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Sex im Alter.

Ich will da jetzt nicht näher darauf eingehen, aber wahrscheinlich sind Sie einer von denen, die das ganz normal finden. Ganz normal und irgendwie rührend, das sagen viele Leute heutzutage, wenn von Sex im Alter die Rede ist, vor allem jüngere Leute, und das ist gut so.

Es ist gut, wenn die Leute sagen, dass wir hier von der natürlichsten Sache der Welt reden und dass sich keiner, wirklich keiner dafür schämen muss, weil jeder, wirklich jeder ein Recht darauf hat.

Das Recht auf Zärtlichkeit.

Zweiter Frühling.

Spazierengehen im Park, Händchenhalten, später dann die Vorhänge im Schlafzimmer zuziehen und das Licht ausmachen.

Streicheln, liebhaben.

So stellen sich das die meisten Leute vor, und vielleicht haben diese Leute ja recht. Vielleicht ist es die natürlichste Sache der Welt und irgendwie rührend, was Suzanna da so treibt mit dem Chauffeur.

Sie treibt es jeden Tag, immer zwischen Kaffee und Kreativworkshop.

Mirko, der Chauffeur, Sie erinnern sich, es war Liebe auf den ersten Blick zwischen Suzanna und ihm, aber ich will da jetzt nicht näher darauf eingehen.

Zum Kaffee gibt es in der RESIDENZ entweder Rosinenkuchen und Mozart oder Marmorkuchen und Mozart. Zucker, Mehl, Geschmacksverstärker, dazu eine süßliche Standardversion von der Ouvertüre zur Zauberflöte – ziemlich okay, was wir da immer bekommen, weil es nicht für Diabetiker ist. Industriekuchen, Industriemozart, wirklich okay.

Und ich will da jetzt wirklich nicht näher darauf eingehen, aber immer, wenn Suzanna zwei Stück Kuchen verschlungen hat und in ihren Kompressionsstrümpfen aus dem Speisesaal watschelt, weil sie sich angeblich noch ein bisschen hinlegen will vor dem Kreativworkshop, was ja auch stimmt, gewissermaßen – also ich muss dann immer an den Matratzenschoner denken, auf dem sie gleich liegen wird.

Urinresistent.

Geruchsbindende Silberfäden.

Suzanna nackt, ein Fleischberg, überzogen mit Altfrauenhaut, überall Wülste und Würste, überall Dellen und Wellen, Mirko stochert mit seinem Ständer darin herum, zuerst von vorne, dann von hinten, jetzt kniet er über ihrem Gesicht und schiebt seinen Schwanz tief in ihren Rachen, sie würgt, sie saugt, sie liebt seinen Schwanz, seine Eier sowieso, lutsch, leck, er wühlt in ihren grauen Haaren, gleich wird er kommen, gleich ist es so weit, wir zählen einundzwanzig, zweiundzwanzig – er zieht ihn gerade noch rechtzeitig heraus. Ein Könner!

Jetzt noch eine Runde in den Arsch, Suzanna japst und jault wie eine alte Hündin, die es noch einmal so richtig besorgt bekommt, er presst seine Hand auf ihren Mund, sie erstickt fast, und sie liebt es. Sie liebt es, fast zu ersticken. Sie liebt ihren Geliebten, er könnte ihr Enkel sein, aber er macht alles richtig, er macht alles genau richtig.

Diener einer Gottheit.

Wirft sich im tiefsten Winter aufs Eis, bringt es zum Schmelzen.

Jetzt steckt er mit dem Kopf zwischen ihren Schenkeln, graues Schamhaar umzittert sein Gesicht, und während er mit der Zunge ihre geschwollene Klitoris bearbeitet, bohrt sich sein Mittelfinger tief in … was?

Ich soll aufhören?

Sie können sich das ganz gut selbst vorstellen?

Sind Sie sicher?

Na, dann bin ich ja beruhigt, weil das ist schon komisch, wissen Sie: Die Leute reden von Sex im Alter und denken dabei an alles Mögliche. An den zweiten Frühling zum Beispiel oder an Vorhänge, nur an eines denken sie nicht: ans Ficken.

Knack. 17:04.

»Willkommen zum heutigen Kreativworkshop!«

Schwester Olga macht eine begrüßende Geste und lächelt in die Runde. Suzanna lächelt auch, rotwangig und gut durchblutet, sie ist die Einzige. Wir anderen haben gerade keinen besonderen Grund zu lächeln, deswegen sitzen wir einfach nur so da auf unseren Klappstühlen.

Sitzkreis.

Damenrunde.

Alle Frauen von Stockwerk vier, nur Frau Schnalke nicht, die steht auf dem Gang und bewacht den Fernsehraum, der jetzt ein Kreativraum ist. Schwochow turnt irgendwo draußen herum, der Professor steckt irgendwo fest, keiner vermisst ihn, schon gar nicht beim Kreativworkshop, weil er da sowieso nie mitmacht. Da liegt er normalerweise auf seinem Zimmer und schläft, das liegt am Pruxal. Also daran, dass wir keines bekommen zum Kaffee, damit wir fit sind für den Workshop. Beim Professor hat das die gegenteilige Wirkung, er wird müde. Heute nicht, heute steckt er irgendwo fest und macht irgendeine Geste immer wieder und wieder, hellwach.

Schwester Olgas Lächeln ist matt wie immer, die Schatten unter ihren Augen sind heute fast violett, wahrscheinlich hat sie kaum geschlafen zwischen Nachtschicht und Kreativworkshop. Ihre Haare: frisch gefärbt. Kein Hellgelb, kein Pissblond, ein ganz neuer Look, wie man so sagt, und ich frage mich, wie Schwester Olga das wohl hingekriegt hat mit ihrem neuen Look.

