Feinschlägiger Intentionstremor, um die dreizehn Hertz. Prinzip Libellenflügel, Prinzip Vibrator. Erschwert zielgerichtete Handlungen aller Art, macht sie aber nicht unmöglich. Kommt immer zum Einsatz, wenn ich keine Lust habe, mir bei einer zielgerichteten Handlung helfen zu lassen, weil es keine Pflegeminuten einbringt. Rauchen zum Beispiel, das werde ich gleich tun. Oder die Tür zuziehen, das tue ich gerade.
Ich ziehe mit feinschlägigem Zittern die Zimmertür hinter mir zu. Das Letzte, was ich sehe, ist Marlen, die sich von Raoul oder Paul aus dem Bett helfen lässt. Ihre nackten Arme umschlingen seinen schmalen Oberkörper, das Rot ihrer Nägel taucht in sein verschwitztes weißes T-Shirt wie Blut in Milch.
Das ist das Letzte, was ich sehe.
Das Letzte, was ich höre, ist Marlen, die zu Raoul oder Paul sagt, dass er ab jetzt mit seinem Leben spielt. Dass sein Leben ab jetzt so gut wie verwirkt ist, wenn er es auch nur ein einziges Mal wagt. Was, das sagt sie nicht.
Ich schließe die Tür.
Sie wird ihn fertigmachen.
Irgendwo weint eine Mutter Blut statt Tränen.
Knack. 07:29. Jaja, ich weiß: bin spät dran heute.
Das Miststück am Ende des Gangs knackt mahnend. Um diese Zeit habe ich normalerweise schon die ganze Strecke hinter mir. Von Zimmer eins bis Zimmer fünf sind es knapp dreißig Meter. Dreißig Meter glatter PVC-Boden auf einem schlecht beleuchteten Gang: Ich weiß nicht, ob Sie wissen, was das für eine gebrechliche alte Frau bedeutet, aber ich befürchte, Sie haben keine Ahnung, also lassen wir das.
Auf jeden Fall bin ich um 07:29 normalerweise schon längst bei Zimmer fünf angekommen und habe an die Tür geklopft. Ich habe das Codewort gesagt und bin durch die von innen geöffnete Tür gegangen. Jetzt sitze ich normalerweise schon seit ein paar Minuten auf einem Stapel alter Zeitungen und inhaliere tief. Die erste Zigarette des Tages, die erste seit der letzten, ich rauche sie immer so gegen 03:30, nach der nächtlichen Thunfischaktion, am geöffneten Fenster von Zimmer Nummer eins, aus dem ich mich lebensgefährlich weit hinausbeuge wie Frau Holle kurz vorm Suizid.
Brandmelder.
Sie sind überall. Wie die Kalender und die Uhren, also glaub nur nicht, dass du hier irgendwo in Ruhe rauchen kannst. Glaub nur nicht, dass du hier irgendwo in Ruhe Feuer legen kannst. Außer im Raucherzimmer, klar, aber das ist fünf Stockwerke tiefer, ein Kellerloch. Die Tür ist verschlossen, den Schlüssel hat Schwester Terese, du musst sie darum bitten.
Schwester Terese um etwas bitten: Das solltest du besser lassen.
Das Raucherzimmer fällt also flach, bleibt nur noch Zimmer Nummer fünf. Brandmelder kaputt, und das seit Jahren. Nicht durchgehend, aber immer wieder, alle paar Tage wieder für ein paar Wochen, der Elektriker lässt sich Zeit, und wenn er dann endlich da ist, sagt er jedes Mal: »Vielleicht ein Produktfehler am Endgerät, vielleicht Sabotage, wer weiß.«
Wer weiß.
Auf jeden Fall rauche ich seit meinem zweiten Tag in der RESIDENZ jeden Morgen auf Zimmer Nummer fünf drei Zigaretten, heute werden es nur zwei sein, wenn überhaupt.
Frühstück ist um knack 08:00. Wer bis knack 07:55 nicht auf seinem Platz im Speisesaal sitzt, bekommt es mit Schwester Terese zu tun, jetzt aber nichts wie los.
Oder doch nicht.
Ich überlege.
Dreißig Meter, der Gang ist leer. Keiner da, keiner sieht mich, ich könnte jetzt einfach ganz normal gehen. Wenn ich ganz normal gehe, brauche ich nicht länger als fünfzehn Sekunden und erhöhe damit die Zigarettenration von zwei auf drei. Ein guter Plan, und wie jeder gute Plan hat er einen Haken. Der Haken heißt Karlotta.
