Kapitel 22

Immersives Trainings- und Freizeitszenario:
Vorbereitungsraum, QBBS Guardian, Devon

Begeistert warf Ricole ihre Arme zur Seite. »Das ist ja so real!«

Jacqueline jaulte auf. »AU! «

Die Noel-ni zuckte zusammen. »Ups. Tschuldigung.« Sie sah aber nicht lange zerknirscht aus. »Aber hast du diese Auswahl an Szenarien gesehen? Sie ist ziemlich umfangreich.«

Ihre Freundin rieb sich die Stelle auf der Brust, an der sie das Opfer von Ricoles Überschwang geworden war. »Ich kann mich nicht erinnern, dass ich bei einer dieser Trainingssimulationen jemals Schmerz gespürt habe.«

Mark grinste schadenfroh. »Hör auf zu jammern. Das ist knallhartes Training auf höchstem Niveau und ich werde keine einzige Sekunde davon verschwenden. Ich habe ein Fantasy-Szenario gefunden. In einer der Rezensionen stand, darin gäbe es sogar Drachen.«

Die Augen seiner Gefährtin leuchteten auf. »Ist das das Szenario mit der Magie? Bei dem habe ich mir schon gedacht, dass es nach Spaß aussähe.«

»Da hast du völlig recht! Sollen wir es mal ausprobieren?«

Jacqueline nickte strahlend und Mark griff nach ihrer Hand. Sie wählten das entsprechende Szenario aus und in der nächsten Sekunde waren die beiden verschwunden.

Ricole neigte ihren Kopf in Richtung einer Gruppe von Noel-nis in einem anderen Teil des Raumes, die sie alle anstarrten. »Das könnte Ärger geben.«

Sabine starrte die Gruppe mit verengten Augen finster an, die daraufhin geschlossen einen Schritt zurücktrat. »Oh, die wollen keinen Streit.«

Trotzdem war Ricole völlig überrascht, als sie die Tablets entdeckte, die ihre Artgenossen in der Hand hielten. Als sie sich daraufhin entspannte, kehrten auch die hoffnungsvollen Blicke zurück.

Demons Nackenfell sträubte sich. Was wollen die denn?

Ihre Partnerin legte eine Hand auf ihren Rücken, um sie zu beruhigen. »Ganz ruhig. Sie wollen nur ein Foto mit Ricole machen.«

Die Berglöwin sah verwundert zu Ricole auf. Kennst du die denn etwa?

Die Noel-ni warf einen Blick auf die Gruppe, die überwiegend aus jugendlichen Mädchen bestand. »Nö.«

Dann ergibt diese Situation keinen Sinn, und ich bin fertig damit. Hier muss es doch irgendwo etwas zu jagen geben. Demon stolzierte mit hoch in die Luft gestrecktem Schwanz davon.

Sabine lachte und klopfte der Noel-ni auf die Schulter. »Viel Spaß mit deinen Fans. Du kannst mich am Schießstand finden, wenn du mit ihnen fertig bist.«

Ricole war sich nicht sicher, was sie tun sollte, aber die jungen Frauen nahmen Sabines Abgang als Erlaubnis, näherzukommen. Sie fingen alle gleichzeitig an zu reden, was Ricole als beruhigend empfand. Sie posierte auch mit ihnen für die Fotos und beantwortete ihre Fragen darüber, wie sie eine Kämpferin geworden war.

»Ich bin auf High Tortuga aufgewachsen, als es noch … ach egal, wie es hieß. Ich bin jedenfalls dort aufgewachsen und habe mich von den Gangs ferngehalten, auch wenn ich für meine Freiheit kämpfen musste. Dann hatte ich das Glück, gute Leute zu finden, die mich aufnahmen«, erzählte sie ihrem gefesselten Publikum, das ihr mit weit aufgerissenen Augen lauschte.

Eine der jungen Frauen meldete sich zu Wort. »Würdest du uns unterrichten?«

Mahnend stieß ihre Freundin ihr einen Ellbogen in die Seite. »Dafür hat sie bestimmt keine Zeit.«

Aber Ricole zuckte mit den Schultern. »Vielleicht doch. Habt ihr alle einen Job?«

Sie nickten eifrig und zählten eine Reihe von schlecht bezahlten Dienstleistungsjobs in der Zweiten Stadt auf, dann gingen sie dazu über, zu fragen, wann die nächste Veranstaltung stattfinden würde.

Ricole unterbrach jedoch ihre Fragen, denn sie wollte etwas über ihrer aller Leben wissen. Schon bald wurde ihr klar, dass die Mädchen sehr hart für eine sehr geringe Entlohnung arbeiteten. Ehrlichkeit zahlte sich auf Devon immer noch nicht aus … zumindest bis jetzt nicht.

Nach kurzem Nachdenken schickte sie eine kurze Nachricht an ihre Kollegen und erhielt fast umgehend Antworten, die ihren Plänen zustimmten. Daraufhin grinste sie breit. »Das passt eigentlich großartig. Ihr wollt ausgebildet werden und die Firma, an der ich Anteile habe, sucht gerade vertrauenswürdige Mitarbeiter. Ich sag euch was, ihr kommt einfach bei …« Ricole erinnerte sich an den Zustand des Lagerhauses, als sie es verlassen hatten. »Wisst ihr was? Wir sind im Augenblick sozusagen im Umzug.« Sie überlegte, wie sie jetzt vorgehen sollte.

Ihr kurzes Schweigen schien ihren Fans zu reichen, um Ricole wieder erneut mit unzähligen Fragen zu löchern, ob sie denn abermals kämpfen würde und ob es eine weitere Veranstaltung geben würde.

Die Noel-ni grinste. »Ich weiß es noch nicht. Schon möglich.« Sie gab die Kontaktdaten der Firma an alle in der Gruppe weiter. »Leider muss ich jetzt einen Termin wahrnehmen, aber meldet euch in etwa einer Woche bei mir, wenn ihr an meinem Angebot interessiert seid.«

Danach machte sie sich eilig auf den Weg zu der Demonstration, die sie sich unbedingt ansehen wollte, seit ihr klar geworden war, wie viel Gewinn sie mit ihrem ersten Vertrag gemacht hatten.

Immersives Trainings- und Freizeitszenario:
Allgemeiner Trainingsbereich, QBBS Guardian, Devon

»Das ist genauso gut wie Eves System zu Hause«, staunte Sabine ehrfürchtig. Sie drehte sich um, als sich etwas zu ihrer Linken bewegte. Ashur hatte sie entdeckt und kam herüber, um zu plaudern.

»Klar doch. Es ist ja auch das gleiche System«, erklärte der Deutsche Schäferhund zur Begrüßung.

Sabine beugte sich vor, um ihren alten Freund hinter den Ohren zu kraulen. »Schön, dich mal wiederzusehen!«

»Es tut gut, mal rauszukommen. Bellatrix und ich haben einen jungen Wurf, deshalb war ich froh über die Pause, als Akio und Barnabas mich gefragt haben, ob ich Lust hätte sie hierher zu begleiten.«

Sabine horchte auf, auch wenn ihr Herz heftig gegen ihren Brustkorb zu schlagen begann. »Akio ist hier?«

Ashur nickte. »Hmhm. Und? Wie gefällt dir Eves Baby?«

Verständnislos runzelte Sabine die Stirn, bis Ashur auf die Simulation um sie herum deutete. »Wie findest du sie im Vergleich zu der auf High Tortuga?«

Unschlüssig zuckte Sabine mit den Schultern. »Auf High Tortuga hatte ich wirklich sehr wenig Zeit für Spiele«, erklärte sie. »Und seit wir hier eingetroffen sind, geht es in der Stadt unten eher zu wie in einer Live-Actionveranstaltung.« Sie winkte mit einer Hand, um den virtuellen Bereich zu umschreiben. »Aber das hier ist ein prima Platz, um mal zu entspannen.«

Die Schießbahnen bildeten nur einen Teil der Simulation. Sabine sah Leute auf den Matten, die alles Mögliche benutzten, von wiederverwendeten Schiffsgegenständen bis hin zu Klingen. In der Ferne blitzten sogar die Art von Waffen auf, von deren Existenz sie nichts geahnt hatte, bevor sie die Erde vor vier Jahren verlassen hatte.