Die Nachtschicht war um 07:00 vorbei. Um 08:00 war Schwester Olga zu Hause. Zwischen 08:30 und 09:00 hat sie am Küchentisch über einer Tasse Kaffee und mit einer Ladung Blondiercreme auf dem Kopf darüber nachgedacht, was sie beim Kreativworkshop, den sie in acht Stunden auf Stockwerk vier leiten muss wie jeden Tag – was sie da besser machen könnte.

Ihr ist nichts eingefallen.

Sie ist so müde.

Empfohlene Einwirkzeit der Blondiercreme laut Beipackzettel: dreißig Minuten. Versprochenes Ergebnis: faszinierender Glanz, perfekte Grauabdeckung vom Haaransatz bis in die Spitzen.

Um 13:00 wacht Schwester Olga auf und bemerkt, dass sie am Küchentisch eingeschlafen ist. Ihre Kopfhaut brennt wie Feuer, sie geht ins Bad. Vor dem Spiegel bricht sie in Tränen aus.

Das war vor vier Stunden, jetzt sagt sie lächelnd und mit einer begrüßenden Geste »Willkommen zum heutigen Kreativworkshop!«, dann streicht sie sich eine schlohweiße Haarsträhne aus dem Gesicht.

Warnung: Wird die Einwirkzeit um mehr als sechzig Minuten überschritten, kann es zu allergischen Reaktionen und Depigmentierung kommen (Ausbleichen).

»Ich möchte Ihnen nun kurz erklären, was wir heute gemeinsam vorhaben beim Kreativworkshop«, sagt die weiße Olga.

Als ob wir das nicht wüssten.

Als ob das besonders abwechslungsreich wäre, das mit der Kreativität.

Früher hat es angeblich eine fest angestellte Gerontopädagogin gegeben in der RESIDENZ, so eine engagierte junge Person, die sich um ein bisschen Abwechslung bemüht hat beim Anti-Demenz-Training.

»So heißt das nämlich, in Wahrheit«, hat Schwester Cornelia zu mir gesagt, »und früher haben wir das auch so genannt, aber dann ist der neue Heimleiter gekommen und hat die Gerontopädagogin gefeuert und gesagt, dass wir vom Pflegepersonal das genauso gut können.

Wissen Sie eigentlich, was so eine Gerontopädagogin kostet!

Außerdem hat der Heimleiter gesagt, dass Anti-Demenz-Training nicht so gut klingt. Seitdem sagen wir Kreativworkshop, und wenn Sie sich darüber beschweren wollen, Frau Block, dass Schwester Olga in der Programmgestaltung nicht besonders kreativ ist, dann beschweren Sie sich doch bitte beim Heimleiter. Vielleicht kann der Ihnen ja erklären, woher wir vom Pflegepersonal die Kraft nehmen sollen, uns zwischen den Schichten auch noch lustige Spielchen auszudenken gegen die Verblödung.«

Schwester Cornelia leitet den Kreativworkshop auf Stockwerk zwei, und sie war ziemlich sauer auf mich, weil ich das Thema angesprochen habe.

Mein Gott, man wird ja noch fragen dürfen.

Das mit dem Lied zum Beispiel. Man wird ja noch fragen dürfen, warum wir immer ein Lied singen müssen, ganz am Anfang. Ich meine: Singe, wem Gesang gegeben, klar, aber wir können hier alle gar nicht singen, bis auf Frau Fitz natürlich, und die ist auch die Einzige, die wirklich singt. Wir anderen machen eher, nun ja, Geräusche.

Frau Sonne zum Beispiel: Bei ihr klingt es wie ein leises Wimmern, wenn sie singt.

Oder Karlotta: eine Art Kriegsgeheul.

Suzanna: gluckst, kichert, gluckst.

Die Gräfin: gibt alle hundert Jahre ein morsches Knarzen von sich, und Frau Wimmer klingt wie ein Eichhörnchen mit Herzrhythmusstörung.

Ich mache gar nichts, weil ich kann nicht nur nicht singen, sondern auch keine Geräusche machen, die zu irgendwas irgendwie dazupassen. Dafür imitiert Marlen erfolgreich das Geräusch einer Kreissäge. Sie singt immer extra laut und extra falsch, und das macht sie extra, um Karlotta zu ärgern, die nach unserer ersten Erfahrung mit dem Kreativworkshop gesagt hat: »Mitmachen! Egal, wie verblödet das Anti-Verblödungs-Training ist: unbedingt mitmachen! Sonst fallen wir auf.«

Kommt ein Vogel geflogen.

Das Wandern ist des Müllers Lust.

Im Frühtau zu Berge.

Vor zwei Tagen hat Marlen zu Schwester Olga gesagt, die gerade Kommt ein Vogel geflogen anstimmen wollte, ob wir nicht etwas anderes singen könnten zur Abwechslung. Irgendwas Passenderes, schließlich sind wir hier nicht in einem protestantischen Frauenchor oder im Kindergarten, sondern in einer Seniorenresidenz.

»Aber natürlich, Frau Stauffenbach!« Schwester Olga war ganz begeistert. »Was schlagen Sie vor?«

»Wie wär’s mit Trägt man mich zum Friedhof hin oder Drei Lilien, drei Lilien, die pflanzt ich auf mein Grab

Suzanna hat gekichert, Schwester Olga hat matt gelächelt und Kommt ein Vogel geflogen angestimmt.

Wenn wir fertig sind mit dem Lied, kommt das Kontaktspiel.