»Normal gehen ist verboten«, hat sie gesagt bei der Stabsbesprechung, »schließlich sind wir vier gebrechliche alte Frauen. Die Simulation muss lückenlos sein, absolut lückenlos. Egal, ob uns jemand sieht oder nicht, egal, ob wir unter Leuten sind oder allein, wir dürfen uns keine Blöße geben. Motto: Trau keinem, auch wenn keiner da ist.«
Ich überlege, was schlimmer ist: Nikotinunterversorgung oder dabei erwischt werden, wie ich jedem traue, der gar nicht da ist. Erwischt von Karlotta, die vielleicht gleich mit ihrem Rollator aus Zimmer zwei herausstürmt wie Spartakus mit seinem Kampfwagen.
Ich schlurfe los.
Für die ersten fünf Meter von Zimmer eins zu Zimmer zwei brauche ich die erste Ewigkeit. Meine Schritte sind winzig und schleppend, eigentlich sind es gar keine Schritte, weil ich die Füße kaum hebe beim Gehen. Ich schleife sie über den PVC-Boden wie zwei nasse Säcke, gefüllt mit ertränkten Katzenbabys. Meine rechte Hand umklammert den Stock, mein linker Arm hängt an mir herunter wie der tote Ast, an den sich die Katzenbabys geklammert hätten, wenn sie nicht in dem Sack eingesperrt gewesen wären.
Mein Rücken: ein osteoporotischer Buckel.
Mein Kopf: ein Korken im Flaschenhals.
Karlotta behauptet, dass ich immer schamlos übertreibe mit meiner Version von einer gebrechlichen alten Frau. Sie behauptet, dass ich gar nicht aussehe wie eine gebrechliche alte Frau, sondern wie Quasimodo, Glöckner in Rente.
Mag sein.
Mir egal.
Dezenz ist Schwäche.
Die Gummikappe am Stockende saugt sich bei jedem Aufsetzen kurz am Boden fest, dann löst sie sich wieder mit diesem unschönen Geräusch, das mich immer an ein Schmatzen erinnert, nur ohne a.
Schmtz, schlurf, schmtz, schlurf.
Kirschblüte und Magnolie. Ich bleibe stehen. Der Lufterfrischer klemmt neben Zimmer zwei in einer Halterung, ich richte mich ein kleines Stück auf und atme tief durch. Alle paar Meter Pause machen und tief durchatmen, so macht man das als gebrechliche alte Frau. Auf dem Lufterfrischer steht: Frühlingserwachen. Auf dem Namensschild an der Tür steht:
Suzanna Otte.
Karlotta Könick.
Neben Suzannas Name klebt die Zeichnung von einem Wal, neben Karlottas Name die Zeichnung von etwas, das wie ein Marder aussieht, vielleicht ist es auch ein Frettchen. Die Zeichnungen sind Kopien aus einem Buch mit Malvorlagen für Kinder im Vorschulalter. Großformat, zweihundert Seiten. Ein richtiger Wälzer wenn man bedenkt, wie klein die meisten Leute im Vorschulalter noch sind. Wenn du mit fünf anfängst, das Zeug bunt auszumalen, kannst du nach der letzten Seite direkt ins Gymnasium einsteigen.
»Bitte blättern Sie das in Ruhe durch«, hat Schwester Olga zu uns gesagt, am ersten Tag, und dass sich jede von uns ein Tier aussuchen soll, mit dem sie sich identifizieren kann.
»Türschilder«, hat sie gesagt und matt gelächelt. »Sieht einfach netter aus.«
Karlotta hat den Wälzer geöffnet und zielsicher auf einen Tiger gezeigt, der gerade die Zähne fletscht. Neben dem Tiger war ein roter Punkt.
»Die Tiere mit dem roten Punkt«, hat Schwester Olga gesagt, »die können Sie nicht mehr nehmen. Die sind schon vergeben.«
Na ja, da war dann nicht mehr viel da zum Identifizieren. Also rein qualitativ betrachtet.
Der Löwe: vergeben.
Der Adler: vergeben.
Delphin, Pandabär, Pony, alles vergeben, sogar die Kuh war schon weg, und irgendjemand hat sich allen Ernstes mit einem Karpfen identifiziert, aber das war wahrscheinlich auch nur aus Not und gar keine schlechte Wahl verglichen mit dem, was sonst noch so übrig war.
Esel.
Ratte.
Hyäne.
Die Schlange war auch noch frei, und Marlen hat zugeschlagen. Karlotta wollte unbedingt ein Raubtier, natürlich alle vergeben, wahrscheinlich alle an männliche Heimbewohner. Als Mann identifizierst du dich ganz gerne mit einem Tiger oder einem Leoparden, auch wenn du halbblind bist und im Rollstuhl sitzt. Dann ist Karlotta auf dieses komische frettchenartige Vieh gestoßen und hat sich damit identifiziert. Ist ja schließlich auch ein Raubtier, so ein Frettchen, hat sie gesagt.
