Kapitel 5

Südkontinent, High Tortuga

D er Sturm erreichte seinen Höhepunkt und verwandelte die Hochebene in einen brodelnden Kessel der Zerstörung. Zu Blitz und Donner hatte sich nun auch noch strömender Regen gesellt.

Die Füße des Tiers blieben immer wieder in dem tiefen Schlamm stecken und seine ständigen Bemühungen, sich zu befreien, machten den Aufstieg für Michael und Akio noch ruckartiger. Die herrschende Dunkelheit wurde nur von kurzen, zu hellen Streifen grellen Lichts unterbrochen, als die Blitze neue Löcher in die aufgewühlten Gewitterwolken über ihnen rissen.

Michael hatte die Kontrolle über den Sturm verloren, als Peter im Maul des Ungeheuers verschwunden war. Er rannte nun mit Akio durch die herunterstürzenden Fluten, um diese Nervensäge eines idiotischen Pricolici zu retten. Und das, bevor die Bestie, gegen die sie kämpften, merkte, dass sie nicht mehr von den Blitzen aufgehalten wurde und in die Niederungen flüchtete.

Offensichtlich litt das Wesen unter irgendwelchen Problemen, die ganz zweifellos von Peter verursacht wurden, der sich sicherlich bemühte es von innen zu zerfetzen. Es zuckte immer wieder heftig zusammen und gab zwischen seinem wütenden Gebrüll, das regelrechte Wellen von Schlamm aufwirbelte, seltsame bellende Hustenlaute von sich.

Michael glaubte nicht, dass der Pricolici auch nur eine Sekunde lange die Konsequenzen bedacht hatte, wenn er von einer Kreatur verschlungen wurde, deren Magen zweifellos darauf eingerichtet war, einen mundgerechten Happen wie ihn problemlos zu verarbeiten.

Deswegen arbeiteten die beiden Männer sich so schnell wie es ihnen möglich war auf das Maul der Bestie zu und nutzten die stinkenden, schleimigen Haare, durch die wahre Flüsse des Regens hinunter rauschten, die das Fell in High Tortugas ekelhafteste Rutschbahn verwandelten, so gut es ging, um ihren Abstieg zu bremsen.

Akio kam mit einem Ruck zum Stillstand, als er sich in den Haaren der Bestie verhedderte. Dies ist millionenfach schlimmer als ein nasser Hund , beschwerte er sich.

Michael drehte sich zu ihm um. Brauchst du meine Hilfe, um dich freizuschneiden?

Akio bohrte seinen eingeklemmten Arm tiefer in das zottelige Fellgewirr, um sich abzustützen, während die Bestie unter ihnen herumzappelte. Ich kann mich allein freischneiden. Geh weiter und rette Peter. Er benötigt dich dringender. Mit der freien Hand zog er ein Messer aus seinem Gürtel und winkte Michael damit vielsagend zu. Geh schon. Ich bin gleich hinter dir. Warum wechselst du eigentlich nicht in deine aetherische Nebelgestalt?

Das wäre doch nur halb so lustig!

Michael setzte seinen eher willkürlich gewählten Weg zum Maul der Bestie fort. Dann erwischte er eine besonders lange Haarsträhne und schwang sich in einem weiten Bogen hinaus, der einen großen Teil der Strecke zwischen ihm und seinem Ziel überbrückte.

Nach der Landung hielt er kurz inne. Auf der Schulter des Riesen sah er nur wie ein kleiner Fleck aus. Er musste sich seinen nächsten Schritt überlegen und Akio eine Chance geben, ihn einzuholen. Es blieb die Frage offen, wie er eine Kreatur dieser Größe töten sollte.

Wenn Peter nicht gerade im Inneren dieses verdammten Dings stecken würde, wäre es viel einfacher. Michael spürte, wie Akio sich näherte. Er konnte auch hören, wie Peter geistig herumgrölte.

Michael! Akio! Ihr habt es geschafft! Die Party findet hier drinnen statt, Leute. Ich würde ja kommen und euch beide hereinbegleiten, aber ich bin hier drin etwas beschäftigt …

Die Bestie stieß ein weiteres bellendes Gebrüll aus.

Peter, was in den sieben Kreisen der Hölle treibst du da drin? Michael wartete nicht darauf, dass der Pricolici es ihm näher erklärte. Er kletterte mit vampirischer Geschwindigkeit den Hals der Bestie hinauf und lud während seines Aufstiegs seine Kampfhandschuhe auf.

Akio erschien am Halsansatz des Ungeheuers, als Michael dessen Unterkiefer erreichte. Er klammerte sich an den Haaren fest und zog sich hoch, bis er sich über den Rand der Unterlippe hieven konnte.