Das Kontaktspiel heißt Das wandernde Gesicht, und es soll die Beziehung zwischen den Workshopteilnehmern positiv beeinflussen. Sagt zumindest Schwester Olga immer, bevor wir mit dem Kontaktspiel anfangen. Dann bittet sie eine von uns, ein lustiges Gesicht zu machen, meistens Frau Fitz, weil Frau Fitz das am besten kann.

»Würden Sie bitte ein lustiges Gesicht machen, Frau Fitz, und es zum Wandern bringen.«

Frau Fitz macht ein lustiges Gesicht, dann dreht sie den Kopf nach rechts und zeigt es Frau Wimmer, die das lustige Gesicht nachmacht und Frau Sonne zeigt, die das lustige Gesicht nachmacht und so weiter. Prinzip Stille Post, und ich weiß nicht, ob Sie eine Vorstellung davon haben, wie das lustige Gesicht aussieht, wenn es am Ende wieder bei Frau Fitz angekommen ist.

Das Lied und das Kontaktspiel sind die Aufwärmphase, danach kommt die Kreativphase. So nennt es Schwester Olga, Kreativphase, oft sagt sie auch psychomotorische Aktivitätsphase. Keine Ahnung, woher sie den Ausdruck hat, wahrscheinlich von der ehemaligen Gerontopädagogin.

Eine Rolle Packpapier, ein dicker Filzstift, ein Ball.

Schwester Olga holt das Zeug aus der großen Umhängetasche, die sie immer mitschleppt zum Workshop, und sagt: »Wir gehen jetzt in die psychomotorische Aktivitätsphase über. Bitte stehen Sie auf und nehmen Sie Ihre Klappstühle und bilden Sie mit Ihren Klappstühlen einen Halbkreis.«

Aufstehen, Klappstühle nehmen, Halbkreis bilden – ich weiß nicht, ob Sie eine Vorstellung davon haben, was das für acht alte Frauen bedeutet, von denen eine den grauen Star hat, eine plemplem ist und eine ihren Müllsack nicht loslassen will.

Wenn wir endlich im Halbkreis sitzen, entrollt Schwester Olga das Packpapier und legt es vor uns auf den Boden. Auf dem Packpapier stehen ein paar Buchstaben, in Riesenschrift, zwischen den Buchstaben sind faustgroße Punkte, in etwa so:

I N   D . .   K Ü . Z .   L I . . .   D I .   W Ü . Z .

Das ist ein unvollständiges Sprichwort, erklärt uns Schwester Olga jedes Mal, und dass sie jetzt einer von uns den Ball zuwerfen wird, und die soll dann den Ball bitte fangen und einen Buchstaben sagen, von dem sie denkt, dass er in dem Sprichwort vorkommt. Dann soll sie den Ball jemand anderem zuwerfen, der wieder einen Buchstaben sagt und so weiter.

Wenn der Buchstabe vorkommt, trägt Schwester Olga ihn mit dem Filzstift in das Sprichwort ein. Wenn nicht, sagt sie immer: »Das macht gar nichts! Nur nicht entmutigen lassen! Wichtig ist, dass es uns allen Spaß macht und dass wir das Sprichwort irgendwann erkennen.«

Mittlerweile läuft das ganz gut, das mit der psychomotorischen Aktivität, aber nur, weil Marlen nicht mehr mitspielen darf. Karlotta hat es ihr verboten.

Bei unserem ersten Kreativworkshop in der RESIDENZ vor acht Tagen wollte Schwester Olga gerade anfangen und den Ball werfen, da hat Marlen mit einem blutroten Zeigefingernagel auf das Packpapier gezeigt und gesagt:

»Ist doch klar: IN DER KÜRZE LIEGT DIE WÜRZE

Und das war’s dann mit der Aktivitätsphase. Schwester Olga hat noch zweimal Im Frühtau zu Berge mit uns gesungen, zum Ausklang, und sich am Ende mit belegter Stimme dafür entschuldigt, dass der Workshop heute ein bisschen kurz war.

Am nächsten Tag war das Sprichwort aus zwanzig Punkten und sechs Buchstaben:

D . .   . . . . .   . . . D,   D . .   A . D . . .   . . . . D

Marlen runzelt die Stirn, Schwester Olga wirft den Ball Frau Sonne zu, Frau Sonne fängt und sagt leise: F.

»Bravo! Ein F kommt vor!« Schwester Olga zückt den Filzstift, Marlen grinst.

»Ist doch klar«, sagt sie, »DES EINEN LEID, DES ANDERN FREUD

Zum Ausklang zweimal Das Wandern ist des Müllers Lust, Schwester Olgas Gesicht beim Singen: ein schmutziggrauer Fleck, ausdruckslos.

»Hör auf damit!«, hat Karlotta nach dem zweiten Kreativworkshop zu Marlen gesagt. »Wenn du nicht aufhörst, ist die Operation Hinterland gefährdet, oder wie willst du das dem MDK erklären, dass deine Neuronen schneller feuern als die Neuronen einer Sechzehnjährigen, die täglich Gehirnjogging treibt?«

Am dritten Tag bestand das Sprichwort aus einundzwanzig Punkten und drei Buchstaben, beim Ausrollen des Packpapiers haben Schwester Olgas Hände gezittert.

D . .   . . . C .   . . . . . . .   D . .   . . . . . .

Schwester Olga wirft den Ball, Suzanna fängt und sagt: G.

Schwester Olga nickt, sie zieht langsam die Kappe vom Filzstift ab und schielt ängstlich nach Marlen.

Marlen betrachtet ihre Fingernägel.