Sie fuhr mit den Händen an ihrem Körper auf und ab, hielt sie dann vor ihr Gesicht und bewegte die Finger. »Ich bin völlig erstaunt. Wenn ich nicht wüsste, dass ich in der VR bin, könnte ich den Unterschied zwischen meinem Avatar und meinem echten Körper absolut nicht erkennen. Was treibst du denn hier drin?«

Ashur stand neben ihr am Anfang der Bahn, während sie darauf warteten, dass die Simulation begann. »Ich wollte nur einmal meinen neuen Avatar ausprobieren. Was hältst du davon?« Ashur schüttelte seinen zotteligen Kopf und verwandelte sich blitzschnell in einen wahren Höllenhund.

Sabine betrachtete das wehende Fell, die roten Augen und die rasiermesserscharfen Zahnreihen. »Mir gefallen die Augen. Aber diesen Mund werde ich sicher nicht küssen.«

Ashur schnaubte lachend, schüttelte den Kopf und nahm wieder seine eigene Gestalt an. »Ich finde, er passt sehr gut zu Baba Yaga. Ich sehe neben ihr einfach nicht sehr grimmig aus, weißt du? Ich dachte, du wolltest ein wenig schießen?«

Die Frau schmunzelte. »Das will ich auch.« Sorgfältig wählte sie ihre Waffen… zwei Pistolen, die ihren eigenen sehr ähnlich waren, aber schlanker und tödlicher aussahen. »Ricole hat sich in groben Umrissen einen genialen Plan ausgeknobelt, und jetzt muss ich darüber nachdenken, wie wir unser Unternehmen auf die nächste Ebene bringen können. Schießen hilft mir beim Nachdenken.« Sie hielt die JD-Specials gegen das Licht und bewunderte die Verbesserungen gegenüber ihrem eigenen Paar.

»Eine gute Wahl«, unterbrach sie eine tiefe Stimme hinter ihr. »Obwohl du dich vielleicht lieber für etwas weniger Leistungsstarkes entscheiden solltest.«

Von der Störung ihres Gesprächs überrascht, drehte sie sich um. »Du machst wohl Witze, oder?« Der Mann stand mit verschränkten Armen und gespreizten Beinen da, gute zwei Meter groß, bepackt mit kräftigen Muskeln und funkelnden blauen Augen. Er war in geschmeidiges schwarzes Leder gekleidet und seine vollen Lippen umspielte ein geradezu freches Grinsen. Ich bin überhaupt nicht beeindruckt , wies sie sich im Stillen streng zurecht. »Ich denke, ich werde schon mit ihnen zurechtkommen, Mister Muskelprotz.«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Selbst hier drin wirst du den Rückstoß einer JDS noch spüren.«

Die ersten Ziele erschienen in Sabines peripherem Blickfeld. Kommentarlos wandte sie sich wieder zur Bahn, hob die Jean Dukes Specials an und feuerte sie immer wieder ab, sobald sie neue Ziele ausmachte, die in willkürlicher Reihenfolge und Tempo auftauchten.

Die Pistolen tanzten geradezu in ihren Händen, aber sie behielt eine perfekte Kontrolle über sie, trotz der Schmerzen, die der Rückstoß jedes Mal ihre Arme hochjagen ließ. Dennoch war es die Sache absolut wert, sie auf einem Niveau zu benutzen, das sie in der Realität nie wagen würde.

Auch den verblüfften Gesichtsausdruck von Mister Muskelprotz durfte man nicht vergessen.

Nachdem die Simulation beendet war, trat sie lässig zurück. »Scheint mir ganz in Ordnung zu sein.« Die Bahn hatte sich in eine rauchende Ruine verwandelt, denn jedes Ziel war mit äußerster Gewalt ausgeschaltet worden.

Ashur lachte trocken. »Ich glaube, da hat sie dich erwischt, Mister Muskelprotz . Warte bloß, bis ich Rickie zu Gesicht bekomme!«

Das Gesicht des Mannes verzog sich entsetzt. »Aber Ashur … Alter, tu mir das nicht an. Ich dachte, wir wären Kumpels!«

Sabine hielt dem Mann die virtuellen Pistolen hin und sah ihm direkt in die Augen, ohne sich die Schmerzen anmerken zu lassen, die sie in ihren Handgelenken spürte. »Jetzt tust du mir leid. Ich sage dir was … schlag das hier«, sie deutete auf das Punktefenster, »und ich werde meinen engen Freund Ashur überzeugen, es für sich zu behalten.«

»Herausforderung angenommen.« Er nahm ihr die Waffen ab und wartete darauf, dass die Simulation aufs Neue begann.

Hinter der Bahn setzte sich Sabine auf eine Bank und sah erwartungsvoll zu, während Ashur es sich zu ihren Füßen gemütlich machte. Sie spürte, dass Mister Muskelprotz einen Vorteil hatte. Die feste Haltung seiner breiten Schultern, als er dort stand und bereit war zu beginnen, verriet ihr mehr als tausend Worte.

Er war offensichtlich ein Krieger. Und gut trainiert, wenn man seine Haltung als Maßstab nahm. Ihre Gedanken schweiften für einen kurzen Moment zu Akio, in dem sie die gleiche Stärke sah.

Mister Muskelprotz bemerkte, wie sie ihn beobachtete, und die Ablenkung reichte aus, dass er mit seinem ersten Schuss um ein Haar das Ziel verfehlte. »Gottverdammte Scheiße und fick mich doch einer mit einer verkehrt herum gehaltenen Ananas!«

Sabine kicherte über seinen Ausbruch, der sie aus ihrer Grübelei riss.

Der Mann knurrte wütend und feuerte weiter, er hielt seine Handgelenke bewegungslos steif, auch als die JD Specials sie zu virtuellen Brotkrümeln zermalmten. Tim ignorierte den Schmerz, während die Ziele in Flammen aufgingen, zu Staub zerfielen oder zu einem klebrigen Brei schmolzen, wohin er auch immer zielte.

Hinter seinem Rücken rieb Sabine sich unauffällig die Handgelenke und war dankbar, dass dies ein Avatar war. Wenn sie die Simulation verließ, würde sie nichts mehr von den Verletzungen spüren. Sie würde in Betracht ziehen, regelmäßig auf diese Weise zu trainieren. Wenn dann jemals eine Situation eintreten sollte, die ihr alles abverlangte, würde sie bereits über das Muskelgedächtnis verfügen, um sich ein gottverdammt wahres Wunder aus dem Arsch zu ziehen.

»Er ist ziemlich gut«, bemerkte sie leise zu Ashur. Sie hatte auch nichts dagegen, wie das Leder seinen Hintern bei seinen Bewegungen aussehen ließ, aber sie beschloss, diese Tatsache nicht mit dem Hund zu teilen. »Wie lautet sein Name, wenn man ihn nicht gerade Mister Muskelprotz nennt?«

»Er heißt Tim, und er sollte auch gut sein«, erwiderte Ashur kläffend. »Er hat viel Zeit zum Üben gehabt.«

Dann war es vorbei, und das Fenster mit den Punkten blinkte, während die Punkte ausgezählt wurden.

