Früher war das ganz normal. Nicht bei uns, aber bei den Eskimos zum Beispiel oder bei den Indianern. Ganz normal, und keiner hat sich beschwert, bis dann die ersten Weißen gekommen sind. Sie sind nach Grönland gefahren oder in die kanadischen Wälder und haben alles zunichtegemacht. Eine jahrtausendealte Tradition: einfach ausgelöscht.
Weiße Missionare.
Christen.
Oder Humanisten, man weiß nicht, welche schlimmer waren, da streiten sich die Forscher bis heute. Sicher ist nur, dass die rituelle Altentötung eine ganz normale Sache war, zum Beispiel bei den Inuit in Ostgrönland. Die haben ihre gehbehinderten oder bettlägerigen Senioren an Stricken aus den Iglus geschleift und zum Meeresufer gezogen. Dort haben sie die Senioren mit Steinen beschwert und versenkt.
Oder die Polar-Inuit: Bei denen war es jahrtausendelang üblich, die Alten nicht aus dem Iglu zu schleifen, sondern im Iglu einzumauern. Ohne Wasser und Nahrung, versteht sich.
Und die Eskimosenioren waren mit allem einverstanden.
Einverstanden, ertränkt zu werden.
Einverstanden, lebendig begraben zu werden.
Das berichten viele Ethnologen und Feldforscher, zum Beispiel der berühmte Ethnologe und Feldforscher Knud Rasmussen. Ich zitiere:
»Wer für die Gemeinschaft nutzlos geworden ist, weil er aus Altersgründen nicht mehr jagen kann oder Kinder gebären, der betrachtet es als seine Pflicht, so schnell wie möglich zu sterben. Umgekehrt ist es die Pflicht der Jungen, die Alten so schnell wie möglich zu töten.«
Rasmussen spricht von Pflicht, aber was er meint, ist Würde.
Er meint Würde, aber woran er denkt, ist Liebe.
Die Liebe der Jungen zu den Alten.
Siehe auch: Thomson.
Der berühmte Ethnologe und Feldforscher Samuel Thomson hat monatelang bei den Chipewyans gelebt, einem Indianerstamm im mittleren Norden Kanadas. Dort betrachten es die alten Männer als letzten Liebesbeweis ihrer Kinder, wenn die Kinder sie erwürgen. Ich zitiere:
»Sobald ein Mann seinen Tomahawk nicht mehr mit ganzer Kraft heben kann, befiehlt er seinen Kindern, ihm aus Liebe ein Grab zu bauen. Die Kinder gehorchen und bauen das Grab, in das der alte Chipewyan dann leichten Schrittes hineingeht. Dort raucht er eine Pfeife und trinkt noch etwas, während er sich mit seinen Kindern unterhält. Wenn er dann bereit ist, wird ihm ein Strick um den Hals gelegt, an dem zwei Kinder, im Idealfall die Lieblingssöhne, aus entgegengesetzter Richtung ziehen, bis der Tod eingetreten ist. Dann wird das Grab geschlossen.«
Natürlicher Tod? Ob der überhaupt vorkommt bei den Indianern und Eskimos?
Klar. Kommt vor. Ist aber nicht gut, ich zitiere:
»Die Chipewyans glauben fest daran, dass jeder, der einfach nur an Altersschwäche stirbt, als Greis ins Totenreich eingeht. Wer aber rechtzeitig umgebracht wird, kommt als Jüngling dorthin.«
Altersblödheit.
Altersdepression.
Altenheime, voll mit senilen traurigen Leuten, die den Jungen die Haare vom Kopf fressen und selbst keinen Finger mehr rühren, das hat es alles nicht gegeben, früher, bei den Indianern und Eskimos.
Pflegestufe eins bis drei, Berge von Inkontinenzwindeln, ein Totenreich voller Greise – hat es alles nicht gegeben, bis dann die ersten weißen Humanisten gekommen sind und gesagt haben, dass sich das nicht gehört mit dem Erwürgen und Ertränken.
Gerontozid gehört sich nicht, haben sie gesagt, und das war vielleicht nett gemeint, aber es war nicht gut gedacht. Kein kluges Urteil. Nicht zukunftsorientiert, nicht ökonomisch.