Schwester Olga schreibt ein G ins Sprichwort, Suzanna wirft den Ball, Karlotta fängt und sagt: L.

»Bravo.« Schwester Olga wird ein bisschen mutiger, aber nur ein bisschen, sie schielt nach Marlen.

Marlen schiebt die Nagelhaut an ihrem Daumen zurück.

Schwester Olga schreibt zweimal L ins Sprichwort, Karlotta wirft, Frau Fitz fängt und sagt: Zwei.

»Zwei«, sagt Schwester Olga freundlich, »ist kein Buchstabe, sondern eine Zahl, Frau Fitz. Bitte versuchen Sie es noch einmal.«

»Zwei«, sagt Frau Fitz noch einmal.

»Frau Fitz, bitte sagen Sie einen Buchstaben, keine Zahl.«

»Zwei, zwei, zwei, zwei …«, die Stimme von Frau Fitz wird immer höher und immer lauter, jetzt fängt sie an, bei jedem »zwei« mit dem Fuß auf den Boden zu stampfen, Suzanna hält sich kichernd die Ohren zu, Frau Wimmer klammert sich fester an ihren Müllsack, Marlen murmelt etwas. Sie schiebt die Nagelhaut an ihrem Zeigefinger zurück und murmelt: »DER ZWECK HEILIGT DIE MITTEL, ist doch klar«, Frau Fitz kreischt und stampft.

»Ist ja gut, ist ja gut! Beruhigen Sie sich, Frau Fitz!«

Schwester Olga beugt sich über das Packpapier und schreibt hektisch Z, W, E und I ins Sprichwort, Frau Fitz verstummt schlagartig und grinst. Dann hebt sie den Ball mit beiden Händen hoch über den Kopf und schleudert ihn auf Frau Sonne. Frau Sonne duckt sich, zu spät, der Ball knallt ihr mitten ins Gesicht, er fällt zu Boden und rollt Frau Wimmer vor die Füße.

»Frau Fitz, also wirklich!«

Schwester Olga geht mit ein paar schnellen Schritten zu Frau Sonne, die sich beide Hände aufs Gesicht gelegt hat und leise stöhnt. Frau Fitz grinst, Frau Wimmer bückt sich nach dem Ball.

»Sind Sie verletzt?«, sagt Schwester Olga.

Frau Sonne zuckt zusammen.

»Zeigen Sie her!«

Schwester Olga will Frau Sonne die Hände aus dem Gesicht ziehen, Frau Sonne presst sie noch fester dagegen und stöhnt.

»Bitte nicht«, stöhnt sie. »Bitte, bitte nicht, bitte, bitte …«

»Ist ja gut, ist ja gut!«

Schwester Olga lässt Frau Sonne in Ruhe und geht zurück auf ihre Workshopleiterposition hinter dem Packpapier.

»Ich darf alle herzlich darum bitten, den Ball vorsichtig zu werfen. Wir wollen doch niemanden verletzen! Wir wollen doch alle nett miteinander sein und gemeinsam Spaß haben, nicht wahr?«

Blick in die Runde.

Karlotta nickt grimmig, Suzanna nickt und kichert, Frau Sonne macht komische Geräusche in ihre Hände hinein, irgendwas zwischen Schluchzen und Stöhnen, Frau Wimmer macht eine Schleife in das Zugband von ihrem Müllsack, Marlen schiebt die Nagelhaut an ihrem Mittelfinger zurück und murmelt tonlos: »DER ZWECK HEILIGT DIE MITTEL, total klar.«

»Sehr schön.« Schwester Olga lächelt. »Dann sind wir ja alle einer Meinung und werden jetzt alle nett miteinander sein und rücksichtsvoll und vorsichtig …«

»Weitermachen!« Die Stimme der Gräfin klingt wie ein morscher Ast, in den kurz vorm Abfallen noch ein bisschen saftiges Grün gefahren ist. Stimme der Aristokratie, Stimme von altem Adel: so gut wie verstummt, aber wenn es diese degoutanten Demokraten mit ihrem Toleranzgeschwätz zu weit treiben, dann ist auch mal Schluss mit lustig.

Schwester Olga hört mit dem Toleranzgeschwätz auf und sagt: »Sie haben recht, Gräfin, wir sollten weitermachen. Wer wirft?«

Keiner reagiert. Ist ja auch die falsche Frage, Wer? Die richtige Frage ist Womit?

Der Ball ist weg.

»Wo ist der Ball?« Schwester Olga sieht sich suchend im Kreativraum um.

»Fiep, fiep«, sagt Frau Fitz und zeigt mit ausgestrecktem Arm auf Frau Wimmer.

Schwester Olga seufzt. »Frau Wimmer, haben wir wieder den Ball in unseren Sack gesteckt, obwohl wir das nicht dürfen?«

Frau Wimmer antwortet nicht, sie umklammert ihren Müllsack.

Schwester Olga seufzt wieder. »Wir sind jetzt ein braves Mädchen, Frau Wimmer, und geben den Ball her. Bitte.«

Frau Wimmer klammert, Schwester Olga macht einen großen Schritt über das Packpapier und geht auf sie zu, Frau Wimmer startet die Nummer mit der Hyperventilation.

Fiep, fiep, macht sie und drückt ihr Gesicht in den Müllsack, fiep, fiep.

»Ist ja gut, ist ja gut.« Schwester Olga hat Frau Wimmer erreicht und legt ihr sanft die Hand auf den Kopf. »Tief durchatmen, ganz tief durchatmen.« Die Hand fährt streichelnd über Frau Wimmers Haar, es ist weiß und fein und nicht mehr besonders dicht, man kann die Kopfhaut sehen. »Frau Wimmer«, sagt Schwester Olga streichelnd, »Sie müssen jetzt bitte den Ball hergeben, sonst können wir nicht weitermachen.«

Fiep, fiep.

