7

Ein Rasenmäher ist nur ein Rasenmäher, aber in den falschen Händen kann er zur tödlichen Waffe werden. Der Mann im grünen Overall hat solche Hände. Jetzt schiebt er wie jeden Montag, Mittwoch und Freitag den Rasenmäher durch die Grünanlage der RESIDENZ und tötet alles, was lebt und höher ist als drei Millimeter.

Gänseblümchen zum Beispiel, frisch aus dem Boden geschlüpft. Rübe ab!

Oder Klee. Wenn du ein kleiner Klee bist, dann erwischt dich der Rasenmäher dort, wo bei uns Menschen die Weichteile sind. Zack!

Marienkäfer: vier Millimeter. Er wird nie wieder Glück bringen.

Raupe: drei Komma fünf Millimeter. Sie wird nie ein Schmetterling werden.

Und jetzt stellen wir uns die Nasenspitze eines sympathischen Maulwurfs vor, der gerade ein bisschen frische Luft schnappen will.

Ist das nicht schrecklich?

Nein?

Ist Ihnen egal?

Mir auch.

Früher war mir das auch egal, aber seit ich mich mit einem Regenwurm identifiziere, sehe ich die Welt aus einer ganz neuen Perspektive.

Regenwürmer sind knapp drei Millimeter hoch, ich bin einer von den wenigen Überlebenden, und das aus Zufall. Weil ich zufällig nicht als Marienkäfer oder Gänseblümchen geboren worden bin. Weil ich zufällig nicht als Nasenspitze eines Maulwurfs zur Welt gekommen bin.

Sowas macht nachdenklich.

Sie auch?

Das freut mich.

Der Mann im grünen Overall mäht den Rasen systematisch von außen nach innen, die Grünanlage der RESIDENZ ist kreisförmig, in der Mitte ein graues Rechteck mit roter Umrandung. Vierzig Quadratmeter Beton, eingezäunt. Auf dem Beton steht ein Klettergerüst, der Zaun ist zwei Meter hoch und rot gestrichen. Könnte ein Kinderspielplatz sein. So einer, wie ihn Leute planen und bauen, die keine Kinder mögen.

Seniorenbewegungsanlage.

Hat der Hilfspfleger zu mir gesagt. So nennt es der Heimleiter, manchmal sagt der Heimleiter auch Seniorenaktivitätenplatz, alle anderen sagen Der Käfig.

Das hat der Hilfspfleger letzte Woche zu mir gesagt, an meinem zweiten Morgen in der RESIDENZ, es war meine erste Begegnung mit dem Hilfspfleger. Meine erste Erfahrung damit, wie es ist, ein altes Auto zu sein.

Die Welt ist kein besonders magischer Ort, aber wenn du kurz davor bist, sie wieder zu verlassen, und du gehst für die letzten paar Jahre in ein Altenheim, dann kommst du aus den wundersamen Verwandlungen gar nicht mehr heraus.

Grashüpfer, Regenwurm, Auto.

Drei Millimeter. Verdammt kurz, wenn Sie mich fragen. Wollen Sie wissen, warum?

»Äh«, sagt Doktor Klupp und rückt seine Brille zurecht.

Seit ich ihn dabei erwischt habe, dass er mich für plemplem hält, ist er nicht mehr ganz bei der Sache. Ich glaube, er denkt darüber nach, wie er mein Vertrauen zurückgewinnen kann, damit ich ihm endlich sage, wovon ich nichts weiß, weil ich mich nicht daran erinnern kann.

Die Sache mit der Schuld: interessant.

Die assoziative Verknüpfung von Schuld, Erlösung und Schlaf: sehr interessant.

Wollen Sie darüber sprechen?

»Äh«, sage ich, »ist immer eine gute Antwort, aber manchmal nicht gut genug. Also: Wollen Sie oder wollen Sie nicht wissen, warum der Rasen vor der RESIDENZ nur drei Millimeter hoch ist?«

»Ja«, sagt er und fummelt an seiner Brille. »Spannend.«

Lügner.

»Na gut, wenn Sie wollen«, sage ich. »Dann sind wir jetzt sportlich und springen kurz zurück zu meinem zweiten Morgen in der RESIDENZ

»In Ordnung«, sagt er gequält.