Wir hätten uns ein Vorbild nehmen sollen an unseren rothäutigen Brüdern und eiskalten Mitmenschen vom Polar, wir warmherzigen Humanisten, aber wir haben es verkackt, damals, und jetzt ist die Kacke am Dampfen, wie man so sagt.
So sagt es die Ministerin übrigens nicht. Sinngemäß schon, aber wörtlich nicht. Wörtlich sagt die Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in das Mikrophon, das ihr irgendjemand unter die Nase hält: »Wir stehen vor einer ganz großen Herausforderung.«
Sie sagt: »Wir müssen uns der Herausforderung einer radikal alternden Gesellschaft stellen.«
Dann sagt sie, dass die Bürgerinnen und Bürger heute bis zu vierzig Jahre länger leben als noch vor hundert Jahren und dass wir dieser Entwicklung durch ein nachhaltiges ökonomischen Konzept der Ressourcenaktivierung gerecht werden müssen.
»Ältere Menschen«, sagt die Ministerin und lächelt in die Kamera, »dürfen nicht länger zu Renten- und Fürsorgeempfängern herabgewürdigt werden. Sie sind eine kostbare Ressource.«
Ich höre nicht hin. Nicht wirklich, nur nebenbei, und mit dem Hinsehen ist es wie mit dem Hinhören, nur nebenbei.
Fernsehen.
Wir machen das jeden Vormittag hier in der RESIDENZ, immer drei Stunden, von neun bis zwölf, dann schlurfen wir wieder in den Speisesaal, zum Mittagessen. Wenn man die drei Stunden zwischen Mittagessen und Kaffee dazurechnet, in denen wir auch fernsehen, dann sind das sechs Stunden täglich, und ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht bei der Vorstellung, täglich sechs Stunden vor der Glotze abzuhängen, aber ich finde die Vorstellung eigentlich ganz schön.
Schöne Vorstellung, weil Fernsehen kann schon Spaß machen, da gibt es eine ganze Menge Sendungen, die mir gefallen könnten. Zum Beispiel diese amerikanischen Serien mit den Gerichtsmedizinern, die ständig irgendwelche grausam verstümmelten Leichen aufschlitzen und dann aus dem Mageninhalt erkennen, wer der Mörder war.
Stattdessen:
Unser blauer Planet: Die Folgen des Klimawandels.
Einfach gesund: Yoga im Alltag.
Herzschlag heute: Am Puls der Politik.
An unserem ersten Vormittag in der RESIDENZ habe ich den ganzen Fernsehraum nach der Fernbedienung abgesucht, damit ich vom Puls der Politik auf die Leichenschlitzer umschalten kann. Da war übrigens auch gerade die Ministerin im Bild und hat lächelnd von der Leistungsbereitschaft älterer Bürgerinnen und Bürger geredet. Die Ministerin ist ständig im Bild die letzten Tage, wirklich ständig. Irgendein Reformprojekt. Irgendwas Zukunftsorientiertes, mit den Details rückt die Ministerin nicht heraus, und wenn jemand nach den Details fragt, dann sagt sie immer lächelnd: »Die Details erfahren Sie demnächst bei einer Pressekonferenz.«
Ich höre schon seit Tagen nicht mehr hin, nicht wirklich, nur nebenbei, und das mit der Fernbedienung habe ich aufgegeben. Gibt nämlich keine. Nicht in Fernsehraum vier, und in den anderen drei Fernsehräumen auch nicht.
»Krieg«, hat Schwester Cornelia gesagt. »Es war ein grausamer Krieg um die Fernbedienungen, solange es welche gegeben hat, weil jeder seinen ganz persönlichen Fernsehgeschmack durchsetzen wollte. Wir haben jahrelang darunter gelitten, wir vom Pflegepersonal. Wir waren die Kriegsopfer, genaugenommen, weil das ist schon hart, wenn man bei der vielen Arbeit auch noch alle zehn Minuten in allen Fernsehräumen nach dem Rechten sehen muss. Wenn man die alten Leutchen ständig daran hindern muss, sich die Nasen blutig zu schlagen wegen irgendwelcher Dokusoaps oder Kochshows.«
Dann ist der neue Heimleiter gekommen vor zwei Jahren, hat Schwester Cornelia gesagt, der mit dem Dreimillimeterrasen, und man kann ja über den Heimleiter sagen, was man will, zum Beispiel, dass er ein korruptes Arschloch ist, aber das mit den Fernbedienungen hat er gut gemacht. Er hat sie konfisziert. Ganz einfach. Seitdem läuft in jedem Fernsehraum genau ein Programm, seitdem herrscht Friede in den Fernsehräumen.