Das Maul war fest verschlossen, aber es gab Stellen, an denen man sich durch die Lippen quetschen konnte, sofern einem die Enge nichts ausmachte.

Michael hatte überhaupt kein Problem damit.

Ich gehe rein, teilte er Akio knapp mit.

Geh ruhig. Ich habe dich schon fast eingeholt , erwiderte Akio sofort.

Michael verwandelte sich in seine aetherische Nebelgestalt und glitt in das Maul der Kreatur. Sobald er die Lippen hinter sich gelassen hatte, musste er sich erst einmal eine Lücke zwischen den fest zusammengebissenen Zähnen suchen. Auch nach der Überwältigung dieses Hindernisses blieb er in seiner Nebelgestalt, während er sich einen Überblick über seine Umgebung verschaffte und versuchte, Peter ausfindig zu machen.

Das Maul glich einer großen Höhle, in der es dunkel genug war, dass Michael sich seiner Fähigkeit glücklich schätzte, sein eigenes Licht erzeugen zu können. Er konnte nicht einmal von einem Ende der Zunge bis zum anderen sehen. Das Ding war so riesig, dass ihn die einzelnen Papillen der Zunge wie Bäume überragten. Er staunte über die schiere Größe des Ganzen, als er auf die Kehle des Tieres zusteuerte. In dieser Gestalt bildete er eine nur wenige Atome dicke, durchsichtige Schicht, die von einem sanften roten Licht erhellt wurde. Während er weiter vordrang, konnte er den Gesuchten zwar nicht sehen, aber er war in der Lage, ihn über das Rascheln des Papillenwaldes unter ihm deutlich zu hören.

Eine Sekunde später gab es einen hellen Blitz aus dem hinteren Teil des Mauls und die Bestie wurde wieder wild. Die Wände der Kehle zogen sich ruckartig zusammen, als es versuchte, die Irritation zu beseitigen. Michael glitt zwischen den Muskeln hindurch, die sich wellenartig zusammenzogen und wieder lösten. Aus dem tiefsten Inneren der Bestie ertönte ein unheilvolles Grollen, das Michael auf eine Idee brachte.

Wo bist du, Peter?

»Hiiiierrrr obeen!«, hallte die Antwort echoartig zurück. »Das ist gottverdammt verrrüüückt! «

Michael blickte auf und sah Peter am Zäpfchen der Kreatur baumeln. Er hielt sich mit einer Hand und den Krallen seiner Füße fest, während er mit diesem lächerlichen Gewehr von Tabitha herumfuchtelte. Der Pricolici befand sich zu weit entfernt, als dass Michael sein Gesicht hätte erkennen können, aber er war sich ganz sicher, dass der jüngere Mann es zu einem breiten, dummen Grinsen verzogen hatte.

Michael schoss nach oben und formte seinen Körper neu, als er Peter erreichte. Er benutzte die aetherische Energie, um sich selbst zu stabilisieren, dann klammerte er sich mit einer Hand an Peters Nackenfell fest. Mit einem Ruck riss er ihm das Gewehr aus der Hand, bevor der Idiot noch eine weitere Plasmaladung in die wild zuckende Kehle der aufgebrachten Bestie feuern konnte.

»Heeeey!«

Michael ignorierte seine lautstarken Proteste, zerrte Peter vom Gaumenzäpfchen weg und ließ sie beide auf den nächstgelegenen Grat des Zahnfleisches sinken. Er setzte Peter neben sich ab und hob warnend einen Finger, um sein Gemaule zu beenden. Von Tabitha erwarte ich diese Art von rücksichtslosem Verhalten, aber nicht von dir. Was hast du Volltrottel dir eigentlich dabei gedacht?

Peter knurrte, als er von der Bewegung des Tieres herumgerissen wurde. Offensichtlich habe ich nicht nachgedacht. Ich war zu sehr damit beschäftigt, dieses Mistvieh zu töten, bevor es unschuldige Leute umbringt.

Was auch immer ihr vorhabt, es sollte bald geschehen. Die Kreatur hat das Ausbleiben der Blitze am Rande des Plateaus bemerkt und befindet sich wieder auf dem Weg dorthin , unterbrach ihn Akio, der sich noch draußen befand.

Das war genau das, was Michael zu vermeiden gehofft hatte.

Er deutete auf die nächstgelegene Lücke zwischen den Zähnen der Bestie. Peter, warte da draußen mit Akio auf mich.

Peter wollte widersprechen, aber dann sah er das kalte, rote Gleißen in Michaels Augen. Er nickte einmal und trottete los, wobei er vor sich hin murmelte, während er sich einen Weg durch die riesigen Zähne bahnte. Ich hätte helfen können, aber klar doch, schick mich raus, wo ich niemandem was nütze …

Michael wusste es besser. Kletter einfach so hoch hinauf, wie es dir möglich ist und halte dich bereit, abzuspringen, wenn das Monster zusammenbricht. Und sag Akio, er soll dasselbe tun.