Sabine lachte leise schadenfroh, als das Fenster schließlich anzeigte, dass sie ihn um siebzehn Punkte geschlagen hatte. »Sieht so aus, als ob dein Name von nun an ›Mister Muskelprotz‹ lautet.« Sie zwinkerte ihm schelmisch zu. »Du musst auf den Rückstoß der Dukes-Pistolen achten, weißt du?«

Seine Augen verengten sich ärgerlich, denn er war offensichtlich unzufrieden mit dem Ergebnis. Er wollte eindeutig eine Chance, die Scharte auszuwetzen. »Ich will eine Revanche! Auf zwei Gewinnsätze?«

Genau in diesem Augenblick meldete sich Ricole bei ihr. Sabine, beweg deinen Arsch in unser Quartier. Ich habe genau das gefunden, was wir brauchen. Du wirst es lieben! Oh, und übrigens wird Demon den Verkäufer fressen, wenn er uns nicht einen besseren Preis macht, also sollte es ziemlich günstig ausfallen, wenn ich mit dem Feilschen fertig bin.

Sabine schickte ein geistiges Stöhnen zurück. Bezahl einfach den Verkäufer und bring Demon mit zu unserem Treffen. Dann kannst du mir erklären, was du gefunden hast, das so erstaunlich ist.

Es wird dir gefallen, wiederholte Ricole vergnügt, bevor sie die Verbindung schloss.

Sabine wandte ihren beiden Gesprächspartnern ein entschuldigendes Gesicht zu. »Scheiße, das könnte ernst werden. Ich muss jetzt leider gehen. Tut mir leid, Ashur. Ich bin später zu einer Revanche bereit, wenn du es bist, Mister Muskelprotz.«

Tim grinste breit. »Ja, in Ordnung. Aber lass uns die Einsätze erhöhen. VR ist gut, aber nichts geht über ein echtes Sparring-Match. Meinst du, du kannst mich in einem Kampf besiegen?«

Sabine reckte ihm stolz ihr Kinn entgegen. »Ich habe schon größere Männer als dich flachgelegt«, prahlte sie. »Ich treffe mich in ein paar Stunden in dem Haupttrainingsgelände mit euch beiden.«

Als die Frau wegging, starrte Tim ihr wie hypnotisiert hinterher. »So eine Scheiße! Ich habe vergessen, sie nach ihrem Namen zu fragen«, fluchte er dann.

»Es kommt mir so vor, als solltest du eigentlich wissen, wer sich alles auf deiner Raumstation aufhält, Mister Muskelprotz .« Ashur schenkte ihm ein breites Hundegrinsen. »Du warst wohl zu sehr damit beschäftigt, ihr hinterher zu blicken.« Er schüttelte sich förmlich vor Lachen. »Es ist mir echt egal, wer die nächste Runde gewinnt. Solange ich lebe, wirst du den Namen nicht mehr los!«

Bevor Tim irgendetwas sagen konnte, schüttelte Ashur den Kopf, verwandelte sich in eine Albtraumversion von sich selbst und sprang lachend davon. »Wir sehen uns auf dem Allgemeinen Trainingsgelände!«

Tim starrte finster hinter ihm her und verließ dann den Vid-Pod. Wer auch immer die geheimnisvolle Frau war, sie war schön und tödlich … seine absolute Lieblingskombination. Er ging durch die Gänge der Station und versuchte, sich das Bild von ihr aus seinem Kopf zu schlagen.

Aber es wollte einfach nicht klappen. Er fragte sich unablässig, wer sie wohl war, woher sie kam und ob sie ihn wieder mit diesem blendenden Lächeln beschenken würde, wenn sie sich auf der Matte trafen.

Er konnte nicht aufhören, es sich ins Gedächtnis zu rufen..

»Da gibt es nur eins«, sagte er zu sich selbst und wechselte die Richtung, um zum Trainingsbereich zu gehen.

»Mit dir selbst zu reden, damit du wie ein Verrückter klingst?«, fragte die Stimme von Rickie Escobar plötzlich neben ihm. »Was ist denn los, Kumpel?«

Unwillig schüttelte Tim den Kopf, denn er wollte ihm nichts sagen. Rickie würde ihn nur gnadenlos aufziehen, weil er sich nach einer Frau sehnte, selbst wenn es sich um eine so umwerfende Frau handelte wie diejenige, die ihn gerade auf dem Schießstand besiegt hatte.

Unbeirrt zog Rickie ein mitleidiges Gesicht. »Frauenprobleme?« Er verzog verblüfft den Mund zu einem ›O‹, als er sah, dass seine Stichelei ins Schwarze getroffen hatte. »Aaaalter Schwede . Das sieht dir aber gar nicht ähnlich. Seit wann bist du so empfindlich, wenn es um Frauen geht?«

»Nicht einfach Frauen .« Tim stöhnte auf. »Eine Frau. Eine perfekte Frau. Sie ist so weit außerhalb meiner Klasse, dass ich mich freiwillig in den Weltraum stürzen sollte, nur weil ich an sie denke.«

»Und wer ist diese Frau?«, wollte Rickie sofort wissen und schlug ihm tröstend auf den Rücken. »Was macht sie denn so besonders, dass mein Kumpel, der größte Hengst auf dieser Raumstation, auf dem Gang fast heult? Warte bloß, bis Joel davon erfährt. Der wird ausrasten.«

Tim sah seinen Freund streng an, als sie zum Aufzug gingen. »Wag es nicht , Rickie. Ich meine es völlig ernst … sie ist einfach unglaublich.« Seine Augen verschleierten sich ein wenig. »Sie hat diese JD-Specials gemeistert, als wären sie für sie gemacht worden. Es war, als würden alle meine Träume auf einmal wahr werden. Ich habe nicht einmal nach ihrem Namen gefragt.«

Rickie war überwältigt von der Aufrichtigkeit in der Stimme seines alten Freundes. »Scheiße, Mann. Das ist tiefsinnig. Soll ich dir helfen, sie zu finden?«

Aber sein Freund schüttelte den Kopf. »Das ist nicht nötig. Sie und Ashur treffen sich gleich mit mir im Trainingsgelände. Ich gehe jetzt dorthin, um etwas Dampf abzulassen, falls du mich begleiten willst.«

Rickie schlug ihm aufmunternd auf den Rücken. »Sicher doch, ich könnte ein Work-out vertragen. Was ist mit deiner geheimnisvollen Frau? Du sagtest, sie war bei Ashur? Dann muss sie mit Akio und Barnabas aus High Tortuga gekommen sein. Oder vielleicht hat sie sich auch von Devon heraufgeschlichen.«

»Sie schleicht bestimmt nicht herum«, schnauzte Tim. »Dafür ist sie zu direkt.«

Rickie schnitt eine Grimasse und streckte ihm hinter seinem Rücken die Zunge heraus, ehe er ihm folgte.

Das Trainingsgelände war ziemlich leer, als sie dort ankamen. Sie zogen sich schnell um und suchten sich eine Matte, die einen guten Blick auf den Eingang bot.

Aber Tim konnte sich nicht konzentrieren, also gewann Rickie immer wieder, und Tims glanzlose Leistung gab seinem Freund eine Gelegenheit nach der anderen, einen Punkt nach dem anderen zu sammeln.