»Und wir wollen doch weitermachen, nicht wahr? Wir haben doch immer so viel Spaß mit dem Ball«, streichel, »und deswegen brauchen wir ihn, den Ball, Frau Wimmer. Er gehört nicht nur Ihnen, er gehört Ihnen und uns. Uns allen gemeinsam, er ist ein Gemeinschaftsball. Er ist unser gemeinschaftlicher Kreativball, und ohne den Kreativball können wir nicht gemeinsam Spaß haben und …

»Jetzt gib schon den scheiß Ball her, du verdammte Psychotussi!«

Karlotta ist der Geduldsfaden gerissen. Sie steht mit einem Ruck auf und schlurft im Turbotempo zu Frau Wimmer. Sie schiebt Schwester Olga beiseite und greift nach dem Müllsack.

Fiiieeeep!

Sie reißt den Müllsack aus Frau Wimmers Umklammerung, sie reißt das Zugband auf, sie nimmt den Ball aus dem Müllsack, sie stopft den Sack zurück zwischen Frau Wimmers Arme und schlurft zügig zurück auf ihren Platz.

»Aber …« Schwester Olga starrt Karlotta entgeistert nach, dann dreht sie den Kopf zu Frau Wimmer, die jetzt wahrscheinlich gleich vom Klappstuhl kippen wird wie ein hyperventilierendes Eichhörnchen vom Baum. Ich zähle einundzwanzig, zweiundzwanzig, nichts. Frau Wimmer ist ganz ruhig. Sie macht ganz ruhig eine Schleife in das aufgerissene Zugband, dann zeigt sie auf das Packpapier und sagt: »Ich weiß, welcher Spruch das ist.«

»Ja?« Schwester Olga ist immer noch total entgeistert.

»Ja. DER ZWERG REINIGT DEN KITTEL

Das war vor fünf Tagen, und es war der einzig wirklich gelungene Kreativworkshop, den wir bisher in der RESIDENZ erlebt haben, weil das mit dem Zwerg und dem Kittel ziemlich kreativ ist, wenn Sie mich fragen.

Seitdem ist alles eher monoton.

Aufwärmphase, Aktivitätsphase, Ausklangphase.

Singen, werfen, singen.

Marlen spielt nicht mit, Frau Fitz ist ein braves Mädchen, Frau Wimmer auch, nur die Gräfin knarzt manchmal »Weitermachen!«, wenn Schwester Olga uns allzu ausführlich dafür lobt, dass wir jetzt immer so nett miteinander sind und die Aktivitätsphase immer so harmonisch abläuft, weil jeder jeden respektiert und keiner keinem wehtun will und …

»Weitermachen!«

Sie tut mir leid.

Ich mag Schwester Olga, und sie tut mir leid. Sie weiß, dass ihr Kreativworkshop Scheiße ist, und sie würde es gerne besser machen, aber sie ist immer so müde, vor allem heute. Violette Schatten unter den Augen, schlohweißes Haar. Die große Umhängetasche steht vor ihr auf dem Boden, gleich wird sie sagen, was wir heute so vorhaben beim Kreativworkshop, und ich könnte natürlich auch etwas sagen.

Liebe Schwester Olga, könnte ich sagen, warum gehen Sie nicht einfach nach Hause. Verteilen Sie ein paar Pruxal, schalten Sie den Fernseher ein und gehen Sie nach Hause. Schlafen Sie zwölf Stunden oder zwanzig, und dann machen Sie sich einen doppelten Espresso oder einen dreifachen und schreiben Ihre Kündigung. Und wenn Sie damit fertig sind, färben Sie sich die Haare neu.

Blutiges Rot.

Giftiges Grün.

Pink, blau, egal, Hauptsache, es knallt.

WAS LANGE GÄRT, WIRD ENDLICH WUT.

Ich sage nichts, Schwester Olga sagt, dass wir heute etwas ganz Besonderes vorhaben beim Kreativworkshop.

Schau, schau.

Sie sagt, dass wir heute auf die Aufwärmphase verzichten und direkt in die psychomotorische Aktivitätsphase einsteigen.

Hört, hört.

Sie bückt sich und öffnet die Tasche.

Wir erwarten das Packpapier, aber es ist ein Schuhkarton.

Wir erwarten den Ball, aber es ist ein Tablett.

Der Schuhkarton ist mit Geschenkpapier beklebt, rote Herzen auf blauem Grund, der Deckel fehlt. Schwester Olga stellt den Karton auf den Boden, das Tablett legt sie daneben. Dann nimmt sie die Tasche und dreht sie um.

Dinge fallen heraus. Korken zum Beispiel und Streichholzschachteln. Leere Joghurtbecher, leere Klorollen, ein paar Stofffetzen, blau, grün, gelb, eine große Büroklammer, eine silberfarbene Luftschlange, ein Spielzeugauto, ein Zahnputzbecher, ein Kerzenstummel, eine Schnullerkette – sie fallen aus der Tasche und auf das Tablett.

Ich starre auf den ganzen Müll und mir wird klar, dass Schwester Olga heute Morgen so gegen 09:00 gar nicht am Küchentisch eingeschlafen ist. Mir wird klar, dass sie die empfohlene Einwirkzeit der Blondiercreme nicht verpennt hat, sondern vergessen.

Prinzip: Die Milch brennt an, und ich merke es nicht.