Warum, was hast du vor?

Michael klatschte in die Hände und setzte dadurch ein helles Knistern aetherischer Energie frei. Stell du einfach nur sicher, dass du bereit bist, rechtzeitig abzuspringen. Denn wenn meine Idee funktioniert, wird es ziemlich unschön werden. Sein entschlossenes Grinsen reichte nicht bis zu seinen Augen.

Wir sind bereit, meldete Akio ein paar Minuten später.

Aber du musst dich beeilen , fügte Peter besorgt hinzu. Das Viech steht kurz davor, die Hochebene zu verlassen.

Wie zur Bestätigung der Mahnung gab es plötzlich einen Ruck nach unten, der Michael fast auf die Knie warf. Er stützte sich an einem Zahn ab. Es wird nicht länger als einen Augenblick dauern , versicherte er seinen Begleitern. Haltet euch bereit.

Er sammelte die aetherische Energie in sich und erhob sich vom Zahnfleisch in die Höhe, um sich wieder auf den Weg zur Kehle der Kreatur zu machen. Jetzt, da Peter nicht mehr versuchte, Löcher in die Kehle des Tieres zu brennen, verhielt sich die Muskelwand auch wieder normal und seine Passage durch den Schlund der Kreatur verlief ohne Zwischenfälle.

Michael ließ sich auf halber Höhe des gähnenden Abgrunds hinunter, wobei er darauf achtete, den Schleimtropfen auszuweichen, die von den Stellen stammten, an denen die Abwehrkräfte des Tieres aktiviert worden waren, um die Plasmaverletzungen zu beseitigen, die Peter ihm zugefügt hatte. Er war überrascht zu sehen, dass die Verbrennungen so weit unten in die Speiseröhre hinunterreichten.

Als ein langes, langsames Grollen von unten ertönte, stieg der Geruch von verfaulten Eiern zu Michael hinauf und vermischte sich mit dem widerwärtigen Atem des Tieres. Er schaltete seinen Geruchssinn aus. Peter musste mehr Schaden angerichtet haben, als Michael angenommen hatte. Die Magenverstimmung der Bestie kam Michaels Plan zugute, aber es war kein Geruch, den er unbedingt mit nach Hause nehmen wollte.

Michaels Nanozyten arbeiteten daran, die giftigen Methandämpfe davon abzuhalten, ihn zu töten, während er genügend aetherische Energie sammelte und einen großen Funken erzeugte, der über der Handfläche seines Kampfhandschuhs schwebte. Der Funke war von noch mehr Energie umhüllt. Diese Energieschicht bildete einen Schutzschild, der die letztlich von ihm beabsichtigte Reaktion verhindern sollte, bis er sich sicher außerhalb des Körpers der Bestie befand.

Er speiste weitere Energie ein und ließ sie anwachsen, bis der über seiner Hand schwebende, gleißend helle Ball größer war als sein Kopf.

Seid ihr beide in Sicherheit?

Wir befinden uns ganz oben auf seinem Kopf , erwiderte Akio.

Hervorragend. Ich werde in ein paar Sekunden zu euch stoßen und wir können von dort aus unseren Sprung machen. Er schickte den Funken nach unten und trat in dem Moment in das Aetherische, als er die Energie freisetzte.

Die Aktion zauberte ein kurzes Lächeln auf Michaels Lippen, als die Erinnerung daran, wie er dies mit seiner Geliebten geübt hatte, kurz durch seinen Geist blitzte, gefolgt von Alexis und Gabriels Gesichtern. Sollte er aus irgendeinem Grund diese Begegnung nicht überleben, würde Bethany Anne ihre Kinder beschützen.

Er hegte auch den starken Verdacht, dass sie das Universum in Stücke reißen würde, um ihn zu finden. Und dies würde ihr auch gelingen, daran hatte er keinen Zweifel. Anschließend würde sie ihn dann von einem Ende des Weltalls bis zum anderen verprügeln, weil er ein zweites Mal gestorben war.

Daher also besser kein Sterben heute.

Er materialisierte direkt neben Peter und Akio. SPRINGT!

Jedoch bekamen Akio und Peter keine Gelegenheit, dem Befehl zu gehorchen.

Denn die Bestie kam auf einmal ruckartig zum Stehen und stieß eine Mischung aus einem schmerzhaften Brüllen und einem feurigen Rülpsen aus, als der Funke die Gase in ihrem Magen entzündete. Michaels Bedenken, ob das Verhältnis von Gas zu Säure in dem Magen ausreichen würde, um die gewünschte Reaktion hervorzurufen, erwiesen sich sichtlich als unbegründet, als die Mitte der Kreatur rasend schnell anschwoll.