»Nur gut, dass niemand zuschaut«, stichelte Rickie, als Tim zum dritten Mal in den letzten Minuten zur Tür schaute. »Wenn dein Schwarm endlich auftaucht, wirst du wirklich dumm aussehen, wenn du mit ausgeschlagenen Zähnen auf dem Boden liegst.«

Daraufhin drehte sich Tim bösartig grinsend zu seinem alten Freund um. »Dann versuch’s doch mal, du lachender Junge.« Er hob seine Fäuste und winkte ihn einladend heran. »Dein Lachen wird auf der anderen Seite deines Gesichts zu sehen sein, nachdem ich dich dazu gebracht habe, deinen eigenen Arsch zu küssen!«

Er griff mit einem schweren Schwinger an, weil er wusste, dass Rickie sich ducken würde. Als sich Rickie wie vorausgesehen bückte, um dem Schlag auszuweichen, verpasste Tim ihm einen Kopfstoß, der ihn auf den Arsch warf. »Hast du nicht was von Zähnen auf dem Boden gesagt?«

Rickie spuckte Blut aus und grinste, während er aufsprang. »Ja, aber deine, nicht meine.« Er trat gegen Tims Knie und schlug dann blitzschnell mit einem Haken zu, als dieser zum Kontern ansetzte. »Du wirst langsam, alter Mann.«

Tim antwortete mit einem Schlag in Rickies Solarplexus, genau dort, wo Eric ihn an ihrem ersten Tag als Guardian die Kugel verpasst hatte. »Du bist besser, als früher«, sagte er bewundernd. »Was hast du in den letzten Jahren alles getrieben? In dieser Hinsicht hältst du dich ziemlich bedeckt.«

»Ein bisschen dies, ein bisschen das«, erwiderte Rickie ausweichend. »Wow, wer ist DAS denn?«

Tim drehte sich um, da er glaubte, sie sei gerade eingetroffen, aber seine Enttäuschung verwandelte sich in brennenden Schmerz, als Rickie ihm einen saftigen Faustschlag gegen das Kinn versetzte.

Missmutig massierte er sich die wunde Stelle und drückte mit der Zunge gegen seine Zähne, um zu prüfen, ob sie sich nicht doch tatsächlich gelöst hatten. »Wow, Rickie.« Er rieb sich seinen Kiefer noch ein wenig mehr und wünschte sich, dass sein Gegner nur ein paar Zentimeter näher an ihm stünde. »Willst du mir nicht noch mit dem Knie in die Eier treten, nur um sicherzugehen, dass du alle schmutzigen Tricks verwendet hast? Vielleicht sollte ich auch mein Bein weiter ausstrecken, damit du mir es besser wegfegen kannst und damit einen verdammten Hattrick billiger Nummern hinbekommst?«

»Selber wow, du Weichei.« Rickie verdrehte seine Augen. »Das ist doch gleich wieder verheilt. Du bist wirklich zu einfach auszutricksen.«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass du derjenige bist, den man mit dem Versprechen einer Mahlzeit am Morgen in das Bett jeder Frau locken kann. Oder hat sich das etwa geändert?« Tim hatte endlos viele Trainingskämpfe gegen Rickie und die anderen ursprünglichen Guardians bestritten, als sie angefangen hatten. Sie waren in Kontakt geblieben, so gut es ging, als die Jahre sie in verschiedene Richtungen führten, aber der Tod von Matthew während des Leath-Krieges hatte eine unüberbrückbare Lücke zwischen ihnen allen hinterlassen.

Joel war im Dienst geblieben und Rickie hatte offenbar etwas getan, das sehr wahrscheinlich zu neun Zehnteln illegal war, da er vor ihnen nicht damit geprahlt hatte. Tim war bei der ›Vollen Breitseite‹ als Türsteher geblieben und hatte zugegebenermaßen sein Bestes getan, um nicht aufzufallen. Die Kriege hatten sie über die Jahre auseinander getrieben, aber es war gut, wieder zusammen zu sein, auch wenn sie als Team nicht mehr ganz komplett waren.

Tim duckte sich unter einem weiteren Schwinger weg und konterte erneut, um den Punkt zu machen. »Eine Sache, die ich nicht vermisst habe, ist dein dämlicher Sinn für Humor.«

Jetzt war Rickie an der Reihe vorgetäuscht gequält dreinzuschauen. »Und da habe ich immer gedacht, du würdest den Boden verehren, auf dem ich gehe. Ich schätze, ich bin durch Missy Mystery ersetzt worden, wer auch immer sie sein mag. Sie ist eine glückliche Frau.«

Tim wollte gerade einen weiteren Faustschlag – und eine schnippische Antwort – austeilen, als er besagte Frau mit Ashur in der Tür stehen sah.

Auf seinen Blick drehte sich Rickie um und atmete tief durch. »Oh, Mann. Ich nehme alles zurück. Sie ist viiiiiel zu heiß für dich.«

Haupttrainingsgelände, QBBS Guardian, Devon

Sabine stand vor den Umkleideräumen und musterte prüfend die verschiedenen Trainingsbereiche, die sich vor ihr erstreckten. Sie holte tief Luft und bereute es sofort, als ihr der Schweißgeruch in die Nase stach. Sie blickte zu Ashur hinunter, der bei ihrem Eintreffen vor dem Trainingsgelände auf sie gewartet hatte. »Wo finde ich jetzt Mr. Muskelprotz?«

Ashur deutete mit seiner Nase auf einen der nahe gelegenen Trainingsmatten. »Er ist da drüben.«

Sie zögerte kurz. »Ach. Oh ja. Jetzt sehe ich ihn.« Der Mann, gegen den sie hier antreten wollte, kämpfte auf einer der Matten mit einem anderen großen Kerl. Er schien in natura irgendwie sogar noch größer zu sein. »Ich habe bei dieser Herausforderung ziemlich dick aufgetragen. Wenn ich verliere, werde ich verdammt dumm dastehen.«

»Halt es unkompliziert«, riet Ashur ihr. »Du kennst dich doch mit dem Nahkampf gut aus, nicht wahr? Sozusagen Hand gegen Pfote.«

Abgelenkt wollte Sabine ihm gerade zustimmen, doch dann zuckte sie zusammen und warf Ashur einen misstrauischen Blick zu. »Was soll das heißen, ›Hand gegen Pfote‹? Du meinst ›Hand gegen Hand‹, oder?«

Ashur lachte. »Nein, ich meinte ganz genau, was ich gesagt habe.« Er stupste sie in Richtung der Matten. »Geh schon rüber … mach mit. Ich bin in der Nähe, wenn du fertig bist.« Grinsend schlenderte er zu der Bank hinüber und streckte sich davor gemütlich aus. Sein Kläffen hatte die Aufmerksamkeit der Männer auf sich gezogen.

Unauffällig schnupperte Sabine. Unter dem stechenden Geruch nach Schweiß konnte sie das Wesen der beiden Männer auf der Matte riechen. Du verdammter Hund. Du hättest mich ruhig warnen können, dass er ein Werwolf ist.

Als sie sich der Matte näherte, hörte sie, wie Tims Freund ihm sagte, sie sei zu heiß für ihn und runzelte die Stirn. Sie war nicht auf der Suche nach einer Liebesbeziehung, nur nach einem guten Kampf.

Sie warf ihr Handtuch auf die Bank neben der Matte und ging zu den beiden hinüber, lächelte und nickte dem Fremden zu, während sie ihr Ziel mit einem harten Blick fixierte. »Ich bin hierhergekommen, um dir in den Arsch zu treten, Mister Muskelprotz. Ich habe nicht damit gerechnet, dass du über mich redest.«

Ricky brach in ein hilfloses Gelächter aus und krümmte sich. »›Mister Muskelprotz?‹ Ach Gott, Tim … du weißt, dass ich es nicht dabei bewenden lassen kann, oder?«

»Halt die Klappe, Rickie«, knurrte Tim und funkelte ihn finster an.

Inzwischen war dieser bereits zusammengeklappt und hielt sich den Bauch. Er wischte sich die Lachtränen aus den Augen. »Ich dachte, ›Rocky‹ wäre zu machohaft , aber das hier ist einfach unbezahlbar!«

»Das finde ich auch!«, kläffte Ashur belustigt von der Seite.