»Und was läuft da so bei den anderen?«, habe ich gefragt. »Überall dasselbe? Überall dieses Bildungsfernsehen ohne Werbung und ohne Filmpausen zwischen der Werbung, wie bei uns von Stockwerk vier?«
»Höhö! Filmpausen zwischen der Werbung! Der ist gut, Frau Block, wirklich gut!«, hat Schwester Cornelia gesagt und für einen Moment geklungen wie Schwochow.
Es gibt Witze, für die schämst du dich dein Leben lang. Nicht weil sie so besonders schlecht gewesen wären, sondern weil jemand auf eine bestimmte Weise darüber gelacht hat.
»Nein«, hat sie dann gesagt und war wieder ernst, »kein Bildungsfernsehen in den anderen Fernsehräumen, da laufen überall diese grässlichen amerikanischen Serien. Sie haben Glück gehabt, Frau Block.«
Ja, das habe ich. In gewisser Weise schon, weil ohne Bildungsfernsehen hätte ich nie angefangen, mich für Ethnologie zu interessieren. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass Ethnologie weniger langweilig sein könnte als der Klimawandel oder Yoga. Ich wäre nie mit dem Professor ins Gespräch gekommen.
Am dritten Tag in der RESIDENZ bin ich um genau 10:05 von meinem Plastikklappstuhl in der ersten Reihe aufgestanden und nach hinten zum Professor geschlurft.
Knack. 10:05.
Ich stehe von meinem Klappstuhl auf, im Fernsehen läuft Am Puls der Politik, die Ministerin sagt gerade, dass auch die Generation 60+ ihren Beitrag zum wirtschaftlichen Wohlstand leisten will und sich diskriminiert fühlt, wenn sie das nicht darf, und das ist ja schön, dass die Ministerin so genau weiß, was die Generation 60+ so fühlt, aber es hört ihr trotzdem keiner zu. Keiner außer mir, weil die anderen nämlich alle schlafen, wie immer.
Suzanna, Karlotta, Marlen und alle anderen von Stockwerk vier, sie schlafen oder dämmern vor sich hin, zusammengesunken auf ihren Klappstühlen. Nur Schwochow nicht, der turnt irgendwo draußen herum, und Frau Schnalke auch nicht, die steht draußen vor der Tür und bewacht den Fernsehraum. Wenn du aufs Klo gehst, dann schreibt sie das auf, und wenn du nach zehn Minuten nicht zurück bist, dann geht sie das melden.
Ich stehe auf und schiebe mich vorsichtig an Karlotta vorbei, die neben mir sitzt und schläft, dann an Suzanna, das ist gar nicht so leicht, ist ja nicht so viel Platz, wenn Suzanna sich einmal irgendwo breitgemacht hat.
Bei Marlen ist es leicht. Haut und Knochen, ich berühre nichts davon, ich will mich ja nicht aufschürfen, sie wacht trotzdem auf.
»Tschuldigung«, sage ich.
Sie sieht mich benommen an. »Wohin gehsdu?« Leichter Zungenschlag, dabei ist sie gar nicht betrunken.
Ungesüßter Kräutertee zum Frühstück: Davon wird dir vielleicht schlecht, aber du wirst nicht betrunken. Was die weißen Pillen betrifft, die wir immer bekommen: Die haben’s in sich.
»Zum Professor«, sage ich, »sehen, was er da eigentlich die ganze Zeit treibt, da hinten in der Ecke. Mir ist langweilig.«
Marlen braucht geschätzte zehn Sekunden, um zu verstehen, was ich da gerade gesagt habe.
»Is gud«, sagt sie. Dann hebt sie in Zeitlupe ihren Arm, fast so langsam wie die Gräfin, und zeigt auf den Bildschirm, wo die Ministerin gerade sagt, dass keiner, wirklich keiner aus der Generation 60+ diskriminiert werden darf, weil alle, wirklich alle ihren Beitrag leisten wollen.
