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An Thanksgiving wache ich frühmorgens auf und rieche Kürbis- und Apfelkuchen und Kaffee. Meine Eltern sind da, ihr Wohnmobil parkt draußen vor dem Haus, und Dad muss alle achtundvierzig Stunden einmal um den Block fahren, damit die alte Mrs Allen ihn nicht wegen Dauerparkens anzeigt.
Ich gähne. Es gibt immer noch keine Niere für mich, aber ich hoffe, dass ich schon bald mehr Glück habe. Bis zum Frühling, sage ich mir, werde ich eine neue Niere haben. Dr. Blankenship meint, dass es schwierig ist, für mich eine passende zu finden, weil mein Körper von früheren Infektionen und diversen Nieren dermaßen angegriffen ist. Dara arbeitet mit der Ärztin noch immer an ihrer Tauschidee. Mr Walters’ Pinguin zwinkert mir von meiner Kommode aus zu und erinnert mich daran. Alles ist möglich. Oder man träumt, bis man nicht mehr träumen kann. Ich habe mich noch nicht entschieden, was von beidem ich tun will. Vielleicht beides.
Ich strecke mich und lausche. Ich habe vergessen, meine Jalousien zu schließen, sodass mein Zimmer heute heller ist, als ich es gewohnt bin. Aus der Küche dringen die Stimmen von Mom und Dad und das Klirren von Teetassen. Aus dem Wohnzimmer höre ich Rileys und Beckys höhere Stimmen schnattern.
Ich ziehe meinen Morgenmantel an, schiebe meine Füße in meine Puschelpuschen und gehe ins Wohnzimmer.
Becky mustert mich mit hochgezogenen Augenbrauen. »Geh und zieh dir was an!«, flüstert sie. »George ist da.«
»George ist da?« Ich sehe mich um. Seine Stimme habe ich nicht gehört. Becky deutet nach draußen. Da ist er, kommt von draußen herein, hat offenbar den Meeresgarten bewundert und ein paar Steine umarrangiert.
Er bleibt an der Haustür stehen. »Ich dachte, du bist bestimmt schon wach und siehst dir die Macy’s Parade an.«
»Ähem.« Ich deute auf seine schmutzigen Stiefel. Er bückt sich und bindet sie eilig auf, stellt sie draußen ab. »Möchtest du vielleicht auf einen Kaffee reinkommen?«
Er kann nicht aufhören zu grinsen. »Ich krieg sie. Ich krieg sie zu Weihnachten. Und danach jedes Wochenende.«
Er muss mir nicht erzählen, von wem er spricht. Ich stoße einen Freudenschrei aus und halte meine Hand hoch, damit er abklatscht. Er spielt nicht mit. »Lass mich hier bloß nicht hängen, Morton!«
Stattdessen hebt er mich hoch und schwingt mich herum, als würde ich überhaupt nichts wiegen, bis mir schwindlig wird wie auf einem Karussell.
Am frühen Nachmittag haben sich alle vorn auf der Veranda versammelt, verteilen sich über den zusätzlichen Wohnraum. Dara ist inzwischen auch eingetroffen, in einem schimmernd braunen Kleid mit weißen Punkten und Sattelschuhen, im Schlepptau ihren jovialen Buchhalterfreund Chad. Ich muss ihn mal kennenlernen. Er scheint uns wohl erhalten zu bleiben. Mom und Dad sitzen auf dem Verandageländer, trinken Wein und streiten darüber, wie lange man den Truthahn ruhen lassen soll. »Zwanzig Minuten!«, sagt Mom. »Eine Stunde!«, entgegnet Dad. Becky erhebt ihren sprudelnden Cider in meine Richtung. Und George Morton prostet mir vom weißen Gartenstuhl her zu, schon wieder mit einem Kaffeebecher in der Hand. Immer noch auf Strümpfen.
»Zu viel Koffein ist gar nicht gut für dich«, sage ich.
Er nimmt einen Schluck. »Aber er schmeckt doch so gut zum Kuchen.«
»Du hast ihm schon was vom Kuchen gegeben?«, frage ich Mom. »Wir haben früher vor dem Essen nie was vom Kuchen gekriegt.«
Sie zuckt mit den Schultern. »Er hat so nett darum gebeten.«
George grinst mich an. Ich grinse zurück. Sind wir ein Paar? Ich traue mich nicht, es so zu nennen. Aber irgendwas ist da. Irgendwas geht vor sich.