Kopfschüttelnd schaute Sabine von einem zum anderen. »Kinder, bitte. Wird es jetzt hier einen Kampf geben oder nicht?«

Tim begegnete ihrem Blick und wedelte mit einer Hand einladend in Richtung Matte. »Sicher doch. Nach dir.«

Sie nahmen ihre Positionen ein, Sabine starrte Tim mit einem strengen Blick an. »Lass uns das Ganze ein wenig interessanter machen«, schlug sie vor und genoss es, wie Tim bei ihrem unerschütterlichen Blick nervös das Gewicht verlagerte. »Was ist die Währung, mit der man hier wettet?«

Natürlich lieferte Rickie gleich die Antwort. »Ehre, hübsche Frau. Die besten Kämpfe werden auf der ganzen Station übertragen. Natürlich nur zu Trainingszwecken, verstehst du?«

Tim sah, wie eine Seite ihres perfekten Mundes amüsiert zuckte.

»Ich würde nichts anderes erwarten.« Sie richtete ihren eisigen Blick auf Rickie. »Allerdings rate ich dir dringend, du hörst auf, mich ›hübsche Frau‹ zu nennen, sonst muss ich dich zum Weinen bringen, wenn ich mit Tim fertig bin. Mein Name ist Sabine.«

»Ein hübscher Name für eine hübsche Frau.« Wie immer trieb Rickie es auf die Spitze. »Hast du auch einen passenden Nachnamen?«

Sabine lächelte zuckersüß und sah so unschuldig drein, als könnte sie kein Wässerchen trüben. »Ich benötige keinen Nachnamen.«

Rickies Augen weiteten sich, und die Farbe wich aus seinem Gesicht, als wäre ihm gerade das Herz aus dem Arsch gefallen.

Aber Tim schnaubte nur. Er hatte instinktiv gewusst, dass sie zur königlichen Familie gehörte. Sie bewegte sich, als gehöre ihr die Nacht. »Ich bin gerne für eine Nebenwette zu haben, Sabine.«

Verschmitzt grinste sie ihn an. »Das höre ich gerne! Was bist du bereit zu wetten?«

Tim überlegte kurz. »Wenn du gewinnst, wird das Video des Kampfes veröffentlicht und alle dürfen mich einen Monat lang ungestraft Mister Muskelprotz nennen, ohne dass ich ihnen den Kopf abreiße.« Er sah, dass sie angebissen hatte und erhöhte den Einsatz. »Wenn ich dagegen gewinne, gehst du mit mir essen.«

Sabine versteifte sich.

Rickie schwieg … ausnahmsweise einmal.

»Es ist doch nur ein Abendessen«, sagte Tim sanft, als er ihr Widerstreben sah.

Daraufhin zuckte sie mit den Schultern. »Klar, warum nicht?« Ein Ausdruck, den er nicht entziffern konnte, huschte über ihr Gesicht. »Es ist nur ein Abendessen. Wollen wir jetzt endlich kämpfen oder den ganzen Tag herumstehen und wie zwei Schulmädchen tratschen? Ich bin eine vielbeschäftigte Frau.«

»Ja! Leg endlich los, Mister Muskelprotz!«, rief Rickie und pfiff.

»Halt die Klappe, Rickie! Welche Regeln gelten?«, erkundigte sich Tim. Diese Lektion hatten sie alle an ihrem ersten Tag als Guardians gründlich gelernt.

Sabines Humor war im Nu verflogen. »Halt dich nicht zurück. Ich brauche das Training.« Sie rollte mit den Schultern und streckte sich, ohne ihren Blick von ihm zu nehmen. »Ich hatte vor ein paar Tagen eine kleine Auseinandersetzung, aber es ist nicht dasselbe, wenn sie sich nicht wirklich wehren können.«

Rickie schnaubte. »Du meinst die Veranstaltung im Lagerhaus neulich auf dem Planeten?«

Abfällig zuckte Sabine mit den Schultern. »Mm-hmm.«

Ungläubig weiteten sich Tims Augen bei ihrem harten Blick. »Scheiße, du machst keine Witze!« Sein Grinsen kehrte zurück, die Aussicht auf eine Herausforderung durch die atemberaubende Frau vor ihm beflügelte seinen Geist. »Welche Waffen?«

Sie schüttelte abwehrend den Kopf. »Nahkampf, nur Fähigkeiten.«

Rickie spielte den Schiedsrichter, rief vom Rand der Matte den Kampfbeginn aus, und alles andere war vergessen.

Sie gingen beide gleichzeitig in die Offensive. Er blockte ihren ersten Schlag mit seinem muskulösen Unterarm ab, aber sie hatte damit gerechnet und war zu dem Konter bereit. Abrupt riss sie ein Knie nach oben und traf mit einem deutlich hörbaren Krachen seine Rippen.

»Du versuchst es ja nicht einmal! Ich habe dir doch gesagt, du sollst dich nicht zurückhalten, Muskelprotz. Ich spiele nicht«, knurrte Sabine wütend.

»Du bist schnell«, gab er zu, »und stark.« Er rieb sich die Rippen, wo ihr Knie ihn getroffen hatte. »Na schön, ich werde mich nicht mehr zurückhalten. Auf geht’s.« Er ließ sich geschmeidig in seine Kampfhaltung zurückfallen. Während der kurzen Unterbrechung waren seine Rippen schon wieder geheilt.

»Wurde auch langsam Zeit, verdammt!« Sabine trat drei Schritte nach vorne und sprang unvermittelt in die Luft. Aber er war bereit, blockte die ihm entgegenkommende Faust und traf sie mit einem harten Schlag in den Solarplexus.

Sie stöhnte auf, als ihr die Luft aus den Lungen getrieben wurde und sie auf die andere Seite der Matte knallte. Dort blieb sie eine Sekunde lang liegen, während ihre Rippen heilten und ihre Fähigkeit zu atmen zurückkehrte, dann schnellte sie sich mit einem Überschlag wieder auf die Beine.

»Das war schon besser«, keuchte sie und stürzte sich wieder auf Tim. »Das ist ein Kampf!«

Sie trafen sich erneut in der Mitte und teilten Schläge aus, die einen normalen Menschen außer Gefecht setzen würden. Sabine war froh über ihre Weiterentwicklungen. Sie schlug, trat und blockte so schnell wie Tim und was ihre Kraft betraf, da konnte man nur sagen, sie strafte ihre Größe und ihr Alter Lügen.

Erstaunlicherweise schien Tim zu verlieren. Er war so von dem Engel der Zerstörung vor ihm gefesselt, dass er die Schmerzen ihrer Schläge, die ihn trafen, gar nicht wahrnahm. Sie war zwar weder ein Vampir noch ein Werwolf, aber sie war schnell und sie war verdammt stark . Aber ihr heißer Wunsch, ihn zu besiegen, brachte recht rasch seine Alpha-Natur zum Vorschein. Es war ihm eine Freude, sich ihrer Herausforderung zu stellen und ihr mit seiner eigenen wilden Energie zu begegnen.

Das Abendessen mit ihr würde die Schmerzen wert sein, die er auf sich nehmen musste, um es sich zu verdienen. Tim konnte die Wildheit und Entschlossenheit, die in ihren Augen brannte, kaum fassen.

Rickie und Ashur feuerten sie vom Rand der Matte aus an, als der Schlagabtausch immer schneller und härter wurde. Seine Heilungsrate war genauso gut wie ihre, daher gab es keine Unterbrechungen. Manchmal konnte man nicht einmal erkennen, wo Tim aufhörte und Sabine anfing, denn sie bewegten sich mit einer solchen Geschwindigkeit, dass sie zu einem verschwommenem Fleck der Gewalt wurden.

Zehn Minuten verstrichen, dann fünfzehn … und keiner von beiden wollte nachgeben. Inzwischen hatte ihr Kampf eine regelrechte Menge angezogen, aber keiner von ihnen bemerkte es.

Schließlich brachen sie schweißgebadet ab.

Tim wischte sich den Mund ab und schmeckte Blut.