Mir war egal, womit ich mich identifiziere. Ich habe auf das erstbeste Bild ohne roten Punkt getippt, seitdem klebt ein Regenwurm neben meinem Namen.
Später hat mir Schwester Cornelia erklärt, dass die Türschilder nichts mit nett zu tun haben und für die desorientierten Bewohner sind, damit sie ihre Zimmer finden. »Entdecke das Tier in dir«, hat Schwester Cornelia gesagt und auf ihre komische grunzende Weise gelacht, und da habe ich sie gefragt, warum sich eigentlich alle solche Bilder an die Tür kleben müssen, auch die, die gar nicht desorientiert sind. »Früher oder später«, hat Schwester Cornelia gesagt und den Satz nicht beendet.
Kirschblüte und Magnolie, schon komisch: Irgendwo auf dieser Welt sitzen Leute und beschließen, dass der Frühling nach Kirschblüte und Magnolie riecht. Dann basteln sie einen Lufterfrischer mit dem Namen Frühlingserwachen, und du weißt nicht so recht, was du davon halten sollst, weil der Lufterfrischer gar nicht nach Kirschblüte und Magnolie riecht, sondern nach Lufterfrischer.
Der Regler für die Dauerbeduftung ist auf Stufe zwei gestellt. Ich schiebe den Regler auf zehn, damit der Frühling so richtig erwachen kann, und schlurfe weiter.
Die zweite Ewigkeit dauert von Zimmer zwei zu Zimmer drei. Auf dem Weg schleppe ich mich an einem Bauernkalender vorbei, der mir sagt, dass wir heute Dienstag, den 16. August haben. Das hat er mir gestern auch gesagt, und es ist auch heute wieder gut zu wissen, wie das so ist mit dem Heiligen Rochus.
Wenn Sankt Rochus trübe schaut, schießt die Raupe in das Kraut.
Wirklich gut zu wissen.
Lavendel und Kamille. Vor der Tür von Zimmer Nummer drei bleibe ich stehen und atme tief durch. Auf dem Lufterfrischer steht: Wohlfühltraum. Auf der Zimmertür steht:
Anna Sonne.
Waltraud Schnalke.
Frau Schnalke identifiziert sich mit einer Katze, Frau Sonne mit einem Vogel, Typ Wellensittich.
Nun ja, ich meine, man kann sich hier nicht aussuchen, mit wem man zusammenwohnt, das entscheidet die Heimleitung, und ich wohne ja schließlich auch mit einer Schlange und einem Schmetterling zusammen, was für einen Regenwurm ziemlich ungewöhnlich ist. Ungewöhnlich, aber nicht lebensgefährlich.
Unter den Namen von Frau Schnalke hat jemand einen schmalen Streifen Papier geklebt, das war Frau Schnalke selbst, nehme ich zumindest an. Auf dem Streifen steht in Großbuchstaben:
Attila Schnalke.
Ich weiß nicht, mit welchem Tier sich der Lebenspartner von Frau Schnalke identifizieren würde, wenn er die Wahl hätte. Wahrscheinlich mit keinem, weil das Buch mit den Malvorlagen nicht das richtige Buch ist.
Man nehme: Der Zoo des Grauens.
Man nehme: Des Teufels Tiergarten.
Von Natur aus ist Attila Schnalke ein Kater, aber es gibt ja sowas wie eine zweite Natur, also die Art und Weise, wie du dich im Laufe deines Lebens entwickelst und was du so machst aus dir, und da kann es schon vorkommen, dass du dich sehr weit von deiner ersten Natur entfernst und die zweite alles überlagert.
Attila Schnalke. Erste Natur: Kater. Zweite Natur: Basilisk.
Frau Schnalke füttert ihn ständig mit rohen Innereien, die sie in einem Plastikbeutel mit sich herumschleppt. Hühnerleber, Kalbsniere, Schweinslunge. Sie verfüttert die Herzen kleiner Lämmer an ihn und die Thymusdrüsen unschuldiger Kälber. Wenn Attila sein Basiliskenmaul öffnet und dich anfaucht, was er ständig tut, bekommst du eine Ahnung von der tieferen Bedeutung des Wortes Pesthauch.
Kratzbaum. Rascheltunnel. Buddelbox.
