Der Regen klebt in Schlieren außen an der Scheibe, vom Fahrtwind festgenagelt, ich klebe innen. Wenn ich mich noch fester gegen die Scheibe drücke, breche ich durch und lande bei hundert Stundenkilometern auf dem Asphalt. Wenn ich nicht sofort tot bin, fährt mich der LKW hinter uns zu Matsch. Die Kassenfrau rückt noch ein Stück näher an mich heran, das macht sie jetzt schon seit fünfzehn Minuten, Zentimeter für Zentimeter. Sie labert pausenlos, ihr Atem zieht sich in feuchtwarmen Schlieren über mein Gesicht. Noch geschätzte drei Minuten, dann fahren wir von der Autobahn ab. Drei Minuten sind nicht viel, ein Klacks, wenn du, sagen wir, gerade in Neapel bist und auf einer Terrasse mit Meerblick Espresso trinkst. Wenn du beim Zahnarzt sitzt, sieht das schon ganz anders aus. Wenn du im Bus von Mango Tours sitzt, neben einer labernden Kassenfrau, dann sind drei Minuten lange genug, um ganz Neapel zu zerstören und wieder aufzubauen.
Während die ersten Häuser von Neapel einstürzen, erfahre ich, dass die Kassenfrau es nach der Scheidung von ihrem Mann, dem Arschloch, nicht leicht gehabt hat, weil es die geschiedene Frau von einem Mann, der ein Arschloch ist, nicht leicht hat.
»Schau, schau«, sage ich und presse mich gegen die verdammte Scheibe.
Alleinerziehende Mutter, zwei Kinder, und das Arschloch zahlt nicht.
»Aha«, sage ich und atme so flach wie möglich.
Während der Palazzo Reale in Schutt und Asche fällt, erfahre ich das eine oder andere Detail aus dem Leben der Kassenfrau als alleinerziehende Mutter. Außerdem erfahre ich, dass die Kassenfrau sehr stolz auf ihre Tochter ist, die jetzt schon im zweiten Semester erfolgreich Architektur studiert.
»Trifft sich gut«, sage ich, »dann kann sie ja Neapel wieder aufbauen.«
Die Kassenfrau glotzt mich verständnislos an. Ihr Mund schließt sich, ich atme zum ersten Mal seit fünfzehn Minuten wieder tief durch. In der winzigen Pause, die mir die Kassenfrau gönnt, erfahre ich, dass die fettarschige Souffleuse gerade auf Diät ist und schon dreihundert Gramm abgenommen hat. Körperfettpräzisionswaage. Außerdem erfahre ich, dass Gabis zweitbeste Freundin nach Gitti Silke heißt und gerade ziemlich verzweifelt ist.
»Durchhalten, Silke«, sagt Gabi hinter mir, »du schaffst das!«
»Zum Frühstück«, sagt die fettarschige Souffleuse vor mir, »nur fünfzig Gramm Rohschinken.«
»Jeden Tag eine Seite, Silke«, sagt Gabi, »und du bist gut in der Zeit.«
»Neapel? Wieso Neapel?«, sagt die Kassenfrau.
»Mittagessen: Putenbrust auf Knäckebrot, zwei Scheiben. Kresse so viel man will.«
»Du musst dich konzentrieren, Silke, dann klappt das bis zur Prüfung.«
»Versteh ich nicht, das mit Neapel, aber auf jeden Fall macht ihr das mit der Architektur total Spaß, und sie sagt immer zu mir: Mami, wenn ich dich nicht hätte, dann wäre das nie was geworden mit dem Studium, weil Papi ja immer wollte, dass ich eine Lehre mache, das Arschloch. Also das hat sie natürlich nicht gesagt, das mit dem Arschloch, dazu ist sie viel zu gut erzogen, aber das Arschloch wollte wirklich, dass sie eine Lehre macht, die Katja, und nur den Herbert wollte er an die Uni schicken, dabei ist der Herbert …«
Ich presse mein Gesicht schräg an das Fenster und starre durch die Schlieren hinaus. Der Bus wechselt die Spur, er verlangsamt und steuert auf die Ausfahrt zu. Die Schallschutzmauer wird flacher, jetzt ist sie weg, ich kann das Theater sehen.
Da steht es.
In der Ferne.
Am Horizont meines verschissenen Lebens, ein Mahnmal.
Herbert ist schlecht in der Schule und internetsüchtig. Silke ist immer noch verzweifelt. Zum Abendessen gibt es zweihundert Gramm fettarmen Frischkäse, Kresse so viel man will.
Ich greife in meine durchnässte Jackentasche, ich taste nach dem Zeitzünder, da ist er. Unbeschädigt, selbst gebastelt. Man tut viele seltsame Dinge, nachts, wenn man nicht schlafen kann, also warum nicht?
Meine Hand schließt sich um den kleinen Reisewecker, der jetzt ein Zeitzünder ist. Ich drücke auf den Knopf für die Weckfunktion, der Zünder tickt los, ich kann es fühlen. Jede Sekunde ein kleiner Schlag. Es heißt immer, die Bombe tickt, dabei tickt der Zünder, die Bombe wartet nur. Sie liegt unter meinem Sitz, der Plastikbehälter ist mit kleinen bunten Totenköpfen bedruckt.
Wir fahren weich in die erste Kurve, Herbert macht eine Internetsuchttherapie, die er nicht machen will, das kostet Geld und Nerven, die Hand in meiner Jackentasche sagt: noch elf.