Er hatte bisher nur einen einzigen Kampf wie diesen erlebt, seinen ersten echten Alphakampf gegen Peter. Was hatte es mit diesem Tag auf sich, der ihn andauernd in die Vergangenheit zurückversetzte? Er nahm an, dass es an einer gewissen Ähnlichkeit lag. Denn bei dieser Art des Wettbewerbs war keine Bosheit im Spiel, aber jeder von ihnen hatte den unerbittlichen Wunsch, den anderen zu übertreffen.

Sabine stieß einen Kampfschrei aus und nutzte Tims momentane Ablenkung, um ihn mit einer Kombination aus einem Faustrückenschlag aus der Drehung heraus und einer darauffolgenden Rechten anzugreifen. Zum Abschluss hämmerte sie ihm den Ellbogen so heftig an die Schläfe, dass es ihn für einen Moment benommen machte.

Adrenalin durchflutete Sabines Körper. Sie war schneller als Tim, aber er war stärker, und er hatte Training und Erfahrung auf seiner Seite. Sie konnte gegen ihn gewinnen, aber nur, wenn sie sich anstrengte und viel Glück hatte.

Dann versuchte sie einen Würgegriff anzusetzen und schaffte es auch, einen Arm um seinen Hals zu legen und fest zuzudrücken, um ihm die Luft abzuschnüren. Jedoch wurde ihr das zum Verhängnis.

Tim griff nach hinten, packte Sabine mit beiden Händen und zog sie mit Schwung über seinen Kopf, um sie wegzuschleudern. Doch die Mischung aus Blut und Schweiß unter ihren Füßen ließ ihn stattdessen ausrutschen.

Sie stürzten in einem Gewirr von Gliedmaßen auf die Matte.

»Genug«, erklärte Sabine japsend. »Ich gebe auf! Ich kann meine Beine nicht mehr spüren.«

Sie rollten sich voneinander weg und lagen nur noch schwer atmend auf der Matte. Sabine tauschte einen Blick mit Tim aus und die beiden hielten einen Moment inne, dann brachen sie in lautes Lachen aus.

»Es ist schon eine Weile her, dass ich so einen Kampf hatte.« Tim hielt sich die Rippen, um den von seinem schallendem Gelächter verursachten Schmerz zu lindern. »Vielleicht können wir das ja irgendwann mal wieder machen.«

»Besorgt euch endlich ein Zimmer, ihr beiden!«, schrie Rickie von der Seite.

Sabine setzte sich ruckartig auf. Jetzt, nachdem sich das Adrenalin verflüchtigt hatte, brannte ihr Gesicht tiefrot. Schnell stand sie auf und schaute nach Ashur, der neben der Bank am Rande der Matte lag. »Ich gehe jetzt besser.«

Tim nickte verständnisvoll. »Ich sehe dich dann später zum Abendessen?«

Sabine lächelte. »Das wirst du, Mister Muskelprotz.«

»Hey, ich habe gewonnen!«, beschwerte er sich. «Du darfst mich nicht mehr so nennen!«

»Ich sehe das als Unentschieden an.« Sabine zwinkerte ihm verschmitzt zu und holte Ashur mit großen Schritten ein, der sich bereits auf den Weg zu den Duschen gemacht hatte. »Also bis zum Abendessen. Du kannst mich um acht abholen.«

Ashur folgte ihr in die Umkleideräume und lachte Tim mit seinem hündischen Lachen an, als dieser leicht humpelnd die Matten verließ. Sie ließ den Schäferhund in der Umkleide zurück, während sie duschte und sich umzog.

»Also … Tim«, drängte Ashur, als sie süß nach Jasmin duftend wieder aus der Dusche kam.

Sie zog einen Schmollmund, während sie sich ein Handtuch von einem Stapel nahm und sich das Gesicht abtrocknete. »Ich hätte ihn überwältigen können.«

Ashur wedelte fröhlich mit dem Schwanz und erwiderte rätselhaft: »Ich glaube, das hast du auch.«

Sabine starrte den Deutschen Schäferhund finster an. »Was soll das denn heißen?«

Aber Ashur kläffte nur belustigt. »Beeil dich, Sabine. Akio wartet darauf, dich zu sehen.«

»Tut er das?« Ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer in ihrer Brust, gefolgt von dem Schmerz, den der Gedanke an Akio immer hervorrief. Trotzdem wollte sie keine einzige Minute mit ihm verpassen. Sie griff automatisch nach ihren Waffen und dem Gürtel, den er ihr geschenkt hatte, während sie sich ankleidete und stellte im nächsten Moment ihr Fehlen fest.

»Er hat mir eine Nachricht geschickt, während ihr gekämpft habt, um zu fragen, ob ich dich gesehen habe«, bestätigte Ashur. »Als ich ihm sagte, dass du trainierst, bat er mich, dich danach zu ihm zu bringen.«

»Das war sehr nett von dir«, lobte Sabine ihn.

Ashur schaute sich vorsichtshalber um, ehe er antwortete. »Alles ist besser als zu versuchen, meine Teufelswelpen aus Schwierigkeiten herauszuhalten.«

Versonnen über seine Klagen lächelnd, folgte Sabine dem Deutschen Schäferhund. Tim beunruhigte sie ein wenig. Einerseits war er sehr gut aussehend und bewegte sich auf der Sparringmatte zugegebenermaßen sehr geschmeidig, aber andererseits fühlte er sich offensichtlich sehr zu ihr hingezogen. War das etwas, das sie wollte? Das hätte sie nicht vermutet … bis jetzt jedenfalls. »Wo hält sich Akio gerade auf?«, fragte sie.

»Er ist mit Barnabas auf dem Aussichtsdeck.«

»Okay.« Sabine achtete kaum auf Ashur und folgte ihm den Rest des Weges praktisch auf Autopilot, während ihr Verstand sich mit ihrem Unbehagen über den Moment auseinandersetzte, den sie mit Tim auf der Matte geteilt hatte.

Er ließ sie irgendwie alles infrage stellen.

Das führte auch dazu, dass sie mit Ashur zusammenstieß, der am Fuß einer breiten Treppe stehen geblieben war.

»Uff«, jaulte er jammernd auf. »Warum werdet ihr Menschen immer so seltsam, wenn ihr an Paarung denkt? Es ist, als würde sich euer Gehirn vom Rest des Körpers ablösen!«

Sabines Gesicht färbte sich tiefrot. »Ich habe überhaupt nicht an ›Paarung‹ gedacht, wie du es ausdrückst. Wo sind wir hier eigentlich? Ich dachte, wir würden Akio aufsuchen.«

Ashur schaute mit geneigtem Kopf skeptisch zu ihr auf. Sein linkes Ohr tat sein Bestes, um eine wissende Augenbraue zu formen. »Ach, was du nicht sagst.« Er drehte sich um und ging, immer noch vor sich hin brummelnd, davon. »Akio ist oben.«

»Tschüss, Ashur«, rief sie ihm nach.

Innenhof, Raumflottenstützpunkt, High Tortuga

Tabitha und Peter hielten sich an den Händen und unterhielten sich gelegentlich leise miteinander, als sie von der Vid-Doc-Suite in Michaels Büro die Zwillinge nach Hause begleiteten. Alexis und Gabriel hatten dem Unterricht zunächst nur sehr widerwillig zugestimmt, weil sie so schnell wie möglich ihre Eltern wiedersehen wollten.

Aber Tabitha war hartnäckig geblieben, und die Kinder hatten sich nach langem Protest schließlich damit abgefunden, weil die Ex-Rangerin ihnen entgegnet hatte, dass sie eine interessante Lektion zu behandeln hätten. Denn heute würden sie weiter in das Aetherische eindringen.

Peter lief still neben ihr und ließ ihr Raum zum Nachdenken. Er hatte sich vollständig erholt, und die heutige Lektion war gut verlaufen. Zumindest dachte Tabitha das.