Zimmer Nummer drei ist voll mit seltsamen Dingen, die zur Unterhaltung von Attila beitragen. Sein Lieblingsspielzeug ist eine zerfledderte Plüschmaus, die er mehrmals täglich totbeißt, und natürlich der Wellensittich, Frau Anna Sonne.
Haustiere, hat mir Schwester Cornelia erklärt, sind laut Heimordnung eigentlich verboten, aber erstens ist Attila kein Haustier, sondern ein Lebenspartner, und wenn Frau Sonne sich nicht wehrt, dann ist das ihr Problem.
Und zweitens?, habe ich gesagt.
Zweitens ist Frau Schnalke für die RESIDENZ unersetzlich, weil sie gewisse Aufgaben übernimmt. »Fragen Sie jetzt nicht, welche, Frau Block«, hat Schwester Cornelia gesagt, »Sie werden da schon noch selbst draufkommen, früher oder später.«
Schon komisch: Irgendwo auf dieser Welt sitzen Leute und beschließen, dass du bei Lavendel und Kamille wohlige Träume hast. Dann basteln sie einen Lufterfrischer mit dem Namen Wohlfühltraum. Und wonach riecht er? Genau.
Ich schiebe den Regler von zwei auf zehn, die Uhr sagt knack, 07:32, ich bin jetzt seit drei Minuten unterwegs, inklusive Verschnaufpausen. Fünfzehn Meter in drei Minuten, gar nicht schlecht für eine gebrechliche alte Frau, das kann sich sehen lassen, nichts wie weiter.
Schmtz, schlurf, schmtz, schlurf, ich drehe den Kopf nach rechts, um zu sehen, ob er noch immer da hängt, und da hängt er, der zweite Kalender. Diesmal nicht für uns Freunde der Bauernregeln, sondern für uns Freunde der Lebensweisheiten. Irgendeine gute Seele hat das Kalenderblatt von gestern abgerissen, wahrscheinlich Schwester Olga in ihrer einzigen freien Sekunde während der Nachtschicht.
Mittwoch, 17. August.
Rede wenig, rede wahr, trinke mäßig, zahle bar.
Das mit dem 17. August stimmt, über den Rest muss ich noch nachdenken.
Schmtz, schlurf, schmtz, schlurf, Moschus und Patschuli, ich kann es riechen. Der einzige Lufterfrischer auf dem ganzen Gang, der nicht nach sich selbst riecht, sondern nach dem, was irgendwelche Leute beschlossen haben, heißt Sinneslust. Ich halte wie jeden Morgen an dieser Stelle die Luft an, statt durchzuatmen. Nur Attilas Mundgeruch ist schlimmer als die sinnliche Kombination von Moschus und Patschuli.
Zimmer Nummer vier:
Professor Sebastian Knabe. Löwe.
Diplomingenieur Kurt Schwochow. Panther.
So viel dazu.
Ich atme flach und schiebe den Regler von Sinneslust auf zehn, dann nichts wie weg, denke ich, die Tür öffnet sich mit einem Ruck, ich lasse vor Schreck den Stock los und mache einen Satz zur Seite.
Von wegen gebrechlich.
Von wegen Regenwurm.
Nennt mich Laubfrosch, nennt mich Springmaus, sagt Flip zu mir!
Der Professor sagt nichts. Er steht im Türrahmen und starrt mich entgeistert an.
Verdammt, erwischt.
Würde ich jetzt sagen, wenn ich nicht wüsste, dass es den Professor einen Dreck interessiert, ob ich eine Springmaus bin, die so tut, als sei sie eine gebrechliche alte Frau, oder eine gebrechliche alte Frau, die so tut, als sei sie Flip, der Grashüpfer aus Biene Maja.
Der Professor. So nennen ihn alle in der RESIDENZ, nur Schwester Olga sagt artig »Herr Professor Knabe«.
Der Professor starrt mich ein paar Sekunden an, dann runzelt er die Stirn.
»Bin spät dran«, sagt er und zeigt auf die Uhr.
»Bin spät dran«, sagt er und zeigt auf die Uhr.
»Bin spät dran«, sagt er und zeigt auf die Uhr.
»Bin spät …«
»Professor!« Ich klatsche in die Hände, er starrt mich an. »Sie sind spät dran«, sage ich. Er runzelt die Stirn.
»Frau Kollegin Block, ich habe jetzt keine Zeit für Sie, und wenn Sie mich in irgendeiner unwichtigen Angelegenheit sprechen wollen, wovon ich ausgehe, dann vereinbaren Sie doch bitte einen Termin mit meiner Sekretärin und besprechen Sie das mit ihr. Ansonsten erwarte ich Sie wie immer um neun in der Bibliothek.«
»Jawohl, Professor«, sage ich, »sehr gerne.«
Er nickt und streift die Krawatte glatt.
