein. Liegt an der Höhe.«

»Gut, dass du kein Pilot bist.« Riley hat aufgehört, ihrer Mutter ständig hinterherzulaufen, lässt sie jedoch nicht aus den Augen. Das hat sie schon gemacht, als sie noch ganz klein war, ob in ihrer Wiege liegend, in ihrem Kindersitz oder in den Armen eines anderen. Sie war fixiert auf ihre Mutter, mit einer Intensität, die jeden verblüffte, die Äuglein auf Becky gerichtet, als könnte sie deren Aufmerksamkeit allein durch Willenskraft auf sich ziehen.

Riley möchte mit ihrer Mutter essen gehen. »Willst du auch mitkommen, Tante Gal?«, fügt Riley etwas hastig hinzu. Sie hat mich vergessen.

»Geht ihr nur.« Ich winke ihnen. Ich will nicht fünftes Rad am Wagen sein.

Als sie weg sind, hole ich meine Fotoalben hervor. Angefangen bei meiner Kindheit. Becky und ich, altersmäßig so nah beisammen, und doch so verschieden. Auf jedem Bild mein Mondgesicht zu sehen tut mir weh, vor allem wegen der dazugehörigen Erinnerungen. Becky grinst sich durch ihre Kindheit. Streckt mir die Zunge raus. Wird nach ihrem elften Geburtstag mürrisch und distanziert.

Riley und Becky kommen erst spät zurück, so gegen acht Uhr. Ich schaue vom Fernseher auf, die Wiederholung eines Hercule-Poirot-Films. »Du solltest dich waschen und bettfertig machen, Riley«, sage ich ruhig, obwohl es in mir hüpft und schreit. »Morgen hast du Schule.«

Becky nickt ihrer Tochter zu, die zögernd in der Tür steht. »Geh, hör auf Tante Gal.«

»Wenn du uns brauchst …«, sage ich zu Riley. »Wir sind draußen im Gewächshaus.« Ich muss Becky allein sprechen, wo Riley uns nicht hören kann. Ich werde dieses um den heißen Brei Schleichen keine Minute länger ertragen. Dieser absurde Versuch, den Schein zu wahren. Ich bin kurz vorm Explodieren. Zwei senkrechte Falten bilden sich zwischen Rileys Augenbrauen, als ihr Blick von mir zu ihrer Mutter und wieder zurück wandert. Beide lächeln wir sie an, spielen die glücklichen Schwestern, bis Riley endlich nickt und sich ins Bad verzieht.

Becky folgt mir hinaus. Ende Oktober sind die Abende schon kalt, und ich zittere etwas in meinem dünnen Pullover, hatte es zu eilig, um mir eine Jacke anzuziehen.

Der Mond wirft sein fahles Licht auf den Garten, als wir über den Kiesweg gehen. »Hut ab. Hier hat sich viel getan«, bemerkt Becky. »Die ganzen Rosen. Ich war nicht mehr hier, seit du das Haus gekauft hast.«

»So lange?«

»Man hat mich nicht eingeladen.«

Unsere Eltern waren Weihnachten immer bei mir, weil sie sich dachten, dass Becky ja wenigstens Riley hatte, ich aber niemanden. Als Riley noch klein war, habe ich Becky gesagt, sie solle vorbeikommen. »Die Weihnachtseinladung stand immer.«

»Hier ist nicht genug Platz.«

»Ich hätte dir mein Bett gegeben.«

Becky gibt einen quiekenden Laut von sich. »Das hätte Mom nie zugelassen.«

Ich mache Licht im Gewächshaus.

Blinzelnd steht Becky im grellen Licht, schreitet den Gang voller Rosen ab. »Das ist echt beeindruckend, Gal. Du hast hier ja ganz schön was auf die Beine gestellt.«

»Könnte man so sagen.« Plötzlich bin ich stolz, freue mich über das Kompliment meiner Schwester. Ich sitze auf dem Rollhocker, während sie ihre Runde dreht, ohne sich von mir herumführen zu lassen. Sieht sich nur um.

Sie wirkt clean, das muss ich zugeben. Sie ist wacher, als sie es je war, seit sie mit Riley schwanger wurde. Nicht dass ich sie sonderlich oft gesehen hätte, wie ich mir eingestehen muss.

Sie kommt zu mir zurück und nimmt auf einem anderen Hocker Platz. Wir sitzen uns gegenüber, der kleine Hocker bequem für meine Größe, Becky dagegen etwas eingeknickt wie auf einem Kinderstuhl. »Also«, beginnt sie.

»Also«, wiederhole ich.

Ich weiß, was sie als Nächstes sagen wird, bevor es aus ihrem Mund kommt. »Ich werde Riley mitnehmen.«

»Wohin?«

»San Francisco. Ich bin wieder zu Hause.«

Ich wende mich ab, starre die leeren Behälter für die Sämlinge an. Nächsten Monat fülle ich wieder Erde hinein und pflanze neuen Samen. Der Kreislauf beginnt von vorn. »Das kann nicht dein Ernst sein.«

»Doch.« Becky rückt näher an mich heran. »Gal, ich brauche keine Tabletten mehr. Und ich trinke keinen Tropfen Alkohol. Und rauche auch kein Gras.«

Ich rücke ab.