Sport, Zeitsprünge. Nicht jeder mag das.

»Mögen Sie Autos?«, sage ich zum Hilfspfleger. Auf seinem Kittel ist ein Namensschild befestigt: R. Rudolph.

R. Rudolph fährt mich seit vier Pflegeminuten schweigend durch die Waschstraße, in der Mitte war es ein bisschen unangenehm, aber nur wegen der Latexhandschuhe, sonst nicht. Ich bin nur ein altes Auto, das in der Mitte leck ist, also was soll’s.

»Ja«, sagt er. »Wieso?«

»Nur so«, sage ich.

Schon komisch: Altenpfleger sind Magier, und sie wissen es nicht. Sie sind begnadet und wissen es nicht.

Zwei Pflegeminuten später stehen wir am Fenster, unten im Garten knattert der Rasenmäher, R. Rudolph verstaut meine Hupen im BH. Wir machen das besser im Stehen, hat er gesagt, weil die Schwerkraft dann mithilft. Er schnallt mir den BH knapp unter den Brustwarzen um den Bauch, ich zeige mit mittelschlägigem Zittern aus dem Fenster und sage, dass sich der Rasen wirklich sehen lassen kann. Wirklich sehr gepflegt, der Rasen, sage ich.

Konversation. Immer einen Versuch wert.

R. Rudolph schiebt den BH wie einen Hula-Hoop-Reifen um meinen Bauch, bis die Behälter für die Hupen vorne liegen.

Er sagt: »Drei Millimeter.«

»Wie meinen?«, sage ich.

»Der Rasen«, sagt er und reißt den BH mit einem Ruck nach oben, »exakt drei Millimeter. Der Heimleiter will es so.«

Meine Hupen rutschen in den BH, aber nicht so gerne, hier und da hängt noch etwas heraus.

»Interessant«, sage ich. »Und warum?«

Er schüttelt den BH. »Wissen Sie, wie hoch der Rasen in einer normalen, gut gepflegten Grünanlage ist?«

»Nein.«

Er schüttelt. »Drei bis sechs Zentimeter.«

Der Rasen bei einem WM-Spiel: achtundzwanzig Millimeter.

Der Tennisrasen in Wimbledon: acht Millimeter.

Golfrasen: vier Millimeter.

»Golf?«, sage ich. »Wimbledon? Was genau meinen Sie mit Wimbledon, Herr Rudolph?«

»Sagen Sie Doppelrudi zu mir. Das machen alle so.«

»Doppelrudi?«

»Rudolf Rudolph. Mein voller Name. Deswegen Doppelrudi.«

»Kein Witz?«, sage ich.

»Weiß nicht. Fragen Sie meine Mutter.«

Dann hat mir Doppelrudi erklärt, wie das so ist mit der Grünanlage der RESIDENZ. Seitdem weiß ich, dass der Heimleiter eine Firma engagiert hat, die jeden Montag, Mittwoch und Freitag den Mann im grünen Overall schickt. Der Mann im grünen Overall kommt und hindert den Rasen daran, höher als drei Millimeter zu werden. Vorbild: Wimbledon. Vorbild: Golf. Außerdem hindert der Mann die Hecke rund um den Rasen daran, in den Rasen zu wuchern. Am Ende harkt er den schmalen Kiesweg, der über den Rasen zum Käfig führt, und poliert das Betreten-verboten-Schild auf dem Rasen.

Arschloch.

Sagt Doppelrudi und meint den Heimleiter. Defekte Betten, billige Inkontinenzeinlagen, Zwirn statt Zahnseide, aber dreimal die Woche Gartenpflege vom Feinsten.

Golf, sagt Doppelrudi und meint das Hobby vom Heimleiter. Wimbledon, sagt er und meint den Urlaub, den sich der Heimleiter jedes Jahr Ende Juni nimmt, für zwei Wochen. Dann fliegt er nach London zum Grand-Slam-Turnier, und kein Mensch weiß, woher er das Geld hat. Außer Doppelrudi natürlich, weil der hat nachgerechnet.

Für das Dameneinzelfinale im Centre Court bekommst du tausendfünfhundert Premium-Plus-Einwegwindeln.