»Blödekuh«, sagt Marlen.
»Ja«, sage ich, »wahrscheinlich.« Wahrscheinlich ist die Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend eine blöde Kuh, aber sie ist ja noch sehr jung. Anfang dreißig, würde ich sagen, und da kann man schon noch ein bisschen blöd sein, nicht wahr.
Nur blöd, wenn man mit dreißig schon Ministerin ist.
»Ich hassediese Frau«, sagt Marlen.
Na ja, das ist jetzt ein bisschen übertrieben. Muss man ja nicht hassen, die Frau, nur weil sie jung und blöd ist und trotzdem schon Ministerin.
»Doch!«, sagt Marlen, obwohl ich kein Wort gesagt, sondern alles nur gedacht habe. Total zugedröhnt die alte Hexe, aber Gedanken lesen kann sie immer noch.
»Dochdoch, weil die is gefährlich. Gefährlichefrau, sie will uns ferdigmachen. Bei der Pressekonferens wird sie uns ferdigmachen, die Blödekuh. Und er auch. Gefährlichermann.«
»Pressekonferenz?«, sage ich. »Was geht uns die Pressekonferenz der Ministerin an? Und was meinst du mit Sie will uns fertigmachen?«
Marlen seufzt.
»Wen meinst du mit gefährlicher Mann? Was redest du da?«
Marlen seufzt wieder und lässt den Arm sinken. Er fällt wie ein dürrer Ast in ihren Schoß, vom Herbstwind abgerissen. »Weiß nichd, alles so dunkel. Dunklezukunfd. Addila weiß es, aber er sagt nichds. Gibd mir kein Zeichen, der Scheißbasdard.«
Diese weißen Pillen, die wir immer zum Frühstück bekommen, das sind Vitamintabletten. Heißt es. Gelb, grün, blau, in jedem Schälchen ist eine bestimmte Kombination, aber die weißen sind immer dabei. Dragees, süßlicher Geschmack. Schwester Terese verteilt sie höchstpersönlich und achtet darauf, dass du sie auch schluckst.
Suzanna hat gleich erkannt, dass es keine Vitamintabletten sind, schon am ersten Tag.
»Die kenne ich«, hat sie gesagt. »Die haben wir im Hospiz auch immer verteilt, wenn die Leute hysterisch geworden sind oder fast verrückt, weil sie bald sterben müssen.«
Pruxal. Ein Neuroleptikum. Wirkt gegen Psychosen, wird gern als Beruhigungsmittel eingesetzt.
Müdemacher.
Schlappmacher.
Bravmacher.
»Sehr praktisch, die sedierende Nebenwirkung von Pruxal«, hat Suzanna gesagt, »funktioniert aber nicht bei allen. Manche werden hyperaktiv wie Schwochow oder hinterfotzig wie die Schnalke, aber die meisten werden einfach nur total schlapp davon.«
»Wir sollten das Zeug nicht nehmen«, habe ich gesagt, aber Karlotta war anderer Meinung. Sie war für das Zeug und dafür, dass wir es nehmen, weil wir sonst auffallen.
»Wir fallen auf, wenn wir nicht genauso schlapp sind wie die anderen. Wir könnten das natürlich simulieren, aber wozu? Ist doch einfacher, wir nehmen das Zeug und sind wirklich schlapp. Außerdem: Wer hält das schon aus, stundenlang fernsehen, ohne Drogen?«
Na gut, habe ich gesagt, von mir aus. War ja auch nur wegen euch, mein Vorschlag, nicht wegen mir. Ich bin ja sowieso immer müde, mit oder ohne Drogen.
»Das«, hat Karlotta gesagt und gegrinst, »solltest du dem Heimleiter erzählen. Der würde sich freuen: immer müde und total weggetreten, auch ohne Drogen.« Dann hat sie die Stimme vom Heimleiter nachgemacht und gejammert: »Wissen Sie eigentlich, was dieses scheiß Pruxal kostet, Frau Block!«
Sehr witzig.
Blödekuh.