Schmerzerfüllt schrie das Tier ohrenbetäubend auf und warf in Panik seine vorderen Beine in die Höhe, während sich sein Magen mit einer Schnelligkeit ausdehnte, der man kaum mit dem menschlichen Auge folgen konnte. Ohne weitere Vorwarnung explodierte die Bestie dann inmitten ihres letzten durchdringenden Schreis.

Die obere Hälfte des Körpers wurde von ihrem Hinterteil abgesprengt und ihre Bestandteile kopfüber den Abhang hinuntergeschleudert. Die drei Männer flogen in einer heißen Gischt aus Blut, Eingeweiden und weiß der Geier noch alles in verschiedene Richtungen von dem Kopf weg.

Sie landeten mehr als unsanft, nachdem sie die Explosion des Methans wie Stoffpuppen durch die Gegend gewirbelt hatte. Michaels erster Gedanke war, sich zu vergewissern, dass es den anderen gut ging. Die meisten der Verletzungen, die er bei dem unsanften Aufschlag erlitten hatte, waren bereits verheilt. Auch die Verbrennungen seiner Haut waren sofort verheilt und nur der noch nachklingende Schmerz seiner neu zusammengewachsenen Knochen zeugte noch von den erlittenen Verletzungen.

SCHEISSE, VERDAMMT! Er strich sich hektisch mit einer Hand über seinen Kopf, um sein Haar zu überprüfen. Oh, gut. Immer noch da.

Michael suchte die mit Fleischfetzen übersäte Landschaft ab, bis er Peter etwa dreißig Meter entfernt entdeckte. Dieser hatte wieder seine menschliche Gestalt angenommen und hielt sich mit einem Arm die Rippen, während er sich auf die Beine kämpfte. Akio war in ähnlicher Entfernung ein Stück weiter unten am Abhang an einem Baum gelandet und lehnte sich an den abgeknickten Stamm, um sich um sein gebrochenes Bein zu kümmern.

Sowohl er als auch Peter bahnten sich vorsichtig ihren Weg zu Akio, wobei sie den brodelnden Pfützen aus Magensäure, vermischt mit Blut, Scheiße und Regenwasser, vorsichtig auswichen, die sich überall dort gebildet hatten, wo das Gelände genügend tiefe Bodensenken bildete, um die Flüssigkeiten aufzunehmen.

Michael streckte seine Hände nach Akios Fuß aus und Akio biss die Zähne zusammen, während Michael seine gebrochenen Knochen in die richtige Position zog, um den Heilungsprozess zu beschleunigen.

Der Schmerz ließ ihn sein Gesicht verziehen. »Danke.«

Michael zuckte mit den Schultern, aber die Geste versetzte das heilende Schlüsselbein in Bewegung, das er sich beim Aufprall gebrochen hatte, und er zuckte bei dem schmerzenden Stich zusammen, der ihn plötzlich durchfuhr. »Keine Ursache.«

Peter grinste Michael an und kicherte, als er auf die riesigen, rauchenden Fleischplatten deutete, die den Hang säumten. Das Hinterteil der Bestie brannte trotz des starken Regens fröhlich am Rand des Plateaus und die obere Hälfte lag in klebrigen Stücken um sie herum. »Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass irgendetwas davon zu retten ist.«

Michael zog beim Anblick der blutigen Landschaft eine Augenbraue hoch. »Ich denke, wir sollten besser das entsprechende Video dazu auslassen. Denn das könnte einige vom Essen abhalten.«

Akio schnitt eine Grimasse. »Es veranlasst mich dazu, ernsthaft eine vegetarische Lebensweise in Erwägung zu ziehen.« Der sechshundertjährige Vampir sah sie einen Moment lang mit einem völlig ernsten Gesicht an, ehe sich dann seine Mundwinkel verzogen. Er wies mit dem Finger auf Michael und Peter, die beide den gleichen ungläubigen Gesichtsausdruck trugen und brach in ein heftiges Gelächter aus. »Helft mir auf. Wir sollten nach einem Taxi rufen, das uns nach Hause bringt.

Michael und Peter reichten ihm jeweils eine Hand und zogen ihn auf die Beine.