Für das Herreneinzelfinale im Centre Court bekommst du tausend Rollen gewachste Zahnseide.

Wenn du dir alle Spiele vom ersten bis zum letzten anschaust, was der Heimleiter tut, dann bekommst du dafür fünfunddreißigtausend Windeln und zwanzigtausend Rollen Zahnseide.

»Und die Fußball-WM?«, sage ich. »Wie viele defekte Betten könnte man dafür reparieren lassen?«

»Keine Ahnung«, sagt Doppelrudi, »da geht das Arschloch nicht hin. Fußball auf achtundzwanzig Millimetern Rasenhöhe, das ist was für Proleten.«

Rollstuhlgymnastik.

Kontaktspiele.

Sitztanz.

Findet alles im Käfig statt, wenn Sommer ist, also laut Informationsbroschüre, rein theoretisch. Praktisch findet da gar nichts statt, weil der Heimleiter das nicht so gerne sieht, wenn irgendwelche Krüppelgreise sich in der Seniorenbewegungsanlage bewegen. Ruiniert nämlich den Gesamteindruck der Grünanlage, und früher oder später wird er den Käfig abreißen lassen und einen Buchsbaum hinstellen, den der Mann im grünen Overall dann zur Kugel verkrüppelt oder zum Kegel. Aber noch steht er, der Käfig, und jeden ersten Sonntag im Monat schließt der Heimleiter die rote Tür im roten Zaun auf, mit einem Schlüssel, den er so wenig aus der Hand gibt wie Schwester Terese den Schlüssel zum Raucherzimmer oder irgendeinen anderen Schlüssel an ihrem Schlüsselbund.

Den Schlüssel zum Medikamentenschrank.

Den Schlüssel zu ihrem Herzen.

Der Käfig ist immer verschlossen, außer am Tag der offenen Tür, den gibt es jeden ersten Sonntag im Monat. Der Heimleiter setzt ein paar von den Rollstuhlgreisen in den Käfig und lässt sie mit Bällen werfen. Das Betreten-verboten-Schild kommt weg, es wird gegrillt. Würstchen, Weißbrot, Kartoffelsalat. Irgendwelche Leute, die sich um die Zukunft ihrer Eltern Sorgen machen, bröseln Brot auf den Rasen. Sie lassen Mayonnaiseklumpen fallen oder angebissene Würstchen.

Sie stehen.

Auf dem Rasen.

Mit ihren breiten Tretern oder ihren hochhackigen Frauenschuhen.

Stilettoabsatz.

Schon das Wort schmerzt, sagt Doppelrudi, und dass der Heimleiter an jedem ersten Sonntag im Monat leidet wie ein Schwein. Wenn die letzten Besucher weg sind, meistens so gegen acht, rücken drei Männer im grünen Overall an und bessern die Schäden aus.

Transplantation.

Wissen Sie eigentlich, was das kostet, so eine Transplantation, sagt Doppelrudi und hilft mir in die Bluse. Ganze Rasenstücke schneiden die Männer im grünen Overall heraus, weil irgendein Besucher, der seine Mutti oder seinen Papi in der RESIDENZ verstauen will, den Rasen von drei auf null Millimeter plattgewalzt hat beim Stehen, einen Pappbecher mit Cola in der Hand.

Fuchspisse.

Sagt Doppelrudi, und ob mir eigentlich klar ist, was ein einziger verschütteter Pappbecher Cola für einen Dreimillimeterrasen bedeutet. Bedeutet nämlich Fuchspisse. Hat nämlich genau denselben Effekt wie die Fuchspisse, gegen die die Rasenwarte in Wimbledon jedes Jahr mehr oder weniger erfolglos ankämpfen. Wo ein Fuchs hinpisst oder ein Viertelliter Cola verschüttet wird, da wächst kein Halm mehr. Da ist nichts mehr zu retten, du kannst die Stelle nur noch herausschneiden wie einen Hautfleck mit Karzinom, und genau das machen die Männer im grünen Overall auch, nach jedem Tag der offenen Tür. Dann verschließen sie die Wunden im Rasen mit krebsfreien Rasenstücken, die sie stapelweise im Kleinlastwagen mitbringen.