Habe ich erwähnt, dass Karlotta erwähnt hat, dass im Büro vom Heimleiter Bilder hängen? Bei dem Verhandlungsgespräch über die Privilegien, die wir bekommen, wenn das mit dem MDK und der Pflegestufe zwei klappt, da hat sie die Bilder gesehen.
Bilder von ihm und der Ministerin.
Beim Händeschütteln.
Beim Küsschengeben.
Benefizgala »Alzheimer and You«. Schüttelschüttel.
Ehrenball »Helfen macht happy«. Küsschenküsschen.
Gefährlichefrau.
Gefährlichermann.
»Addila weiß es«, sagt Marlen noch einmal, dann sinkt sie wieder in sich zusammen.
Unsinn, denke ich. Nur der übliche Unsinn, den die Leute so labern, wenn sie zugedröhnt sind. Ich lasse Marlen schlafen und schlurfe nach hinten zum Professor, vorbei an Frau Sonne, vorbei an Frau Wimmer, an der Gräfin.
Frau Sonne: schläft. Das Album liegt in ihrem Schoß. Frau Wimmer: schläft. Ihre Arme umklammern den Müllsack. Die Gräfin: dämmert vor sich hin, mit offenen Augen, der graue Star baut unermüdlich sein Nest. Sogar Frau Fitz hat schlappgemacht, ihr grauer Zopf hängt über die Stuhllehne wie eine tote Ringelnatter.
Der Professor sitzt auf seinem Klappstuhl ganz hinten in der Ecke. An der Wand neben ihm stapeln sich ein paar Bücher, die sind noch aus seiner aktiven Zeit als Professor an der Universität, hat mir Schwester Cornelia erzählt. Der Professor bekommt die weißen Pillen auch, aber er ist trotzdem wach. Vielleicht, weil ihm das Pruxal guttut, der Professor ist ziemlich psychotisch.
»Professor?«, sage ich.
Keine Reaktion. Er sitzt da und liest in irgendeinem Buch, das auf seinem Schoß liegt. Gekrümmter Rücken, Bleistift in der rechten Hand, die linke streicht über die Krawatte, ganz langsam, immer die gleiche Bewegung, von oben nach unten, von oben nach unten.
»Professor!«
Er reißt den Kopf hoch.
»Was lesen Sie da, Professor?«
Er runzelt die Stirn.
»Darf ich?«, sage ich und zeige auf den Klappstuhl neben ihm, obwohl der gar nicht frei ist. Da steht ein kleiner Karteikasten. »Darf ich mich zu Ihnen setzen?«
»Sind Sie die neue Assistentin?«, sagt er mit gerunzelter Stirn.
Ich überlege. Ich nicke.
»Name?«
»Block. Almut Block.«
»Akademischer Grad?«
Ich überlege.
»Magister«, sage ich vorsichtig.
Seine Stirn glättet sich.
»Alte Studienordnung! Sehr gut! Magister: gut! Bachelor: Humbug!
Bachelor: Humbug!
Bachelor: Humbug!
Bachelor: Hum …«
Ich klatsche in die Hände, er starrt mich an, ich lächle.
»Magister also. Sehr gut.« Er nimmt den Karteikasten vom Stuhl. »Setzen Sie sich, Frau Kollegin. Haben Sie eine säuberliche Handschrift?«
Das war vor fünf Tagen. Seitdem sitze ich jeden Tag mit dem Professor ganz hinten im Fernsehraum und lese. Also normalerweise. Heute nicht, weil der Professor irgendwo hängengeblieben ist, und keiner hat ihn gefunden bisher, sonst wäre er ja schon hier. Aber normalerweise sitzen wir nebeneinander und lesen.
Knud Rasmussen: Von Grönland bis zum Stillen Ozean, 1925/26.
Samuel Thomson: Mein Leben unter Wilden, 1851.
Viel spannender als Yoga im Alltag, sogar spannender als die Leichenschlitzer, das liegt am Forschungsschwerpunkt vom Professor. Genaugenommen lesen wir die Bücher nämlich nicht, wir lesen sie quer. Wir suchen. Nach den Stellen, in denen es um das Töten alter Leute geht, das ist der Forschungsschwerpunkt vom Professor: Gerontozid.
Wenn wir eine Stelle finden, zum Beispiel die mit dem strangulierten Indianer bei Thomson oder die mit den eingemauerten Eskimos bei Rasmussen, dann suche ich im Karteikasten nach dem Kärtchen mit dem richtigen Schlagwort.