Wir fahren in die zweite Kurve, Silke wird immer verzweifelter, der Duomo San Gennaro bekommt Sprünge, in der Capella del Tesoro, Ort des Blutwunders, reißen die Wände.
Meine Hand sagt: noch neun.
Sie sagt: noch acht.
Ich sage zur Kassenfrau: Lass deinen Sohn in Ruhe, Schlampe!
Ich sage zur Souffleuse: Sprich lauter, Fettarsch!
Die Kassenfrau glotzt mich an, die Souffleuse schielt über den Sitz. Noch sieben, noch sechs, ich werde nie erfahren, ob Silke für eine Führerscheinprüfung lernt oder für die Abschlussprüfung in einer Berufsfachschule für Kosmetik. Ich stehe auf und drehe mich zu Gabi um, die Hand immer in der Jackentasche, die Hand sagt: noch vier, ich sage: »Egal was es ist, sie wird es nie schaffen. Nie.«
Zwei.
Eins.
Den Rest können Sie sich ja selbst vorstellen. Explosion, Schreie, brennende Oberschenkel, die in der Gegend herumfliegen und so weiter.
Doktor Klupp nickt verständnislos. Er ist ein bisschen blass um die Nase.
»Die Details«, sage ich, »überlasse ich ganz Ihnen. Aber achten Sie darauf, dass die Kassenfrau als Erste in Flammen aufgeht. Das ist mir wichtig.«
Doktor Klupp nickt mechanisch. Der Mann hat keine Ahnung. Keine Ahnung von einer soliden Gewaltphantasie.
Die Nummer mit der Bombe war mein Favorit. Sehr realistisch, gute Spannungskurve. Manchmal habe ich den Bus einfach die Leitplanke durchbrechen und über die Böschung stürzen lassen. Nicht besonders spektakulär, aber sehr effektiv: keine Überlebenden.
»Wissen Sie«, sage ich und ziehe an der Zigarette, »was mir in all den Jahren ein bisschen leidgetan hat und auch heute noch leidtut?«
Doktor Klupp geht nahtlos vom Nicken in ein mechanisches Kopfschütteln über. Schon wieder keine Ahnung, klar.
»Dass ich so viele Busfahrer getötet habe. Unschuldige Männer mit unterschiedlichen Frisuren und dem immer gleichen Gesicht. Fahle Hautfarbe, entzündete Augen. Blutrot wie die Bremslichter hinten am Bus, darunter dunkle Ringe, so dunkel wie die Nacht, in der diese Männer wieder nicht geschlafen haben.«
Meine schlaflosen Brüder im Geiste.
Ich bitte euch um Vergebung, jeden Einzelnen von euch.
Betrachte es als Erlösung, Bruder.
Um kurz nach acht sind wir beim Theater. Der Bus hält auf dem Vorplatz, wir steigen aus und waten auf das Gebäude zu. Oben der Regen, unten die Sintflut. Am Golf von Neapel ist die Sonne längst aufgegangen, sie taucht die zerstörte und wiederaufgebaute Stadt in honigfarbenes Licht.
Der Rest des Tages ist eher ereignisarm.
Um halb elf beginnt die Vormittagsvorstellung. Pinocchio, das ultimative Erfolgsmusical für Kinder ab sechs. Ich helfe dem Hauptdarsteller ins Kostüm und fixiere die Teleskopnase. Ausziehbar beim Lügen, einziehbar, wenn Pinocchio wieder brav ist. Der Hauptdarsteller prüft den Mechanismus, die Nase klemmt, der Hauptdarsteller tobt. Ich nehme die falsche Nase wieder ab und reibe sie mit Vaseline ein. Die Nase funktioniert, ich ramme sie dem Hauptdarsteller in seinen behaarten Arsch.
Um halb zwölf trage ich einen Stapel frisch gewaschener Hemden für die Nachmittagsvorstellung aus der hauseigenen Reinigung in die Bügelkammer. Pinocchio, das ultimative Erfolgsmusical für Kinder ab sechs, hat gerade Pause. Der Weg aus der Reinigung in die Bügelkammer führt durch das Pausenfoyer. Ich wate durch eine Sintflut von hysterischen Kleinkindern, die an belegten Broten nagen und mit Keksen um sich werfen. Ich verheddere mich in einem Kleinkind, der Stapel rutscht mir aus der Hand, die Hemden sind hinüber. Ich nehme das Kleinkind und stopfte ihm sein belegtes Brot tief in den Rachen. Das Kleinkind röchelt, es läuft blau an und stirbt unter schrecklichen Zuckungen auf dem Boden des Pausenfoyers.
Um zwei schlitze ich einen Klarinettisten auf und stranguliere ihn mit seinem eigenen Dünndarm.
Um drei beiße ich einer Sängerin die Halsschlagader durch.
Um vier habe ich eine Handvoll Bühnentechniker auf originelle Weise zu Tode gefoltert.
Zwischen fünf und sechs stirbt so mancher.
Um sieben ist meine Schicht vorbei, und ich sitze wieder im Bus. Die Garderobierin neben mir verblutet an einer faustgroßen Wunde in ihrem Hinterkopf.
Gewalt ist keine Lösung.
Gewalt ist das Rätsel.
Die Lösung bin ich.
»Und jetzt«, sage ich zu Doktor Klupp, »erklären Sie einer dummen alten Frau, wofür PTBS steht.«