Prinzip: Der Kaffee wird kalt, und es ist mir egal.

Der Braten verkohlt, die Welt geht unter, egal, egal.

Da war plötzlich eine Idee im Kopf von Schwester Olga, und da hat sie das Jucken und Brennen auf ihrer Kopfhaut nicht bemerkt, weil sie so glücklich war über die Idee und so beschäftigt damit, alle Vorbereitungen zu treffen.

Jetzt sagt sie: »Wir haben heute etwas ganz Besonderes vor, und ich hoffe, es wird uns allen viel Freude bereiten. Einige von uns leben schon sehr lange hier in der RESIDENZ«, sie nickt lächelnd der Gräfin zu, dann Frau Fitz, »einige sind erst seit ein, zwei Jahren hier«, sie nickt lächelnd Frau Sonne zu und Frau Wimmer, »oder erst seit einer Woche«, Karlotta, Suzanna, Marlen und ich werden lächelnd benickt. »Aber wir haben alle eines gemeinsam: ein langes erfülltes Leben, das hinter uns liegt. Wir sind alle prall gefüllt mit Erinnerungen an dieses Leben. Schöne Erinnerungen und weniger schöne, freudvolle und leidvolle, aber alle sind kostbar. Kostbar und unvergleichlich, denn sie machen uns zu dem, was wir heute sind. Sie sind das Fenster, durch das wir aus der Gegenwart in die Vergangenheit blicken, wo wir uns selbst wiederfinden als jüngere Menschen, als Kinder, oder gar als Babys, die ihre Reise durchs Leben gerade erst angetreten haben und erst nach Jahrzehnten des Liebens, Leidens und Hoffens dort ankommen werden, wo wir jetzt sind. Und so blicken wir zurück durch das Zeitfenster der Erinnerung, zurück auf unser reiches Leben, und ein Kreis schließt sich.«

Schwester Olga lächelt pauschal in die Runde.

Karlotta glotzt.

Suzanna glotzt.

Marlen, Frau Fitz, Frau Wimmer, Frau Sonne, sogar die Gräfin glotzt, aber nicht ins Leere wie sonst, sondern auf Schwester Olga.

Fassungslos.

Mir wird schlagartig klar, dass Schwester Olgas Idee für den heutigen Kreativworkshop gar nicht von ihr ist, sondern von jemand anderem. Vielleicht von der ehemaligen Gerontopädagogin. Schwester Olga hat die Gerontopädagogin angerufen heute Morgen und sich ein paar Tipps geholt. Vielleicht hat Schwester Olga aber auch Post bekommen, und in dem Kuvert war eine Informationsbroschüre von der Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

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»Und weil unsere Erinnerungen so kostbar sind«, sagt Schwester Olga, »sollten wir sie mit anderen teilen. Jeder von uns sollte seine freudvollen und leidvollen Erinnerungen teilen, und deswegen werden wir uns heute gemeinsam auf eine spannende Reise in die Vergangenheit begeben. Wir werden einen Erinnerungskoffer packen.«

Schwester Olga bückt sich und hebt den Schuhkarton auf.

»Das«, sagt sie, »ist unser Erinnerungskoffer.«

Ich glotze auf den Karton mit den Herzen.

»Und das«, sagt sie und zeigt auf das Tablett, »sind unsere Erinnerungen.«

Ich glotze auf die Klorollen und die Joghurtbecher.

»Diese kleinen Gegenstände werden uns dabei helfen, unsere Erinnerungen zu aktivieren und ihnen eine Gestalt zu geben. Nehmen wir zum Beispiel«, Schwester Olga bückt sich und hebt einen grünen Stofffetzen auf, »diesen grünen Stofffetzen. Woran könnte er uns erinnern?«

Schweigen. Glotzen.

»Nur Mut! Nicht so schüchtern!« Schwester Olga wedelt mit dem Fetzen. »Woran könnte uns dieser kleine grüne Stofffetzen erinnern, hat irgendjemand eine Idee?«

Marlen hebt langsam die Hand, parallel dazu wandern ihre Augenbrauen nach oben. Ich glaube, sie hat gerade verstanden, worauf das Ganze hinauslaufen soll. Gefahr in Verzug, ich ziehe den Kopf ein.

»Frau Stauffenbach! Wie schön, dass Sie sich als Erste melden! Und woran erinnert Sie dieser kleine grüne Stofffetzen, Frau Stauffenbach?« Schwester Olgas mattes Lächeln ist jetzt gar nicht matt, es ist geradezu strahlend für ihre Verhältnisse.

Marlens Augenbrauen klettern das letzte Stück nach oben.

»Dieser grüne Stofffetzen«, sagt sie mit einer Stimme, die man als Kälteaggregat an eine Firma für Tiefkühlkost verkaufen könnte, »dieser kleine grüne Stofffetzen erinnert mich an einen kleinen grünen Stofffetzen.«

Schwester Olga lässt den Fetzen sinken, ihr Lächeln welkt in Sekundenbruchteilen dahin und wird wieder zu dem, was es normalerweise ist: eine schlaffe Lilienblüte. Jetzt fängt die Unterlippe zu zittern an, ich zähle einundzwanzig, zweiundzwanzig, gleich ist es so weit. Gleich wird die Blüte aus Schwester Olgas Gesicht fallen und aufs Tablett und nur noch eine Erinnerung sein. Schwester Olgas Erinnerung an ihr letztes, ihr allerletztes Lächeln in diesem Leben. Ich zähle dreiundzwanzig, vierundzwanzig, die Lippe zittert, die Blüte bebt, gleich wird sie weinen, die Schwester Olga, »eine Wiese«, sagt Frau Sonne leise. »Mich erinnert dieses Stück Stoff an eine grüne Wiese.«

Gerettet.