Peter sah an sich herunter. »Ich sollte mir vielleicht besser noch meine Hose wieder anziehen, ehe der Transportpod eintrifft.«

Michael grinste spöttisch. »Das wäre vielleicht keine schlechte Idee.« Er musterte Peter kritisch. »Nicht, dass irgendjemand überhaupt merken würde, dass du unter diesem ganzen Blut und Schleim tatsächlich nackt bist.«

Akio rümpfte die Nase, während er das durchnässte Gewebe seiner Hose zwischen Daumen und Zeigefinger kurz hochhielt, bevor er den beschmutzten Stoff wieder fallen ließ. »Oder dass wir unter all dem überhaupt etwas anhaben. Eine heiße Dusche wäre mehr als willkommen.«

Michael nickte. »Sehr richtig.«

Lagerhausviertel, Colonnara

»Können Sie nicht schneller fahren?«, trieb Addix den Taxifahrer an. Ihre Mandibeln hörten nicht auf sich hektisch zu bewegen, weil sie um Alexis und Gabriels Sicherheit besorgt war. Angesichts der Geschwindigkeit, mit der sich die Peilsender zuvor bewegt hatten, hatte sich Addix keine allzu großen Sorgen um den Abstand gemacht, solange sie sich auf der Schnellstraße befanden.

Aber jetzt rührten sich die Signale der Peilsender nicht mehr vom Fleck und ihr unbändiges Bedürfnis, zu den Kindern zu gelangen, verstärkte sich mit jeder Sekunde weiter.

Der menschliche Fahrer schaute sie mit großen Augen an und schüttelte bedauernd den Kopf. »Vorschriften, Ma’am. Mein Taxi ist gedrosselt und ich bin leider schon am Limit.«

Addix zischte frustriert. »So geht das nicht!«

Phyrro meldete sich über das Hologerät zu Wort. »Ich kann die Beschränkungen für den Antrieb des Taxis umgehen.«

Die Ixtali neigte fragend den Kopf zu dem Fahrer, der sofort zustimmend nickte.

Sie hatte Glück gehabt, dass sie diesen Menschen gefunden hatte, der ein überzeugter Anhänger von Bethany Anne war, ob sie nun an der Macht war oder nicht. Auf solche Menschen konnte man sich in dringenden Fällen fast immer blind verlassen.

Eine kurze Erklärung von Addix’ Situation hatte dem Mann die anfängliche Angst vor der wütenden Ixtali genommen, die sich ohne das übliche verhüllende Gewand in sein Taxi gestürzt hatte. Ohne weitere große Diskussionen oder Einwände waren sie den Peilsendern der Kinder gefolgt.

Der Fahrer stieß ein überraschtes Grunzen aus, als die Steuerung ohne sein Zutun zu arbeiten begann.

»Keine Sorge«, beruhigte ihn Phyrro über die Lautsprecheranlage des Taxis. »Ich habe jetzt die volle Kontrolle über das Fahrzeug übernommen.«

Addix hämmerte ungeduldig mit der Hand auf den Sitz neben ihr. »Phyrro, worauf wartest du noch? Bring mich sofort zu den Kindern! «

* * *

Die Geschwister hockten zusammengekauert im hinteren Teil des Büros, in das die Yollin sie brüsk gestoßen hatte und schmiedeten einen Plan nach dem anderen, während sie darauf warteten, dass Addix zu ihrer Rettung eintraf.

Trotz ihrer früheren Angeberei im hinteren Teil des Transporters flößte ihnen ihre Situation ein wenig Angst ein. Dennoch hatten sie sich das in Gegenwart ihrer Entführer nicht anmerken lassen. Sie hielten ihre Köpfe stolz hoch und funkelten die Yollin und ihre Handlanger giftig an, als sie bei ihrer Ankunft grob ins Innere des heruntergekommenen Lagerhauses gezerrt wurden.

Alexis konzentrierte sich auf ihre Hand und versuchte erneut einen magischen Funken zu zünden. Damit könnte sie ihnen einen Ausgang direkt durch ihre Entführer sprengen.

Gabriel beobachtete sie gespannt. Funktioniert es? Kannst du schon etwas spüren?

Alexis ließ die Schultern sinken, als sie in ihrer Konzentration nachließ. Nein , räumte sie ziemlich verdrießlich ein. Es ist nicht wie im Spiel, Gabriel. Ich kann die Magie hier nicht einfach erscheinen lassen. Wir müssen auf Tante Addix warten.

Gabriel nickte ernüchtert. Ja, das hier ist das wahre Leben. Die Dinge sind härter. Wir brauchen wirklich Tante Addix.

* * *

Das Taxi hielt zwei Gebäude von dem Lagerhaus entfernt, in dem Phyrro die Peilsender der Kinder geortet hatte.

»Viel Glück«, flüsterte der Fahrer, als Addix aus dem Taxi stieg. »Ich werde hier in der Nähe auf Sie und die Kleinen warten.«

Addix nickte dem Mann dankend zu und kletterte in so einer Geschwindigkeit an der Wand des Gebäudes hinauf, dass es den Anschein hatte, sie würde geradezu daran hochrennen. Auf dem Dach angekommen, beeilte sie sich, die Entfernung zu dem Gebäude rasch hinter sich zu bringen, in dem Alexis und Gabriel festgehalten wurden. Die Lücken zwischen den Lagerhäusern waren recht schmal und sie hatte keine Mühe, von einem Dach zum anderen zu springen.