Sie war fasziniert von Alexis’ einzigartiger Auffassung wie das Aetherische funktionierte, sowie auch von ihrer absoluten Gewissheit, dass es für sie so etwas wie ein Brunnen sein würde, aus dem sie beliebig schöpfen und dessen Energie sie nach ihrem Willen biegen konnte. Wenigstens nachdem sie erst einmal herausgefunden hatte, wie sie Zugang zu dieser Energie bekam.

Für Tabitha klang das sehr nach Magie und Peter stimmte ihr zu. Das war ein völlig anderer Ansatz als die ›Wahrheit‹, mit der er aufgewachsen war und die Tabitha kennengelernt hatte, seitdem sie vor so langer Zeit auf die Unbekannte Welt gestoßen war.

Sie glaubte auch nicht, dass Alexis noch viele Lektionen benötigen würde, bis sie irgendeine Art von Fähigkeit manifestieren konnte. Ebendarum machte sich Peter einige Sorgen, dass das Mädchen Probleme bekommen könnte. Er erinnerte sich noch sehr gut an mehrere Vorfälle, bei denen die Nanozyten von Menschen nicht richtig funktioniert hatten und deshalb hatte er auch Tabitha eindringlich gewarnt, auf die Anzeichen zu achten.

Schon als sie den Innenhof erreichten, der sozusagen als Verteidigungslinie für das Haus diente, in dem Bethany Anne und Michael ihre Kinder aufzogen, konnten sie alle riechen, dass etwas Gutes gekocht wurde. Alexis und Gabriel liefen ungeduldig voraus, sobald ihr Zuhause in Sichtweite kam. Etwas langsamer folgten hinter ihnen in kurzem Abstand die beiden Erwachsenen.

»Ich bin hier in der Küche«, rief Bethany Anne, als sie durch die Tür stürmten.

»Mammiiiii!«, riefen die Zwillinge gleichzeitig. Sie rannten mit ausgebreiteten Armen auf sie zu.

Bethany Anne hatte keine Zeit, den Löffel wegzulegen. Sie bekam eine überschwängliche Umarmung von ihren Babys – die schon wieder ein Stück gewachsen zu sein schienen – und sie bekleckerten sich dabei alle mit der vom Löffel fließenden Tomatensoße.

Gabriel wischte mit einem Finger über sein Hemd und leckte ihn sauber. »Mmmh. Mami macht Lasagne.«

Genau in dem Moment betrat Tabitha die Küche. »Habe ich da gerade gehört, dass meine größte Sucht erwähnt wurde?«

»Na ja, irgendwie müssen wir dich ja sattbekommen.« Bethany Anne richtete sich auf und sah auf ihr ruiniertes Hemd hinunter. »Ich ziehe mich besser um. Alexis, Gabriel, ihr beiden auch.« Sie hob die Zwillinge hoch und küsste sie auf die Stirn. »Die halbe Stunde bis zum Abendessen lässt mir genügend Zeit, um meine Engel wieder hübsch und sauber zu machen.«

Während sie sich entfernten, begannen die Kinder ihrer Mutter mit Überlichtgeschwindigkeit alle Geschehnisse während ihrer Abwesenheit zu erzählen.

Als Bethany Anne mit Alexis und Gabriel zurückkam, trugen die Zwillinge die lockeren Anzüge, die derzeit auf dem Stützpunkt so beliebt waren. Bethany Anne hatte sich dagegen für eine einfache schwarze Bluse und eine schwarze Yogahose entschieden. Sie erklärte dazu nur knapp, dass sie schließlich in ihrem eigenen Haus sei, und falls jemand nach den Ereignissen der letzten Tage ernsthaft erwarte, dass sie sich schick mache, solle er es sich das besser noch einmal überlegen.

Dies war eine Feier und eine Totenwache.

Kurze Zeit später schickte Michael eine Nachricht, um sich für seine Verspätung zu entschuldigen und ihnen zu sagen, dass sie ruhig ohne ihn anfangen sollten, da er wegen der Entführung auf Colonnara immer noch in der Besprechung mit Addix saß und nicht wusste, wie lange sie noch brauchen würden.

Alexis und Gabriel rangen spielerisch auf dem Wohnzimmerteppich, während Bethany Anne ihre Lasagne herausholte, um sie zu inspizieren.

Tabitha spähte erwartungsvoll über den Tresen. »Das ist eine ziemlich große Lasagne nur für uns sechs.«

Ungerührt holte Bethany Anne noch eine weitere große Lasagne aus dem Ofen. »Das ist auch gut so, denn ich habe dir ja gesagt, dass wir ein Familien essen veranstalten.« Sie grinste. »Bald werden hier alle eintreffen, die es einrichten konnten.«

Die Ex-Rangerin erwiderte ihr Grinsen, stand auf und ging zum Kühlschrank. »Aber da gehört auf jeden Fall noch mehr Käse drauf.«

Peter gab ein zustimmendes Geräusch von sich. »Richtig! So etwas wie übrig gebliebenen Bacon oder zu viel Käse gibt es einfach nicht«, erklärte er genießerisch.

Bethany Anne verdrehte ihre Augen, aber sie kam Tabithas Wünschen nach. »Was die schwangere Frau sich wünscht …«

»Die schwangere Frau will auch Knoblauchbrot haben.« Tabitha klatschte vor Freude über die nun vor Käse überquellende Köstlichkeit in die Hände. »Ich fange an, die Schwangerschaft zu mögen. Sie hat durchaus auch Vorteile.«

Bethany Anne stellte die Formen wieder in den Backofen zurück, um den Käse zu gratinieren. »Wenn du wieder isst, ist alles gut.«

»Wie wäre es mit Schokoladenkuchen zum Nachtisch?«, schlug Peter vor. »Ich könnte rasch noch welchen besorgen.«

Wie aufs Stichwort wich sämtliche Farbe aus Tabithas Gesicht und sie rannte mit vor den Mund geschlagenen Händen aus dem Zimmer.

Peter sah Bethany Anne völlig verwirrt an. »Habe ich vielleicht etwas Falsches gesagt?«

Sie wollte ihm gerade versichern, dass es gewiss nicht seine Schuld war, als die Tür aufging und John, Darryl und Ashur lachend hereinkamen.

Gabrielle und Jean befanden sich gleich dahinter und ihnen folgten wiederum Bellatrix mit ihren Welpen, die in einem pelzigen Knäuel dahinstürmten.

Bei ihrem Anblick war Bethany Anne sofort auf der Hut und wies mit zwei gestreckten Fingern erst auf Bellatrix und dann auf ihre eigenen Augen. »Ashur, Bellatrix. Ich bin wirklich froh, dass ihr hier seid, aber wenn meine Kinder wieder im Aetherischen landen, werden wir ein ernstes Wörtchen miteinander reden müssen.«

»Keine Sorge, sie haben ihre Fähigkeiten jetzt unter Kontrolle. Sogar Ashur kann seine Fähigkeit blockieren, die deine Verbindung zum Aetherischen verstärkt«, kläffte Bellatrix beruhigend.

»Wenn das stimmt, habe ich kein Problem damit, wenn sie miteinander spielen.« Sie streckte eine Hand aus, damit Ashur sie berühren konnte. Und tatsächlich spürte sie dabei nicht, wie das Aetherische sich ihr weiter näherte, als ihre Finger durch sein weiches Fell fuhren.

In der Zwischenzeit hielten Alexis und Gabriel sich vorsichtshalber in sicherer Entfernung von Zeus und Athena.

»Hat es geklappt?«, erkundigte Alexis sich atemlos. Voller Hoffnung hielt sie ihre Hände fest verschränkt.

Ihre Mutter nickte. »Sieht tatsächlich ganz danach aus.« Sie winkte die vier zu dem dicken Teppich hinüber. »Aber bleibt bitte da, wo ich euch sehen kann.«

Auch Tabitha sah ihnen beim Ringen zu. Sie vergnügten sich, als ob sie ihr ganzes Leben lang zusammen gespielt hätten.