Schwester Olga lächelt Frau Sonne an, matt und dankbar.

»Eine Wiese. Wie schön. Und woran noch?«

»Ich weiß nicht«, sagt Frau Sonne leise. »An ein Picknick vielleicht? Wir haben das früher manchmal gemacht, im Sommer, mein Mann und ich.«

Marlen verdreht die Augen.

»Ein Picknick! Wie schön!« Schwester Olga strahlt jetzt wieder, also für ihre Verhältnisse. Sie klemmt den Schuhkarton unter den Arm und hebt das Tablett vom Boden auf. »Ich schlage vor, dass Sie den ersten Erinnerungskoffer packen, Frau Sonne.« Schwester Olga legt den Schuhkarton in Frau Sonnes Schoß, das Tablett mit den Erinnerungen stellt sie vor Frau Sonne auf den Boden. »Sie können gerne die Erinnerung an das Picknick in den Koffer packen und die Wiese hineinlegen und noch etwas, einen Korken zum Beispiel, und der wäre dann der Picknickkorb. Sie können aber auch eine ganz andere Erinnerung nehmen, es gibt ja sicher sehr viele schöne Erinnerungen an Ihr Leben vor der RESIDENZ, und wir sind alle schon sehr gespannt, welche Erinnerung Sie mit uns teilen wollen!«

Schwester Olga geht zurück auf ihren Platz und setzt sich. Dann macht sie ein gespanntes Gesicht. Frau Fitz macht das gespannte Gesicht nach und dreht den Kopf zu Frau Wimmer, Frau Wimmer macht das gespannte Gesicht nach und gibt es weiter an Suzanna, Suzanna kichert, weil Frau Wimmer so ein blödes Gesicht macht.

»Frau Fitz! Frau Wimmer! Frau Otte!« Schwester Olgas Stimme ist eine Kombination aus streng und flehend. »Bitte jetzt keine Kontaktspiele! Wir wollen uns doch alle auf die Erinnerung konzentrieren, die Frau Sonne gleich mit uns teilen wird.«

Suzanna kichert und macht ein gespanntes Gesicht.

»Frau Otte! Bitte!«

Suzanna macht ein ernstes Gesicht, alle schweigen. Alle glotzen. Auf Frau Sonne. Sie hält den Schuhkarton mit beiden Händen fest, ihr Kopf ist gesenkt. Jetzt beugt sie den Oberkörper ein Stück vor und betrachtet das Zeug auf dem Tablett.

»Ich weiß nicht«, sagt sie leise, es klingt wie ein Rascheln. »Ich habe so viele … so viele schöne Erinnerungen.«

»Nur Mut, Frau Sonne! Suchen Sie sich etwas aus!«

Frau Sonne beugt sich noch ein Stück weiter vor, sie streckt eine Hand aus, die Hand schwebt über dem Tablett, die Spannung steigt, was wird sie wohl nehmen?

Vielleicht die große Büroklammer?

Vielleicht den Kerzenstummel?

Der Kerzenstummel könnte Frau Sonne an einen schrecklichen Brand erinnern, den sie vor vielen Jahren erlebt hat. Menschen springen aus Fenstern und schlagen hart auf dem Asphalt auf, die Feuerwehr tut ihr Bestes, die ersten Schaulustigen haben sich versammelt. Sie stehen hinter der Absperrung, jetzt springt wieder jemand, ein Witzbold applaudiert.

Frauen in Flammen.

Die Feuerwehr kommt zu spät.

Frau Sonnes Hand schwebt über dem Tablett, ich zähle einundzwanzig, zweiundzwanzig, alle halten den Atem an, jetzt greift Frau Sonne endlich zu und nimmt die Schnullerkette vom Tablett.

Karlotta atmet enttäuscht aus. Marlen verdreht die Augen. Suzanna gähnt, Frau Fitz macht Suzanna nach, Frau Wimmer legt den Kopf auf den Müllsack und schließt die Augen, die Gräfin glotzt wieder ins Leere.

Na ja, sagen wir so: Wir haben das Beste gehofft und das Schlimmste erwartet, und wie immer im Leben haben wir das bekommen, was wir erwartet haben.

Schnullerkette.

Ich sinke auf meinem Klappstuhl zusammen und stelle mich auf das Schlimmste ein: auf irgendeine Altfrauenerinnerung an irgendein Kleinkind, vielleicht selbstgeboren vor langer Zeit, vielleicht nur das Kind von der Nachbarin oder von der Schwägerin, egal, auf jeden Fall wird es eine von diesen jämmerlichen Geschichten ohne Pointe sein, weil Kleinkinder nun mal keine Pointe haben.

Frau Sonne hebt die Schnullerkette in die Höhe, sie ist aus kleinen Plastikbienen gemacht, die Bienchen pendeln über dem Erinnerungskoffer.

»Schön«, sagt Frau Sonne leise und lächelt, »wirklich schön.«

»Und woran erinnert Sie dieser Gegenstand, Frau Sonne?« Schwester Olgas Stimme ist ganz weich.

»An meinen verstorbenen Mann. Er war Imker. Wir haben eine eigene Bienenzucht gehabt, früher. Sonnes Sommerhonig, so hat unser Honig geheißen. Einmal ist er sogar prämiert worden, vom Imkerbund, als bester Honig des Jahres. Es gibt ein Foto von der Preisverleihung, da überreicht der Präsident vom Imkerbund meinem Mann gerade die Goldene Wabe.«

Habe ich vorhin gesagt, dass Altfrauenerinnerungen an Kleinkinder das Schlimmste sind? Ich nehme das zurück.