Das Dach ihres Zielgebäudes, auf dem sie schließlich landete, befand sich in einem miserablen Zustand. Nach kurzer Suche entdeckte sie den Dachzugang, der allerdings mit einem Daumenscanner gesichert war. Ein kurzer Blick in die Runde offenbarte ein schmutzverschmiertes Oberlicht.

Addix ging zum Dachfenster und wischte den dick verkrusteten Dreck darauf grob weg, um in den Hauptbereich des Lagerhauses hinuntersehen zu können. Der Boden des Gebäudes lag gute fünfzehn Meter unter ihr. Eine zweibeinige Yollin lief nervös auf und ab, während zwei brutal aussehende Menschen neben einer offenbar nicht funktionierenden Maschine sich mürrisch gegenseitig irgendetwas zuzischten.

Sie hob das Hologerät an, um mit Phyrro zu sprechen. »Wo halten sich die Kinder genau auf?«

Die EI legte den Kopf schief. »Sie befinden sich in einem Büro im hinteren Teil des Gebäudes.«

Addix’ Mandibeln zuckten wütend. »Sind ihre Lebenszeichen in Ordnung?«

»Sie liegen innerhalb akzeptabler Toleranzen«, erwiderte Phyrro sachlich. »Aber sie sind verstört. Was tust du denn?«, fügte er dann verblüfft hinzu, als Addix sich in Bewegung setzte und entschlossen zum Rand des Daches lief. »Die Tür befindet sich in der entgegengesetzten Richtung.«

Addix kniff die Augen zusammen. Sie nahm ihre Jean Dukes Special in die Hand, drehte sie zur Seite und prüfte, ob sie das richtige Magazin geladen hatte. Dann kontrollierte sie die Gurte, die sie gekreuzt über der Brust trug, um sicherzustellen, dass sie alle ihre Wurfmesser noch dabei hatte. Als sie sich zu ihrer Zufriedenheit vergewissert hatte, dass sie für alles bereit war, drehte sie sich um, nahm Anlauf und rannte auf das Oberlicht zu.

»Das ist der schnellste Weg zu Alexis und Gabriel. Wie meine Königin sagen würde: Scheiß auf die verdammte Treppe! «

Im nächsten Augenblick sprang sie und landete perfekt mit allen vier Füßen auf dem alten Dachflächenfenster, das sofort zersplitterte. Durch Addix’ mehr als unerwartetes und gewaltsames Eindringen aufgeschreckt, rissen die Entführer ihre Köpfe in Richtung des Aufruhrs hoch.

Sie gab aus ihrer Jean Dukes einen Schuss an die Decke ab, während sie begleitet von einem Schauer aus Glasscherben und Schmutz in die Lagerhalle fiel und rasch das nahe Ende des klebrigen Seils ergriff, das die Patrone produzierte. Das andere Ende heftete sich an der Decke fest und verlangsamte ihren Fall.

Die Ixtali schnellte sich geschickt herum und hielt das Seil mit ihren hinteren Füßen fest, um ihre Hände freizumachen. Denn diese würde sie benötigen, um diese wandelnden Toten in Stücke zu reißen. Aber noch vor ihrer Landung reagierten die beiden menschlichen Entführer genauso wie es Feiglinge immer tun.

Sie schrien panisch auf und rannten davon.

Aber Addix warf ihnen ein paar Messer hinterher und schon hörten sie bald auf Lärm zu machen. Ein leichter Tod, aber sie waren ja auch nur die ausführenden Schläger. Sie neigte den Kopf zur Seite und starrte die Rädelsführerin eisig an, als ihre Vorderfüße lautlos auf dem Boden des Lagerhauses aufsetzten.

Die Ixtali ließ das Seil los und ging mit Mordlust in den Augen auf die Yollin zu. »Du hast heute einen Fehler gemacht. Niemand , der es wagt, den Kindern unter meiner Obhut etwas anzutun, hat auch nur die geringste Chance zu überleben.«

Die Yollin starrte völlig schockiert in den Lauf der Jean Dukes Special. Sie öffnete und schloss hektisch ihre Mandibeln, aber nichts, was die nun offensichtlich zutiefst verängstigte Kriminelle von sich gab, war verständlich.

Addix hatte für all das keine Zeit. Sie feuerte einmal, als sie auf dem Weg zu dem Büro, in dem die Kinder festgehalten wurden, an ihr vorbeirauschte und die Yollin sackte ohne die obere Hälfte ihres Kopfes zu Boden.