»Willst du die Rosen für die Tischdekoration schneiden?« Dara erhebt sich von ihrem Stuhl. »Ich könnte es sonst auch machen.«
»Ich geh schon. Du weißt ja nicht, welche du nehmen sollst.« Ich steige die Verandastufen hinab.
»Die, die noch da sind?«, ruft sie mir nach.
»Ruh dich aus«, rufe ich zurück.
Zuerst kümmere ich mich um ein paar Rosen im Gewächshaus. Ich kontrolliere die Rosentöpfe und prüfe, bei welchen die Wurzeln schon unten herauskommen. Diese Pflanzen müssen in größere Töpfe. Es sind aber nur drei, allesamt aufstrebende Zwergrosen. Ich frage mich, wie es wohl Byrons Gal ergeht. Ob jemand die Rose gekauft hat und überlegt, was es mit dieser Gal auf sich haben mag.
Ich streife meine Rosenhandschuhe über, lockere die erste Zwergrose, eine rosafarbene, und nehme sie aus dem Topf. Die Wurzeln kräuseln sich wie ineinander verschlungene Spaghetti. Entgegen der landläufigen Meinung bedeutet es nicht, dass man etwas falsch gemacht hat, sondern dass die Pflege den Pflanzen so guttut, dass sie bestens gedeihen und größer werden. Aber man sollte sie nur umtopfen, wenn es unbedingt nötig ist. Für die Pflanze bedeutet es Stress, und sie braucht Zeit, sich davon zu erholen. Deshalb ist November eine gute Zeit zum Umtopfen. Sie können sich den ganzen Winter über ausruhen und müssen nichts Neues mehr beginnen.
Riley kommt barfuß vom Haus herübergelaufen. »Dara möchte wissen, ob du die Rosen schon geschnitten hast. Oma meint, der Truthahn müsste in zehn Minuten fertig sein.«
»Das mache ich gleich.« Ich drücke die Erde im größeren Topf fest. »Hilf mir doch mit den beiden hier, dann bin ich schneller fertig.«
Sie zieht ihre eigenen Handschuhe an, und wir nehmen uns die anderen beiden Zwergrosen vor. Sie arbeitet schweigend und effizient, genau wie ich, zieht die Pflanze heraus und löst vorsichtig die Wurzeln; dann schneidet sie die wildesten Auswüchse ab. »Richtig so?« Riley zeigt mir ihr Werk. Ich nicke.
Ich weiß nicht, wie lange Riley bei mir bleiben wird, ob sie die Highschool an der St. Mark’s abschließt oder ob sie nächstes Jahr zu Becky zieht. Mir bleibt nur, es zu genießen, solange sie da ist. Weihnachten wird sie bei Becky verbringen. Die Beziehung der beiden ist auf einem guten Weg, wächst zögerlich, aber stetig. Wie so vieles andere.
Als ich mit dem Umtopfen fertig bin, mache ich mich daran, Rosen zu schneiden. Riley reicht mir meine Schere vom Haken an der Wand. Ich nehme meinen Korb. Draußen schneide ich Orange, Gelb und Rot, ein paar Teehybride, die Hulthemia und Englische Rosen in Herbstfarben. Dara und Riley wollen sie zu einem prächtigen Gesteck für unseren Thanksgiving-Tisch arrangieren.
Das sind die letzten Blüten des Jahres, die allerletzten Seufzer, bevor von den Rosen nur hässliche Dornenstöcke bleiben. Hässlich für Leute wie die alte Mrs Allen. Die kahlen Zweige erinnern mich den ganzen Winter daran, dass ich mich auf etwas freuen kann, woran ich meine Tagträume hänge wie Schmuck an einen Weihnachtsbaum. Im Frühling werden sie wieder erblühen.
Riley und ich schneiden je einen Korb voller Rosen. »Genug?«, frage ich und hebe meinen an.
Nachdenklich verzieht Riley den Mund. »Eine noch«, sagt sie und stakst durch die fast kahlen Pflanzenreihen zu einer Kletterrosenlaube, einer pinkfarbenen, altmodischen Rose, der Abraham Darby, rosa-apricot mit goldenem Schimmer. Sie ist ausnehmend schön und halb verblüht, mit mehr als hundert Blättern in ihrer prallen Blüte.
»Die passt gar nicht zu den anderen«, sage ich.
Ohne Zögern legt sie die Blume in ihren Korb. »Es ist die letzte an der Ranke. Ich kann sie doch nicht allein lassen. Das wäre unfair.«
»Es ist deine Tischdekoration.« Ich lächle.
Wir kehren zum Haus zurück, wo alle schon ungeduldig auf uns warten.