»Gal, ich bin clean. Ich bin schon lange clean. Es geht mir gut.« Sie betrachtet ihre Hände. »Sie fehlt mir. Mehr als ich gedacht hätte.«

»So wie damals, als sie bei ihrem Vater war?« Ich kann sie nicht ansehen, sonst breche ich in Tränen aus. »Jahrelang warst du nicht für sie da.«

Becky sagt nichts, schweigt so lange, dass ich mich umdrehe, um zu sehen, ob sie eingeschlafen ist. Sie schaut mich ganz ruhig mit großen Augen an. »Das stimmt«, gibt sie zu.

Ich stehe auf. »Weißt du, was ich nicht verstehe? Wie du, die alles hat, Gesundheit, Intelligenz und Schönheit für drei …, wie kannst du das alles wegwerfen?« Meine Stimme ist laut, aber gefasst.

»Gal.« Meine Schwester schluckt. »Ich weiß, dass du es schwer hattest, aber ich hatte es auch nicht leicht.«

»Was war denn für dich so schwer? Dass bei dir alles stimmte?« Ich kann mir den Sarkasmus nicht verkneifen. Becky, das Opfer. Es reicht. Das hör ich mir nicht an.

»Deine Krankheit.« Becky steht auf, macht einen Schritt zurück. »Du hast immer alles bekommen, was du wolltest, egal, was. Mom und Dad haben dir immer recht gegeben. Selbst wenn ich Extrataschengeld wollte, musste ich nur dich bitten, sie zu fragen. Zu mir hätten sie Nein gesagt, aber zu dir niemals.«

»Und du hast mir was davon abgegeben.« Ich lächle und schäme mich ein bisschen. Meine Eltern waren so leicht zu manipulieren, dass ich gar nicht gemerkt habe, wenn ich es tat. Ich kannte es gar nicht anders.

Becky lacht bitter. »Ja. Ich musste damit allein klarkommen. Ich war ja nicht krank, also war es egal, dass keiner zu meinen Schulkonzerten ging oder mich zum Fußballtraining brachte. Immer hieß es: nächstes Jahr.« Ich sehe ihr an, dass es sie quält. »Weißt du, wie oft ich allein vor dem Fernseher gehockt habe, wenn du im Krankenhaus warst?«

Ich weiß noch, dass ich neidisch auf meine Schwester war, weil sie zu Hause bleiben konnte und nicht jeden zweiten Tag zum Arzt musste. »Wenigstens brauchtest du nicht ins Krankenhaus, um dir was rausschneiden oder dich stechen zu lassen«, sage ich. »Wenigstens bist du zu normaler Größe herangewachsen. Hast ein Kind.«

Becky starrt mich an. »Weißt du, was ich alles anstellen musste, um überhaupt Aufmerksamkeit zu bekommen. Als ich vom Baum fiel, sagte Mom nur: ›Hör auf zu heulen. Du wirst wenigstens wieder gesund.«

»Das hat sie nicht gesagt.« Ich weigere mich, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Es ist keine Entschuldigung für das, was Becky getan hat.

Sie seufzt. »Sinngemäß.«

»Würde dein Therapeut es so nennen?«

Sie blinzelt. »Gal. Sei nicht so verletzend.«

Ich gebe nicht nach. »Das ist nicht verletzend. Du kannst nicht wegreden, dass du Riley die Kindheit geraubt hast, Becky. Du bist schuld. Niemand sonst. Schau, was aus ihr geworden ist. Das darfst du nicht schon wieder wegwerfen. Nicht jetzt.«

»Meinst du, das wüsste ich nicht?« Ihre Stimme wird lauter. »Aber soll ich dir was sagen? Ich kann die Uhr nicht zurückdrehen, um das zu reparieren.« Ihre Stimme bricht. »Ich kann nur reparieren, was ich jetzt habe. In der Gegenwart.«

Ich schaue meiner Schwester ins Gesicht, erwarte Tränen zu sehen. Aber da sind keine. Sie hält den Kopf hoch, beißt die Zähne zusammen. Ist für einen langen Kampf gewappnet.

»Ich bin ihr gesetzlicher Vormund«, sage ich.

»Ich bin ihre Mutter«, entgegnet Becky. »Sie ist alt genug, selbst zu entscheiden.«

Ich sehe mich im Gewächshaus um. Die Rosen kriegen ihre Hagebutten, machen sich bereit, mir ihre Samen zu geben. Ich denke an die vielen Stunden, die Riley hier mit mir verbracht hat. Ich schlucke. »Nur damit du es weißt: Ich wäre auch gern mal böse gewesen, als ich klein war.«

Sie lächelt traurig. »Ich weiß.«

Ich bin unentschlossen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren möchte ich meine Schwester umarmen. Es fühlt sich an, als würde ich etwas zugeben, mein Unrecht, meine Schuld. Ich habe nichts Unrechtes getan. Ich wollte das alles nicht. Aber Becky steht da, zitternd, verletzlich. Wenn ich es nicht tue, könnte sie womöglich zerbrechen.

Ich schließe sie in die Arme.