Die Bürotür aufzubrechen bereitete der Ixtali überhaupt keine Mühe und im nächsten Augenblick kamen die Kinder auch herausgestürzt und klammerten sich in ihrer Erleichterung fest an ihre Beine. »Seid ihr verletzt?«, fragte sie besorgt.

»Nein«, erwiderte Alexis beruhigend.

»Wir sind nur so froh, dass du uns herausholst«, fügte Gabriel hinzu.

Addix schloss die Zwillinge sanft in die Arme. »Ich werde euch niemals im Stich lassen«, versicherte sie ihnen leidenschaftlich und voller Nachdruck. »Es tut mir nur leid, dass ihr überhaupt entführt wurdet. Wir werden diesen Planeten sofort verlassen.« Sie trug sie aus dem Lagerhaus, ohne sich die Mühe zu machen, den Leichen der Entführer auszuweichen oder sie vor den Kindern zu verstecken.

»Tante Addix?«, fragte Alexis, als sie das Lagerhaus verlassen hatten und auf das wartende Taxi zugingen.

»Ja?« Der tränenüberströmte Ausdruck auf dem Gesicht des kleinen Mädchens schmerzte Addix fast körperlich.

»Wir haben Mamis Geschenk nicht bekommen.«

Addix schnallte das Kind sorgfältig an und beugte sich dann weiter vor, um auch ihren Bruder zu sichern. »Macht euch darüber keine Sorgen, Kinder. Ich kenne einen anderen Planeten, auf dem wir einkaufen können.«

Gabriel runzelte sorgenvoll die Stirn. »Aber was ist, wenn wir wieder entführt werden?«

Addix lachte halblaut. »Ich glaube nicht, dass sie dort Entführer durch ihre Straßen laufen lassen.«

»Warum nicht?«, hakte Alexis verblüfft nach.

»Weil«, Addix’ Mandibeln verrieten ihre Belustigung, als sie weitersprach, »sie dort schon allein fürchterlich strenge Strafen für jeden verhängen, der auch nur ein Stück Abfall auf den Boden fallen lässt.«

Gabriel drehte sich um und schaute nachdenklich aus dem hinteren Fenster. »Kann nicht schlimmer sein als deine Strafe, Tante Addix.«

Addix zuckte mit den Schultern. »Oh, doch, das kann es durchaus, meine Lieben.« Sie nickte weise in die ungläubigen Gesichter der Kinder. »Ich war barmherzig. Ich habe ihre Schmerzen nicht verlängert.«

Südkontinent, High Tortuga

Peter achtete sorgfältig darauf, nur durch den Mund zu atmen, während er zurück zu den Jungs joggte. Die Luft war heiß, schwer und roch faulig. Der nach dem Ende des Sturms fehlende Wind ließ den ganzen Gestank der explodierten Kreatur konzentriert auf dem Hochland zurück. Peter war einfach nur froh, dass er wieder in menschlicher Gestalt war, auch wenn seine trotzdem weiterhin geschärften Sinne es nicht wesentlich leichter machten, das zu ertragen.

»Ich frage mich wirklich, was die örtliche Version der Nachrichten wohl davon halten wird.«

Er schnallte seinen Gürtel fest und zog schnell sein Hemd über, ehe er zu Michael und Akio zurückkehrte, die geduldig am Rande des Plateaus auf ihn warteten.

Die beiden Vampire wandten sich von dem blutigen Anblick unter ihnen ab, als sie das im Schlamm platschende Geräusch seiner Schritte hörten.

Peter ging ebenfalls an den Rand des Plateaus heran und betrachtete mit einer Grimasse die dampfende Sauerei unter ihm. »Was wirst du eigentlich Bethany Anne erzählen, wenn wir zurückkehren, ohne einen einzigen Fetzen Fleisch als Beweis für unsere Bemühungen vorweisen zu können?«

Michael blickte seufzend den Abhang hinunter. »Ich glaube nicht, dass es meine Frau sonderlich stören wird.« Er deutete vielsagend auf das Gemetzel unter ihnen. »Dies könnte tatsächlich das Ergebnis sein, das sie sich idealerweise erhofft.«

»Vor allem, weil dieses Viech nicht die Beute war, zu deren Jagd sie dir ihre Zustimmung gegeben hat.« Peter nickte langsam, immer noch beeindruckt von der Größe des Monsters, das sie besiegt hatten.

Akio wandte sich mit einem Schulterzucken von der überdimensionalen Sauerei ab. »Sie wollte ja nicht einmal das T-Rex-Fleisch in der Basis haben. Wenn du so viel Fleisch in ihr Haus gebracht hättest, würdest du sicherlich tausend Tode sterben, ehe sie dir das verzeihen würde.«

Michael widersprach ihm nicht.