Doppelrudi zieht einen Kamm aus der Hosentasche und zupft mit seiner Latexhand ein paar graue Haare heraus. Eine ganze Menge Haare, um genau zu sein, ich starre auf den Kamm.

Kann sein, er will mich damit frisieren.

Kann sein, er wird es gleich tun. So oder so, womöglich beides, fest steht: Die grauen Haaren sind nicht von mir. Sie sind von irgendjemandem. Von irgendeiner Frau im ersten Stock zum Beispiel. Vielleicht ist sie dement oder hat Schuppen, und alles an ihrem Kopf rieselt weiß wie die Schuppen oder rot wie der Wahnsinn. Vielleicht sind die Haare auch von irgendeinem Mann im zweiten Stock. Er hat eine Glatze, aber dafür eine ganze Menge Brusthaar.

»Jedes Mal, wenn die Typen mit ihren Grasflecken anrücken, muss ich an Frau Kropp denken«, sagt Doppelrudi zupfend und mit einer Stimme, die plötzlich sehr traurig klingt. »Konstanze … Frau Kropp könnte eine Transplantation gut gebrauchen. Alle sagen ihr, dass es nur ein Ausschlag ist, dabei ist es Hautkrebs. Vor allem hier«, er hört mit dem Zupfen auf und berührt die Haut an meinem Hals, »und hier«, er berührt die Haut auf meiner Stirn, »und hier und hier«, rechte Wange, linke Wange, »außerdem hier und …« Doppelrudi tippt auf mir herum wie ein Medizinstudent, der bei einer Prüfung zeigen soll, wo der Mensch überall Haut hat. Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist mit der Transplantation bei Frau Kropp. Außerdem weiß ich nicht, was so schlimm sein soll an flächendeckendem Krebs auf so einer alten Haut, ich meine: Die Frau ist 89. Mit 89 muss sich keiner mehr Sorgen machen, ob er bald an Hautkrebs stirbt oder nicht, weil er sowieso bald tot sein wird.

»Das sagen Sie besser nicht«, wird Schwester Cornelia zu mir sagen später am Tag, »nicht zu Doppelrudi.« Dann wird sie mir erklären, dass Doppelrudi ein sehr inniges Verhältnis zur alten Kropp hat, weil sie der einzige Mensch im Heim ist, der Doppelrudi nicht Doppelrudi nennt. Vielleicht der einzige Mensch überhaupt.

»Und wie nennt sie ihn dann? Rudolf? Rudi? Dolfi?«

»Würde Frau Kropp nie machen«, wird Schwester Cornelia sagen, »Doppelrudi mag seinen Namen nicht, in keiner Version.«

»Und wie dann?«

»Das weiß niemand. Sie flüstern immer, wenn sie zusammen sind. Bei der Morgenpflege, beim Eincremen, beim Rundendrehen in der Grünanlage. Sie gehen immer Arm in Arm, er flüstert ihr Sachen direkt ins Ohr, weil sie schon ziemlich taub ist und kein Hörgerät tragen will, aber wahrscheinlich versteht sie trotzdem nicht, was er da flüstert, und dann flüstert sie ihm etwas zurück, auch direkt ins Ohr, und er lächelt.«

Seinen Namen.

Sie flüstert seinen Namen. Den einzig richtigen.

Doppelrudi seufzt und hebt den Kamm, gleich wird er mir damit einen Scheitel ziehen, ich reiße meinen rechten Arm hoch, Doppelrudi geht in Deckung, zu spät. Ich schlage ihm mit zirka vier Hertz (grobschlägiger Tremor) den Kamm aus der Hand.

»Tschuldigung«, sage ich.

»Macht nichts.« Doppelrudi bückt sich nach dem Kamm.

Die Verzögerungstaktik war erfolgreich, jetzt brauche ich dringend ein solides Ablenkungsmanöver.

Doppelrudi hebt den Kamm auf und streift ihn an seinem Kittel ab, ich zeige mit mittelschlägigem Tremor aus dem Fenster und sage: »Wer ist eigentlich der nackte Mann, der da gerade über den Zaun in den Käfig klettert?«