»Eine wirklich schöne Erinnerung, Frau Sonne«, sagt Schwester Olga. »Wie wäre es, wenn Sie diese wirklich schöne Erinnerung in den Erinnerungskoffer packen?«

Frau Sonne überlegt, die Schnullerkette pendelt über dem Schuhkarton, dann sinkt sie langsam zurück aufs Tablett.

»Ich glaube, ich nehme lieber das.«

Frau Sonne nimmt eine Klorolle.

»Es erinnert mich an meine Hochzeit. Wir waren noch sehr jung damals, mein Mann und ich. Er hat vor Aufregung den Trauring fallen gelassen, mitten in der Zeremonie, und dann hat er sich bücken müssen und den Ring aufheben, und das war ihm sehr peinlich. Aber der Pfarrer hat geschmunzelt und gesagt, dass das nur gut ist, weil man gar nicht oft genug auf die Knie gehen kann vor der Frau seines Lebens. Alle haben lachen müssen in der Kirche, ein paar haben sogar applaudiert, es gibt sehr schöne Fotos davon. Lauter lachende Gesichter.«

»Und warum«, sagt Schwester Olga freundlich und ein wenig irritiert, »warum erinnert Sie die Klo… dieser besondere Gegenstand an Ihre Hochzeit?«

Frau Sonne lächelt.

Lockenwickler.

»Ich wollte damals unbedingt Locken haben zu meiner Hochzeit, und weil meine Haare so glatt sind, habe ich die ganze Nacht mit Lockenwicklern geschlafen. Sie sind mir aber verrutscht, ins Gesicht hinein, ich habe nichts gemerkt, und in der Früh war ich voller Abdrücke, vor allem hier«, Frau Sonne tippt auf ihre rechte Wange, genauer gesagt auf das Entenpflaster auf ihrer rechten Wange. »Die Abdrücke sind den ganzen Tag nicht weggegangen, mein Mann wollte unbedingt, dass der Fotograf ein Foto davon macht. Später haben wir das Foto oft gemeinsam angeschaut, mein Mann und ich, und er hat immer gelacht und gesagt, dass die Locken schon toll waren, aber dass ihm eine glatte Frau ohne Abdrücke dann doch lieber ist.«

Schwester Olga nickt und macht ein Nein-was-für-eine-reizende-Geschichte-Gesicht.

»Das ist eine sehr schöne Erinnerung, die Sie gerade mit uns geteilt haben, Frau Sonne, und ich schlage vor, dass Sie die Klo… die Erinnerung in den Erinnerungskoffer legen.«

Frau Sonne überlegt, dann legt sie die Klorolle vorsichtig zurück aufs Tablett und nimmt eine Streichholzschachtel.

»Ich glaube, ich nehme lieber das«, sagt sie, »es erinnert mich an …«

»Verdammt noch mal! Jetzt pack schon eine von deinen scheiß Erinnerungen in den scheiß Erinnerungskoffer!«

Karlotta ist der Geduldsfaden gerissen. Sie steht mit einem Ruck auf und schlurft im Turbotempo zu Frau Sonne. Sie reißt Frau Sonne die Streichholzschachtel aus der Hand, sie hält Frau Sonne die Streichholzschachtel unter die Nase, sie faucht:

»Das! Woran erinnert dich das?«

Frau Sonne starrt mit angstgeweiteten Augen auf die Streichholzschachtel.

»Bitte …«, flüstert sie.

»Woran erinnert dich das?«

»Bitte … bitte nicht …«

»Frau Könick! Gehen Sie sofort zurück auf Ihren Platz! Sofort! Bitte!«

Karlotta ignoriert Schwester Olgas Befehl, der wieder mehr wie ein Flehen klingt. Sie hält die Streichholzschachtel noch dichter an Frau Sonnes Gesicht.

»Du willst mir also nicht sagen, woran dich das erinnert? Na gut, dann sag ich es dir: Es erinnert dich an alles. An alles, was jemals schön war in deinem Leben oder halbwegs erfreulich, und das ist nicht viel, weil du nämlich ein Opfer bist. Weil du dir von jedem x-beliebigen Arsch in den Arsch treten lässt oder ins Gesicht schlagen. Weil du dich jahrzehntelang mit einem Imker abgegeben hast, der glatte Frauen ohne Abdrücke gut findet, und jetzt ist er tot, der Imker, zum Glück, aber dafür gibt es solche Kotzbrocken wie Schwochow, die dir in die Wange zwicken, oder solche Scheißweiber wie die Schnalke, die dir das Leben zur Hölle machen, und du wehrst dich nicht. Du wehrst dich nie, nicht einmal gegen einen verfetteten alten Kater, der dir jede verdammte Nacht deine verdammte«, Karlotta schlägt mit der Streichholzschachtel hart auf Frau Sonnes Nase, genauer gesagt auf das Mickymauspflaster über der Nase, »deine verdammte Nase halb abfrisst. Und deswegen passen alle halbwegs erfreulichen Erinnerungen deines Lebens in diese« Schlag auf die Nase »Streichholzschachtel, und das heißt, diese« Schlag »Streichholzschachtel erinnert dich an das beschissene Fotoalbum, das du immer mit dir herumschleppst, du Opfer! Und jetzt packen wir dein beschissenes Album in den Erinnerungskoffer, und dann ist verfickt noch mal Ruhe im Karton!«

Karlotta schleudert die Streichholzschachtel in den Karton.

Es ist 17:31.