Peter blickte von einem zum anderen. »Ich schätze, wir brauchen keinen größeren Transporter, wenn wir nichts mit uns zurücknehmen. Ich habe einen Pod angefordert.«

Als der Pod einige Minuten später eintraf, stiegen sie ohne zu zögern ein. Aber sobald sich die Tür schloss, konnten sie sich leider wieder riechen und jetzt, wo sie nicht mehr die saubersten Dinge in ihrer unmittelbaren Umgebung waren, wurde es unerträglich, die dicke Schicht an Blut und Schleim zu tolerieren, mit der sie verkrustet waren.

Bei jeder Bewegung, die Michael und Akio machten, spritzte etwas Dreck auf den Boden. Jeder ihrer Schritte verursachte ein widerlich schmatzendes Geräusch, als sie vorsichtig zu ihren Plätzen gingen. Allerdings sah Peter am schlimmsten aus. Das Weiße seiner Augen und seine Zähne waren alles, was durch die verkrustete, schmutzige Maske über seinem einigermaßen sauberen Hemd noch zu erkennen war.

Michael setzte sich vorsichtig hin und drehte sich um, um missmutig den Schlamm zu betrachten, den sie in die makellose Kapsel geschleppt hatten. »Das ist eine echte Schweinerei.«

Peter blickte zurück auf die von ihnen hinterlassenen Spuren. »Schweinerei trifft es nicht einmal ansatzweise. Wir sehen aus, als hätte uns ein Fleischtornado erwischt. Ich halte schon seit der Explosion den Atem an.«

Akio deutete auf einen Fluss in der Tiefebene. »Es wäre gut, wenn wir uns etwas säubern würden, bevor wir nach Hause zurückkehren.« Er bewegte sich unbehaglich in seiner schnell trocknenden Kleidung, die langsam steif wurde. »Ich bezweifle stark, dass wir in unserem augenblicklichen Zustand sehr willkommen sein werden.«

»Da hast du völlig recht.« Peter änderte den Kurs des Pods und steuerte auf den Fluss zu. »Ich würde sogar noch einmal mit diesem verdammten Ding kämpfen, nur um eine Gelegenheit zum Schwimmen zu bekommen.«

Michael zog eine Augenbraue. »Du brauchst den Pod einfach nur zu landen.« Er schnaufte über den feinen Schauer getrockneter Kruste, der sich von seiner Stirn löste und stand auf. »Haben wir eigentlich etwas an Bord, womit wir angeln können?«

Peter deutete auf die Tür zum Staufach im hinteren Teil des Pods. »Ja, im Gepäckfach. Du hast gesagt, ich soll alles mitnehmen, also habe ich auch wirklich alles mitgebracht.«

Akio begleitete Michael nach hinten, um die Angelausrüstungen zu besorgen.

Peter brachte sie in die Nähe des Flusses. Ehe er den beiden Vampiren zum Ufer folgte, setzte er ein paar Reinigungsroboter ein, um sich um das Innere zu kümmern.

Am Rand des Flusses legte er seine Ausrüstung ab und begann, sich auszuziehen. »Wie nett von euch, dass ihr Jungs auf mich gewartet habt.«

Zur Antwort bespritzte Michael ihn grinsend mit Wasser, wobei er einen kleinen Hauch aetherischer Energie hinzufügte, um sicherzustellen, dass Peter auch wirklich gründlich durchnässt wurde.

»Hey!«

»Komm einfach in das verdammte Wasser«, befahl Michael spöttisch. Er grinste breit, als er Peter wieder anspritzte.

»Achtung Aaaarschbombeee!!! « Peter landete mit einem gewaltigen Platsch. Das Wasser umhüllte ihn und übertönte Michaels und Akios Proteste.

Als er auftauchte, schwamm er einen gemächlichen Kreis, um der Strömung entgegenzuwirken, während er sich kräftig den Kopf rieb, um den klebrigen Schlamm aus seinen Haaren zu waschen. Dann stand er auf und schüttelte sich wie ein Hund, wobei er Michael und Akio erneut durchnässte.

Akio wischte sich mit einer Hand das überschüssige Wasser aus dem Gesicht. Sein Mund zuckte und er zog seine Augenbraue hoch, als er auf Peter zeigte. »Das wirst du noch bitter bereuen.«

Peter legte den Kopf schief und schenkte den beiden Vampiren ein schelmisches Grinsen. »Ach, kommt schon!« Er zog beide Arme zurück und bespritzte die beiden erneut. »Ich helfe euch doch nur, euch sauber zu machen.«

Michael tauschte einen amüsierten Blick mit Akio. »Wird er das überleben?«

Akio grinste breit, als die beiden auf Peter zustürmten. »Wahrscheinlich nicht.«