Er nickt und streift die Krawatte glatt.
Er nickt und streift die Krawatte glatt, ich klatsche in die Hände, er stürmt aus dem Zimmer an mir vorbei und den Gang hinunter, hoffentlich schafft er es ohne Hänger bis in den Speisesaal.
Ich bücke mich und hebe den Stock auf, das dauert eine Sekunde. Ich gehe zwei Schritte zur aufgerissenen Zimmertür und schließe sie, das dauert zwei Sekunden. Ich gehe mit zügigen Schritten die letzten Meter bis zu Zimmer fünf, meine rechte Hand schwenkt den Stock, mein linker Arm bewegt sich schlenkernd vor und zurück.
Karlottas Ansage: Trau keinem, auch wenn keiner da ist.
Gegenvorschlag: Trau jedem, der irgendwo sein könnte.
Ich stehe vor Zimmer Nummer fünf, Bratapfel und Zimt, Winterzauber. Ich klopfe an die Tür, oder doch nicht. Etwas ist anders heute. Etwas stimmt nicht, ich starre auf die Tür.
Renate Wimmer. Eichhörnchen.
Augusta von Lauenthal. Schildkröte.
Da fehlt einer. Ein Name. Und die Schwalbe ist auch weg, mit der sich Frau Kropp identifiziert hat. Jemand hat die kopierte Malvorlage abgenommen, ziemlich schlampig übrigens, ein kleiner Fetzen Schwalbe klebt noch an der Tür, ich berühre die Schwanzfeder mit dem Zeigefinger.
Davongeflogen.
Konstanze Kropp, 89, hat ihr Köfferchen gepackt und ist davongeflogen. Nach Hause, und das ist gut so. Sie wird nie mehr die Nachtschwester nerven, weil der Ausschlag wieder so juckt. Sie wird nie mehr die Hände zerkratzen, die sie eincremen.
Rote Punkte. Grüne Punkte.
Beim Durchblättern damals habe ich zu Schwester Olga gesagt, dass ich das sehr erfreulich finde mit den grünen Punkten. Viele Bilder in dem Buch mit den Malvorlagen sind mit einem roten Punkt markiert und darunter mit einem grünen, bei manchen ist es eine ganze Kette von Punkten, immer abwechselnd rot und grün.
Rot: schon vergeben.
Grün: wieder frei.
Sehr erfreulich, habe ich gesagt, dass es Leute gibt, die nicht für immer in der RESIDENZ bleiben. Leute, die sich von Pflegestufe zwei wieder hinuntergearbeitet haben zu Pflegestufe eins oder zu gar keiner.
Suppe löffeln, Treppen steigen, aufs Klo gehen – du schaffst das jetzt alles wieder ohne Hilfe und kannst nach Hause gehen. Du packst deine paar Sachen in einen kleinen Rollkoffer und bittest eine von den Schwestern, dir ein Taxi zu bestellen. Dann verabschiedest du dich von der Schildkröte und dem Eichhörnchen, mit denen du ein paar Monate oder Jahre zusammengelebt hast, und fährst heim. In deine Wohnung. Oder in das Haus von deinem Sohn, er lebt dort mit deiner Schwiegertochter und deinen Enkeln, sie haben alle gemeinsam ein Zimmer für dich freigeräumt, mit Blick auf den Garten. Jetzt sitzt du im Taxi oder im familienfreundlichen Kombi deines Sohns, es ist ein herrlicher Sommertag, du beugst dich aus dem Fenster, und da fliegt sie, deine Schwalbe. Sie fliegt zurück in das Malbuch, wo sie einen grünen Punkt bekommt, damit sich jemand anderer mit ihr identifizieren kann.
Das ist schön, habe ich zu Schwester Olga gesagt, dass es Leute gibt, die wieder heimgehen.
»Ja«, hat sie gesagt und matt gelächelt. »So kann man es auch nennen: heimgehen.«
Ich klopfe an die Tür von Zimmer Nummer fünf, dreimal. Dann sage ich laut das Codewort.
Ein trockenes Husten, Schritte. Schmtz, schlurf, schmtz, schlurf. Die Tür öffnet sich von innen, aber nur einen schmalen Spalt, zum Glück bin ich ein Regenwurm, ich schlängle mich durch den Spalt, davor schiebe ich noch schnell den Regler von Winterzauber auf zehn.
Schon komisch: Irgendwo auf der Welt sitzen Leute und basteln ungestraft Lufterfrischer aus Chemikalien, die ab einer gewissen Konzentration krebserregend sind.