Die meisten Schlagworte beginnen mit E.
Erwürgen.
Ertränken.
Erhängen.
Einmauern.
Aber es gibt auch A wie Aufessen oder Z wie Zerstückeln.
Wenn ich das Kärtchen mit dem richtigen Schlagwort gefunden habe, schreibe ich die Quelle auf, in meiner schönsten Schönschrift, kurz und knackig: Thomson: Die Wilden, 1851, S. 312 zum Beispiel, und wenn irgendein anderer Forscher auch schreibt, dass irgendein Volk seine Senioren rituell erwürgt, dann schreibe ich ihn unter Thomson.
Unter Aufessen haben wir bisher nur einen Eintrag: Herodot: Historien I, 5. Jhdt. v. Chr., S. 216.
Auf Seite zweihundertsechzehn schreibt Herodot über die Massageten, ein indoeuropäisches Reitervolk: »Ihre Sitten verhalten sich folgendermaßen: Wenn ein Mann alt ist, kommen die Angehörigen zusammen und schlachten ihn. Sie braten das Fleisch und essen es. Darin sehen sie ein hohes Glück, denn wenn jemand an einer Krankheit stirbt, verspeisen sie ihn nicht, sondern werfen ihn den wilden Tieren vor. Man hält es für ein Unglück, dass er nicht so alt geworden ist, um geschlachtet zu werden.«
Irgendwann, hat der Professor zu mir gesagt, »irgendwann, Frau Magister Block, werden Sie Ihre Doktorarbeit schreiben, und dann werden Sie nicht umhinkommen, das Werk zu zitieren, an dem wir gerade arbeiten, weil es nämlich ein Standardwerk sein wird: Der Gerontozid als Lösungsmodell für die ökonomischen Probleme einer radikal alternden Gesellschaft. Historisch-systematische Studie von Prof. Dr. Sebastian Knabe im Auftrag der Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Wissenschaftliche Mitarbeit: Mag. Almut Block.«
Im Auftrag von wem?, habe ich gesagt.
»Von ihr.« Handbewegung Richtung Fernseher. »Sie weiß nichts davon, aber ich habe mich ja auch erst kürzlich dazu entschlossen, es in ihrem Auftrag zu schreiben. Sie ist noch sehr jung und nicht besonders intelligent. Sie braucht Hilfe.«
Findet Doppelrudi übrigens auch. Der findet auch, dass gewisse Leute Hilfe brauchen, zum Beispiel der Professor.
»Gegen die Altersdemenz von Frau Fitz ist kein Kraut gewachsen«, hat Doppelrudi zu mir gesagt, »aber gegen die Psychose vom Professor schon«, und dass man etwas dagegen unternehmen könnte, wenn sich irgendjemand dafür interessieren würde.
Tut aber keiner.
Interessiert keinen, wenn der Professor jeden Morgen in Anzug und Krawatte aus seinem Zimmer stürmt und glaubt, dass er auf dem Weg zur Arbeit ist. Wenn er glaubt, dass er immer noch Professor an der Universität ist und den ganzen Tag an seinem Forschungsprojekt arbeitet, weil er gerade sein vorlesungsfreies Jahr hat.
Der Speisesaal: die Mensa.
Der Fernsehraum: die Bibliothek.
Anhaltende wahnhafte Störung, so nennt man das, was der Professor hat, sagt Doppelrudi, und dass es noch ein paar andere Leute in der RESIDENZ gibt, die das haben. Leute, die sich irgendetwas Abstruses einbilden von wegen wo sie hier eigentlich sind.
Im Hotel.
Im Gefängnis.
Auf Stockwerk zwei glaubt eine Frau, dass sie hier im Zoo ist. »Sie hält die RESIDENZ für einen Zoo und sich selbst für eine Besucherin, und das liegt nicht zuletzt an diesen verblödeten Türschildern. Würde ich ja auch irgendwann, also glauben, dass ich hier im Zoo bin, wenn an allen Zimmertüren diese Schilder hängen von wegen Eisbär und Nashorn und so. Da ist die Orientierungshilfe für die Demenzkranken voll nach hinten losgegangen bei der Psychotikerin von Stockwerk zwei.« Hat Doppelrudi gesagt, und dass die Frau alle in den Wahnsinn treibt, weil sie die anderen Bewohner ständig füttern will oder streicheln. Arme Frau, hat er gesagt, man könnte ihr helfen. Mit einer Therapie und anständigen Psychopharmaka, und dem Professor auch, aber der Heimleiter, das Arschloch, unternimmt nichts.