Zuerst spielten sie in Teams Mensch gegen Hund. Dann tauschten sie, sodass Zeus mit Gabriel gegen Athena und Alexis antrat.

Für die Kinder und Welpen war das alles nur ein Spiel. Der Kampf, den sie austrugen, spielte sich nur in ihrer Fantasie ab.

Hingegen bot er den zusehenden Erwachsenen einen kleinen Vorgeschmack auf das, was noch in der Zukunft kommen würde.

Jedes Team hatte seine eigene Taktik. Alexis ging direkt in den Kampf und versuchte, Gabriel bei ihrem ersten Angriff mit einem Fesselgriff auszuschalten.

Dann stürzte sich Zeus dazwischen und drängte Alexis aus ihrer Position.

Dies geschah noch drei weitere Male, ehe Alexis die Beherrschung verlor.

Sie stampfte wütend mit dem Fuß auf und zeigte anklagend auf ihren Bruder. »Du schummelst! «

»Nein, das tue ich nicht!«, protestierte er. »Es ist schließlich nicht meine Schuld, dass du so berechenbar bist.«

Das Mädchen knurrte frustriert.

»Ich hoffe wirklich, dass ihr euch vertragt«, warf Bethany Anne in einem warnenden Tonfall ein. Sie war über die Insel inmitten der Küche gebeugt, um die beiden im Auge zu behalten. »Es wäre nämlich sehr schade, wenn ihr beiden euch streiten würdet, wo wir doch gerade erst wieder alle zusammengefunden haben.«

Alexis senkte ihre Stimme zu einem ärgerlichen Zischen. »Ich bin nicht zu berechenbar!« Ihre Augen verengten sich. »Würde eine berechenbare Person so etwas tun?« Sie ballte ihre Faust und ihr Gesicht färbte sich vor lauter Konzentration für einen Augenblick lang rot.

Ihr Bruder beobachtete sie unbeeindruckt. »Ja, und? Was ist damit? Du versuchst doch schon die ganze Woche, Energiekugeln zu erschaffen.«

Das Mädchen ignorierte ihn und öffnete ihre Hand dann extra langsam. »Ich … ich habe es diesmal tatsächlich geschafft, Gabriel.« Sie hielt ihre Handfläche nach oben und zeigte ihrem Bruder den winzigen Energieball, der dort lag.

Sein Mund blieb offen stehen. »Wie hast du das gemacht?«

Alexis zuckte mit den Schultern. »Ich bin mir nicht sicher.«

Er warf einen verstohlenen Blick in die Küche, wo die Erwachsenen mit den Vorbereitungen für das Abendessen beschäftigt waren und miteinander plauderten.

Dann drehte er sich wieder zu Alexis um, die noch immer ungläubig auf ihre Energiekugel starrte. »Hey, Schwesterherz, kannst du sie auch größer machen?«

Sie starrte noch eine Sekunde lang fasziniert auf den Ball, bevor sie antwortete: »Ich weiß nicht, ob das wirklich eine gute Idee ist. Du solltest besser Mami holen.«

Gabriel nickte zustimmend. »Das werde ich auch gleich, aber willst du ihr denn nicht mit etwas Aufsehenerregendem imponieren, damit wir keinen Ärger bekommen?«

Alexis zog seinen Vorschlag ernsthaft in Erwägung. Ihr gefiel es sehr, wenn sie ihre Eltern beeindrucken konnte, und sie wollte wirklich wissen, ob sie die Energiekugel wirklich wachsen lassen konnte, bevor ihre Eltern ihre neue Fähigkeit mit einem Haufen neuer Regeln einschränkten.

Daher konzentrierte sie sich wieder und tastete nach der Verbindung zwischen der Energiekugel und dem Aetherischen.

Genau wie Mami es Alexis auf ihre Fragen hin erklärt hatte, floss Energie in den Ball hinein und ebenso viel Energie wieder heraus.

Daher unterbrach das Mädchen einfach die Verbindung, durch die die Energie nach außen floss, und prompt begann die Kugel in ihrer Hand zu wachsen.

Wie man das Wachstum der Kugel stoppen konnte, war allerdings etwas, das Alexis leider nicht wusste.

»Wow«, staunte Gabriel beeindruckt. Er beugte sich vor, um einen genaueren Blick darauf zu werfen.

»ALEXIS!«, schrie ihre Mutter entsetzt aus der Küche.

Alexis riss ihre Hand weg, aber es war bereits zu spät.

Ihr Bruder berührte den Energieball.

Sie wurden in entgegengesetzte Richtungen geschleudert. Gabriel krachte mit so viel Wucht gegen die Wand, dass er darin steckenblieb.

Seine Schwester hatte weniger Glück. Nach dem heftigen Einschlag gegen die Wand, prallte sie davon ab und flog quer durch den Raum. Nach einem zweiten Aufprall landete sie wie ein erbärmlicher Haufen Kleider auf dem Boden. Das letzte, was sie sah, bevor sie das Bewusstsein verlor, war ihre Mutter, die ansatzlos über die Insel sprang, um zu ihnen zu gelangen.

Michaels Büro, Raumflottenstützpunkt, High Tortuga

Michael hörte sich Addix’ Bericht aufmerksam an. »Vertraust du deiner Quelle?«

»Quellen «, stellte Addix klar. »Dies ist nicht meine erste Untersuchung. Ich habe von meinen Agenten zahlreiche Spuren sowohl auf dem Planeten als auch außerhalb verfolgen lassen, und es gab keine bestätigten Verbindungen zwischen den beiden Elementen, die die Entführung von Alexis und Gabriel geplant haben, und irgendwelchen anderen bekannten kriminellen Unternehmen.«

Michael nickte, tief in Gedanken versunken. »Und die anderen beiden, die du getötet hast?«

Die Ixtali zuckte nachlässig mit den Schultern. »Es gab Verbindungen zwischen den beiden anderen und einigen der größeren Banden, auf die ich gestoßen bin, aber sie wurden hauptsächlich als angeheuerte Schläger eingesetzt. Ich habe die Standorte und Kontonummern der Banden an die kolonnaranischen Behörden weitergegeben.«

Das entlockte ihm ein recht schadenfrohes Schmunzeln. »Ich nehme an, sie waren dankbar.«

Auch Addix’ Mandibeln zuckten vor unterdrücktem Vergnügen. »Oh, ja.«

Michael ! Bethany Anne klang panisch, etwas, das er nie geglaubt hatte hören zu müssen.

Ist etwas mit den Kindern …?

Bereite sofort die Vid-Docs vor. Ich bin schon fast … »Da.« In diesem Moment tauchte auch schon Bethany Anne etwas abseits von ihnen auf. Sie hielt ihre reglosen Kinder in den Armen.

Die sichtbaren, großflächigen Verbrennungen der Zwillinge entsetzten Michael. »Warum heilen sie nicht?«, erkundigte er sich abgehackt und knapp.

Sie eilte zu den Vid-Docs. »Ich weiß es nicht. Ihre Nanozyten hätten sich eigentlich in der Zwischenzeit darum kümmern müssen.« Sie starrte finster auf die Deckel der Vid-Docs und sah dann unschlüssig auf die Zwillinge hinunter, denn sie trug eines in jedem Arm. »Kannst du mir mal ein bisschen helfen?«

Michael nahm ihr sofort Alexis ab und sie legten die Zwillinge behutsam in ihre Vid-Docs.

Sanft schloss Bethany Anne den Deckel über Gabriel. »ADAM, Eve.«

>>Ja, Bethany Anne?<<

Die Androidin erschien an der Tür. »Du hast gerufen?«

Bethany Anne legte je eine Hand auf die Vid-Docs ihrer Kinder, die im Moment die einzige Hoffnung für das Überleben der Zwillinge darstellten. »Findet heraus, was meinen Babys fehlt.«