Wissen Sie eigentlich, was so ein Gerontopsychiater kostet!
Wahrscheinlich bekommt man eine ganze Menge Schlüsselanhänger mit Wimbledon-Championship-Logo für einen Gerontopsychiater, und das ist gut so. Sonst wäre der Professor vielleicht schon geheilt, und ich wäre ganz allein hier im Fernsehraum. Allein unter Zombies. Lebende Tote, vollgepumpt mit Pruxal.
Die Uhr sagt knack, 10:10, die Ministerin sagt »Zukunftsperspektive«, noch zwei Stunden bis zum Mittagessen, ich sitze hinten in der Ecke und lese, der Klappstuhl neben mir ist leer.
Macht nicht so viel Spaß wie sonst, ohne den Professor, außerdem ist das Buch, das ich mir für heute vorgenommen habe, ein ziemlicher Flop. Alles sehr theoretisch. Keine saftigen Gewaltszenen, keine geschlachteten Senioren, ich lese trotzdem weiter, die Ministerin sagt:
Kostenfaktor.
»Wenn wir die Zahl der in Anstaltspflege befindlichen Idioten und Alten zusammenrechnen, so kommen wir auf eine ungeheure Summe. Es ist leicht zu ermessen, welches ungeheure Kapital in Form von Nahrungsmitteln, Kleidung und Heizung dem Nationalvermögen für einen unproduktiven Zweck entzogen wird«, lese ich.
Die Ministerin sagt: »Die Zahl der pflegebedürftigen älteren Menschen steigt parallel zur gesteigerten Lebenserwartung. Typische Alterserkrankungen häufen sich. Schon heute erkrankt jeder dritte Mann und jede zweite Frau über sechzig an Demenz, Schwerpunkt Alzheimer. Die Pflege dieser Menschen in Altenheimen oder vergleichbaren Institutionen kostet uns ungeheure Summen.«
»Es ist eine peinliche Vorstellung«, lese ich, »dass ganze Generationen von Pflegern neben diesen leeren Menschenhülsen dahinaltern, von denen nicht wenige siebzig Jahre und älter werden. Die Frage, ob der für diese Ballastexistenzen notwendige Aufwand gerechtfertigt sei, war in den verflossenen Zeiten des Wohlstands nicht dringend; jetzt ist es anders geworden, und wir müssen uns ernstlich mit ihr beschäftigen.«
Die Ministerin sagt: »Wir müssen uns im Sinne der Wohlstandserhaltung um eine nachhaltige Ressourcenaktivierung bemühen, die auch auf das Potential jener Menschen zugreift, die pflegebedürftig sind und in Heimen leben. Auch diese Menschen können und wollen ihren Beitrag leisten!«
Ich überfliege »größtmögliche Leistungsfähigkeit«, »kein Platz für Schwächlinge«, »minderwertige Elemente«, »Defektmenschen«, die Ministerin sagt: »Wir werden in enger Kooperation mit Vertretern aus Wirtschaft und Forschung ein Leuchtturmprojekt starten, das auch diesen Menschen die Chance gibt, ihren Beitrag zu leisten. Für dieses zukunftsweisende Projekt haben wir als zentralen Kooperationspartner den geschäftsführenden Leiter einer renommierten Seniorenresidenz gewonnen.«
Ich schließe das Buch und gähne. Wirklich nicht besonders spannend, viel zu theoretisch. Ich lege das Buch auf den Stapel zurück und nehme ein leeres Kärtchen aus dem Karteikasten. Die Ministerin sagt lächelnd: »Die Details erfahren Sie morgen bei einer Pressekonferenz.« Ich nehme den Bleistift und schreiben oben auf das Kärtchen: Unergiebig. Darunter schreibe ich in meiner schönsten Schönschrift:
Karl Binding: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, 1922.